Kudsi Ergüner: “La Mélancolie Royale”Den Atem des Ney-Spielers bewahren
“Höre der Rohrflöte zu, wie sie erzählt / Wie sie über den Trennungsschmerz klagt” – nicht von ungefähr beginnt der persische Mystiker und Dichter Rumi sein 25 000 Verse zählendes Meisterwerk, das Masnawi, mit der Ney als Symbol. Schließlich steht die Ney wie kaum ein anderes orientalisches Instrument für die Sehnsucht der Seele nach ihrem Ursprung, nach der Vereinigung mit der göttlichen Quelle, aus der sie hervorgegangen ist.
Die Ney ist für die Sufis die perfekte Metapher. Denn um dieses Instrument zu fertigen, wird das Schilfrohr zunächst aus dem Schilfbett gerissen, genauso wie die menschliche Seele, die entwurzelt wurde und sich fremd vorkommt in der Welt.
Um eine Ney zu fertigen, höhlt der Flötenbauer das Schilfrohr zunächst ganz aus, genauso wie auch der Mensch auf dem Weg der Vervollkommnung leer werden muss von all seinen Wünschen und egoistischen Zügen. Dann nimmt er ein heißes Eisen, um Löcher in das entstehende Flötenrohr zu bohren – dieser Vorgang steht für all die Prüfungen und Schwierigkeiten, die der spirituelle Aspirant auf dem Weg der Reifung erfährt. Erst am Ende, nach aufwendiger Bearbeitung, kann der Atem des göttlichen Flötenspielers durch den Körper der Ney strömen.
Man möchte meinen, dass Kudsi Ergüner auf seinem neuen Album “La Mélancolie Royale. Méditation Soufie” genau diese existenzielle Reise des Menschen vertont. Das Album des Ney-Virtuosen besteht aus sechs Tracks, die den ursprünglichen Klang der Rohrflöte in all ihren Facetten feiern: Meist klingt das Instrument seufzend weich, mit feinzarten Melodielinien und einer für westliche Ohren ungewohnt differenzierten Tonalität, die von vielen dezenten Verzierungen geprägt ist.
Entschleunigend und fast ein wenig puritanisch
Ergüner, der Neyzen – so heißt ein Ney-Spieler im Türkischen – vollzieht dabei Atemakrobatik und begibt sich in einen meditativen Zustand, der sich langsam auch auf den Hörer überträgt. Ergüners Spiel ist von berückender Schönheit und führt den empfänglichen Rezipienten in einen Zustand geistiger Versenkung. Bewusst fügt Ergüner seinem Spiel keine anderen Instrumente hinzu, er will die Einsamkeit der Ney bewahren und sie für sich erzählen lassen. Die Platte wirkt dadurch entschleunigend und fast ein wenig puritanisch.

Kudsi Ergüner ist einer der bekanntesten Ney-Spieler, die sich in der Weltmusikszene einen Namen gemacht haben. Ergüner wurde 1952 in der osttürkischen Stadt Diyarbakır in eine Familie von Musikern geboren. Das Ney-Spiel lernte er von seinem Vater und seinem Großvater. Beide waren in Anatolien so herausragende Meister auf dem Instrument, das in der Türkei noch heute von einer “Ergüner-Schule” der Ney gesprochen wird.
Mit siebzehn Jahren wurde Ergüner ins Istanbul Rundfunkorchester aufgenommen, im Alter von 23 zog er zum Studium der Architektur und Musikwissenschaft nach Frankreich. In Paris gründete er das “Mevlana”-Institut, an dem er über Jahre klassische Musik und Sufilehre unterrichtete.
Als Flötenvirtuose, der sich in Europa bald einen Namen machte, arbeitete Ergüner mit Weltmusik-Größen wie Peter Gabriel zusammen und erforschte gleichzeitig traditionelle Musikkulturen in Regionen wie Nordafrika, Afghanistan und Südasien. Für die UNESCO war er in den achtziger Jahren Beauftragter für türkische Musikkultur.
Im Jahr 2008 leitete Ergüner im Rahmen des türkischen Gastlandprogramms der Frankfurter Buchmesse ein viel beachtetes Konzert an der Alten Oper in Frankfurt, bei dem er als Komponist und Flötist gemeinsam mit seinem Ensemble Gedichte aus Goethes West-Östlichem Diwan im Stil der traditionellen türkischen Sufimusik vertonte. Das bekannte Musikforum “World Music Central” beschreibt Ergüners Verdienste so: “Er hat fast vergessene Musiktraditionen dokumentiert und wiederbelebt und sie der westlichen Öffentlichkeit nahe gebracht, um ihnen einen Platz im kulturellen Erbe Europas zu sichern.”