"Die Energie kommt aus Istanbul!"

Für ein Jahr europäische Kulturhauptstadt zu sein, ist eine große Chance - und eine schwere Bürde. Wie schafft Istanbul, die wirtschaftliche, künstlerische und intellektuelle Metropole der Türkei, diese Gratwanderung? Antworten von Günter Seufert

Sonnenuntergang in Istanbul; Foto: AP
Die über 2.000 Jahre alte Metropole am Bosporus wirbt mit dem Slogan "inspirierendste Stadt der Welt" zu sein.

​​ In dem großen Convention-Center des feinen Hilton-Hotels von Istanbul herrschte bereits am 11.12.2009 riesiges Gedränge. Die per Gesetz extra gegründete Kulturhauptstadt-Agentur gibt das endgültige Programm für Istanbul 2010 bekannt:

Die Hagia Sophia wird renoviert und der alte Sultanspalast verschönert. Ein Archäologie-Park wird angelegt, eine verlassene Synagoge neu gestaltet und eine armenische Kirche als Kulturzentrum wieder hergerichtet. Orhan Pamuk und der türkische Film bekommen jeweils eigene Museen.

Erstmals nimmt das türkisch-muslimische Istanbul - und sei es auch nur in Ausstellungen - die byzantinische und griechische Vergangenheit der Stadt war. Und wenn die Ballerinas auf den Kuppeln der Moscheen tanzen, Tenöre als Bühne die Fischerboote wählen, dann geht die Kunst im öffentlichen Raum für Istanbul ganz neue Wege.

Ein Feuerwerk der Kunst für Istanbul

Entsprechend haben sich bei der Programmpräsentation all diejenigen, die sich künstlerisch für Istanbul halten, selbst gefeiert. Ihr Motto: "Keine Stadt dieser Welt inspiriert stärker als Istanbul!"

Das meint auch der Moderator: "Istanbul ist eine inspirierende Stadt. Hier lebt eine ganz auserlesene Gesellschaft, und keiner weiß, was sie noch an Romanen, Theaterstücken, Opern, Ballett und anderem schaffen wird, und keiner weiß, welche Filme hier noch gedreht und welche Kunstwerke hier noch entstehen werden, die uns verzaubern und uns neue Inspirationen bringen."

Kunst ist eine Sache der Künstler und der Genießer, die etwas davon verstehen. Und eine Stadt, die viele Künstler und viel Kunst hat, ist so etwas wie eine eingetragene Handelsmarke, eine "Registered Trademark". Und das zahlt sich aus.

So oder ähnlich lässt sich die Stoßrichtung der Istanbuler Kulturhauptstadtpolitik kompakt in Worte fassen. Ein zweites Motto macht es griffig: "Die Energie kommt aus Istanbul!"

Anfangskonzept revidiert

Jedoch stand die Kulturhauptstadt als Imagepflege und als Strategie im längst globalen Städtewettlauf nicht am Anfang der Idee "Kulturhauptstadt 2010 - Istanbul".

Der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan (mitte) zusammen mit Istanbuls Gouverneur Guler (links) und Istanbuls Bürgermeister Topbas; Foto: dpa
Zum Programmauftakt des Jahres als Europas Kulturhauptstadt 2010 rief der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan zum Schutz der Vielfalt auf. Die türkische Metropole sei auch "Hauptstadt der Freiheit", erklärte Erdogan.

​​Es war eine Initiativgruppe, die andere Anliegen hatte und die Kultur anders verstand. Sie fuhr nach Brüssel, machte Lobbyarbeit und schaffte es, dass die EU Istanbul nominierte. Von Anfang an dabei war Serhan Ada, Dozent für Kulturplanung an der Istanbul-Bilgi-Universität und kritisiert:

"Istanbul möchte Austragungsort für die "Formel 1" sein, für die Olympischen Spiele, für die NATO-Vollversammlung, möchte eine Handelsmarke sein, ein Zentrum für den Tagungstourismus, alles gut und schön. Aber warum Kulturhauptstadt? Wenn schon Kulturhauptstadt dann bitte doch um anderer Ziele willen!"

Der Initiativgruppe waren ganz andere Dinge wichtig, als die Vermarktung von Istanbul. Ihr ging es in erster Linie um die Einwohner der Zwölf-Millionen-Stadt.

"Im Grunde können die Istanbuler nicht mehr gemeinsam feiern. Sie feiern nur zusammen, wenn die Türkei bei der Fußballweltmeisterschaft Dritter wird oder etwas gezwungen an Neujahr auf dem Taksimplatz", meint Serhan Ada.

Mit Feiern meine er nicht den Tag der Rebuplik im November und die dazugehörenden Paraden. Denn wenn man nur zuschaue, dann sei das so, als ob man zuhause vor dem Fernseher säße. "Bedeutung hat nur das, an dem man selber teilhat. Das größte Feuerwerk der Welt bedeutet deshalb allein gar nichts."

Vermarktung statt Kultur

Bosporus-Brücke in Istanbul; Foto: DW
Brücke zwischen Asien und Europa: Die Wirtschafts- und Kulturmetropole Istanbul ist die mit Abstand größte und bedeutendste Stadt der Türkei.

​​Nachdem Istanbul den Zuschlag erhalten hatte, hat Serhan Ada bei der Gestaltung des Kulturhauptstadt-Programmes mitgearbeitet. Doch als er sah, daß es in eine andere Richtung laufe, sei er schnell ausgestiegen.

Genau dasselbe gilt für Asu Aksoy, die an der Bilgi-Universität Kommunikationswissenschaften unterrichtet. "Um mit den einzelnen Projekten Synergie und Energie zu erzeugen, wie das unsere Vision gewesen ist, braucht es eine gewisse Geisteshaltung, und die fehlt. Es braucht eine Mentalität, die wirklich an die Stadt denkt", meint Aksoy.

Jetzt gebe es nur eine lange Liste von Projekten, die den einzelnen Kunst-Disziplinen wichtig seien. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass die Bevölkerung bisher nur wenig Anteil nimmt und jetzt mit Hilfe von Werbekampagnen begeistert werden soll.

Denn in der breiten Öffentlichkeit hat das Event bisher hauptsächlich durch Skandale Aufmerksamkeit erregt. Kurz vor Eröffnung des Programms sind auch die letzten beiden NGO-Vertreter abgesprungen.

Nun sind Politiker und Bürokraten sowie Künstler unter sich. Viel Wirbel gab es auch um Korruptionsvorwürfe, und um mangelnde Transparenz. Es geht um große Summen, doch eine unabhängige Kontrolle der Agenturverwaltung, des Geldflusses und der Budgetausgaben fehle, sagt Faruk Pekin, der NGO-Vertreter, der zuletzt seinen Hut genommen hat.

Aus Fehlern lernen

Für Kulturmanagerin Derya Coskun liegt das Problem jedoch noch tiefer: "Korruption gibt es überall in der Türkei, es ist ein wahrer Sumpf! Das hat nichts mit 2010, sondern mit uns allen zu tun. In den Stadtverwaltungen, in der Staatsbürokratie, überall. Und das ist auch in der Privatwirtschaft nicht anders, in den großen Holdings und in den Fernsehsendern."

Doch trotz aller Kritik ist die Kultuhrhauptstadt 2010 für Istanbul eine große Sache. Erstmals präsentiert sich eine Stadt, der immer noch viele das Europäische absprechen.

Zu Unrecht, denn im Kulturhautpstadtprogramm kommt erstmals auch die Kultur der religiösen Minderheiten, der Griechen, Juden und Armenier mit auf die Bühne. Erstmals spiegelt sich Istanbul daher - zumindest eine Stück weit - in seiner Vielfalt wider.

Günter Seufert

© Deutsche Welle 2010

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