Nationalismus aus dem Kinosaal

Kulturschaffende in Indien sorgen sich um den steigenden Einfluss der Regierung in der Kultur. In einem Brief an den Premierminister brachten 49 Prominente diese Sorge zum Ausdruck. Von Amrita Das

Von Amrita Das

Vor einigen Wochen schlossen sich in Indien 49 prominente Persönlichkeiten zusammen und schrieben dem indischen Premierminister Narendra Modi einen Brief. Darin drückten sie die Sorge aus, dass sich der Ausruf "Jai Shri Ram", Heil Lord Rama, zu einer Art Kriegsschrei entwickelt habe. Üblicherweise verwenden Hindus "Jai Shri Ram" bei Gebeten oder bei religiösen Versammlungen, aber nun hört man ihn auch bei der steigenden Anzahl von Verbrechen an Muslimen, Dalits und anderen Minderheiten.

Die Liste der 49 umfasste prominente Filmemacher wie Aparna Sen, Adoor Gopalakrishnan, Anurag Kashyap, Mani Ratnam und andere Künstler wie die Sängerin Shubha Mudgal, die Regisseurin und Schauspielerin Revathi, den Historiker Ramachandra Guha oder den Schauspieler Soumitra Chatterjee. Sie alle sorgten sich um den steigenden Einfluss der Regierung in der Kultur. "Es gibt keine Demokratie ohne Dissens", hieß es in dem Brief.

Wahrscheinlich ist es das erste Mal, dass Persönlichkeiten aus der indischen Kunst- und Kulturszene sich in das politische System eingemischt haben. Das Gegenteil ist indessen fast die Regel.

Indiens kulturelles Erbe umfasst Namen wie Satyajit Ray und Mira Nair im Film, Ravi Shankar und A.R. Rahman in der Musik, Raghubir Singh in der Fotografie und natürlich Rabindranath Tagore in der Literatur und Poesie. Seit der indischen Unabhängigkeit 1947 blieb die Kulturszene meist unbehelligt von politischem Einfluss, sie war frei. Einige Arbeiten wie Salman Rushdies Buch "Die satanischen Verse" wurden zwar verboten - offiziell, um Spannungen in der Gesellschaft zu vermeiden. Aber die offene Einmischung in die Kulturszene ist eine ziemlich neue Entwicklung.

Zensur unverblümt

Im Februar erlebte der bekannte Schauspieler und Regisseur Amol Palekar die neue Zensur ganz unverblümt. Er hielt in der National Gallery of Modern Art (NGMA) in Mumbai eine Rede über eine Ausstellung des Künstlers Prabhakar Barwe.

Dabei wollte er auch seine Unzufriedenheit mit dem Kulturministerium ausdrücken, das die Kontrolle über die Nationalgalerien in Mumbai und Bangalore übernommen hat, den Raum für unabhängige Künstler einschränkt und nur noch Künstler dieser Institutionen ausstellt. Aber sobald er den "Verlust der Unabhängigkeit" in der Kunst ansprach, fiel ihm Anita Rupavataram, Direktorin der NGMA, ins Wort. Er solle besser bei "Barwes Arbeit" bleiben, herrschte sie ihn an.

"Mission sauberes Indien"

Passend dazu ist in der Filmindustrie die Zahl regierungstreuer Werke fast explodiert. Der Film "Toilet: Ek Prem Katha" ("Toilette: eine Liebesgeschichte") von 2017 mit dem Bollywood-Star Akshay Kumar erzählt beispielsweise die Geschichte eines frisch verheirateten Paares im ländlichen Norden, wo die Ehefrau das Haus der Schwiegereltern verlässt, weil dieses keine private Toilette hat. Der zweieinhalbstündige Film zeigt den Kampf des Paares gegen Familie und Gesellschaft und für Grundrechte und -bedürfnisse.

Die Handlung des Films basiert auf der Kampagne "Swachh Bharat Abhiyan" (Mission sauberes Indien) aus dem Jahr 2014, als Modis Regierung an die Macht kam. Sie zielte unter anderem darauf, dass Inder nicht mehr öffentlich ihre Notdurft verrichten. Noch immer besitzen auf dem Land die meisten Haushalte keine Toiletten, die Dorfbewohner, auch die Frauen, müssen sich deshalb auf den Feldern erleichtern. Dafür müssen die Frauen weite Wege zurücklegen, überwiegend vor Sonnenauf- oder nach Sonnenuntergang.

Gerechterweise muss man sagen, dass sowohl der Film als auch das Programm einen gesellschaftlichen Missstand aufgreifen. Trotzdem stellt sich die Frage, warum es davor keine kommerziellen Filme über diese Themen gab - wo doch die indisch-hinduistische Filmindustrie so florierte.

Eine der größten Kontroversen aber verursachte "Uri: The Surgical Strike". Der Film startete im Januar und basiert auf wahren Ereignissen. Er dreht sich um die Angriffe der indischen Armee auf militärische Bunker in der von Pakistan verwalteten Kaschmir-Region. "Uri" war ein Hit - und sein Erfolg dürfte mit jeder Woche, die der Konflikt im Bundesstaat Jammu und Kaschmir anhält, weiter wachsen.

"Dies ist ein neues Indien"

Denn "Uri" funktionierte als Katalysator. Die Regierung benutzte den Film vor ihrer Wiederwahl, um den Geist des Nationalismus zu entfachen. Sie erinnerte die Bevölkerung daran, dass es in der Tat Modis Verteidigungsminister Manohar Parrikar war, der hinter dem Einsatz der indischen Armee stand und die Angriffe befohlen hatte. Parrikar hat gesagt: "Wir verlangen keinen Kampf, aber wenn jemand das Land mit bösen Augen ansieht, werden wir ihm die Augen ausstechen und in seine Hand legen." Im Film klingt diese Ideologie so: "Dies ist ein neues Indien. Es wird in ihr Haus eindringen und sie umbringen."

Bei der Jugend kommt die Idee eines "neuen Indiens" intellektuell und kulturell gut an. Und die Stars der jungen Generation sind alles andere als kritisch: Sie suchen die Nähe der Regierung, auch wenn dies einen Verlust an Kunstfreiheit bedeutet.

Einen Monat nach "Uri" kam etwa "Gully Boy" in die Kinos. Ein handwerklich gut gemachter Film, in dem Ranveer Singh einen aufstrebenden Rapper aus den "Gullys", der Gosse, den Slums, von Mumbai spielt. Für den Soundtrack wurde allerdings ein Song, "Azadi", politisch entschärft. Das Original von "Azadi" enthielt eine Zeile über Studentenproteste und Kritik an der Regierung und an den Behörden. Der Film nicht mehr.

Auf seiner Promotiontour wurde Singh nach der politischen Botschaft von "Azadi" gefragt, aber er wies die Frage mit der Antwort zurück, er sei "unpolitisch". Die Zensur des Soundtracks zu seinem Film machte ihm offensichtlich keine Probleme. Ein paar Wochen vorher hatte Singh Selfies mit Modi gemacht.

Amrita Das

© Süddeutsche Zeitung 2019

Deutsch von Kevin Scheerschmidt