Wie ein Video Assads Tötungsmaschinerie enthüllt

Seit elf Jahren herrscht Krieg in Syrien. Elf Jahre, in denen unzählige Gräueltaten von allen Konfliktparteien begangen wurden. Doch gerade die Aufnahme des Massakers in Tadamon, das damals unter der Kontrolle der syrischen Regierung ist, hat einen Nerv getroffen.
Seit elf Jahren herrscht Krieg in Syrien. Elf Jahre, in denen unzählige Gräueltaten von allen Konfliktparteien begangen wurden. Doch gerade die Aufnahme des Massakers in Tadamon, das damals unter der Kontrolle der syrischen Regierung ist, hat einen Nerv getroffen.

Das Video von einem Massaker in Damaskus erschüttert die syrische Community. Sechs Minuten des Grauens aus dem Krieg in Syrien, die nie an die Öffentlichkeit gelangen sollten. Von Luisa von Richthofen und Khaled Salameh

Von Luisa von Richthofen & Khaled Salameh

Wie hunderte syrische Familien hatten auch die Siyams sich das sechsminütige Video angeschaut in der Hoffnung, etwas über ihren Sohn herauszufinden. Am frühen Morgen des 14. April 2013 verlässt Waseem Siyam das Elternhaus in Damaskus. Er soll im Auftrag der Regierung Mehl in eine staatliche Bäckerei im Stadtteil Tadamon im Süden der Stadt transportieren. Routine. Doch an dem Tag kehrt der 34-Jährige nicht zurück.

Seit neun Jahren glaubt die Familie, die mittlerweile in Deutschland lebt, Waseem sei an einem Checkpoint verhaftet und dann in eines der vielen Gefängnisse des Regimes gebracht worden. Mit dem geleakten Video eines Massakers in Tadamon erfahren sie dann die grausame Wahrheit über sein Schicksal.

Ein Mann im weißen T-Shirt und Jeans wird in einer verlassenen Gasse an eine Grube herangeführt. Darin stapeln sich bereits Leichen. "Erst hat ihn nur mein Vater erkannt," sagt Tasnim Siyam, Waseems Schwester. "Mein Bruder sah so anders aus, sie hatten ihn verprügelt, vielleicht war es auch die Angst." Doch der Vater erkennt seinen Sohn am Gang. Die Augen verbunden, muss der junge Mann selbst in die Grube hineinspringen. Noch im Fallen wird er erschossen. "Es ist wie ein Traum," sagt Tasnim Siyam, "Wie kann ich damit fertigwerden, dass der Mensch im Video, der so getötet wird, mein Bruder ist?"

Omar und Siham Siyam, die Eltern von Wassim Siyam (photo: AP Photo/picture-alliance)
Trauernde Eltern Omar und Siham Siyam: Am 14. April 2014 hatte ihr Sohn Waseem Siyam von der Regierung den Auftrag erhalten, Mehl an eine staatliche Bäckerei im südlichen Tadamon-Viertel der Stadt zu liefern. Er kehrte nie zurück. Mit dem geleakten Video des Massakers in Tadamon erfahren sie dann die grausame Wahrheit über sein Schicksal: Ein Mann im weißen T-Shirt und Jeans wird in einer verlassenen Gasse an eine Grube herangeführt. Darin stapeln sich bereits Leichen. "Erst hat ihn nur mein Vater erkannt," sagt Tasnim Siyam, Waseems Schwester. "Mein Bruder sah so anders aus; sie hatten ihn verprügelt." Doch der Vater erkennt seinen Sohn am Gang.

Grausame Spiele mit den Opfern

Ende April 2022 gelangt das inzwischen berüchtigte Video des Tadamon-Massakers durch einen syrischen Überläufer an die Öffentlichkeit. Es wurde am 16. April 2013 aufgenommen, zwei Tage nach Waseem Siyams Verschwinden. Und was man darin sieht, lässt sich nur schwer ertragen. Binnen weniger Minuten töten zwei Männer in Uniform 41 Zivilisten, immer nach demselben Muster. Einer der beiden holt einen Zivilisten mit verbundenen Augen aus einem weißen Lieferwagen, geht mit ihm zu einer großen Grube, wo sich neben zahlreichen Autoreifen Leichen stapeln. Dort wird er hineingestoßen und erschossen. Nach der Tötungsaktion werden die Leichen mit Kerosin übergossen und verbrannt.

Seit elf Jahren herrscht Krieg in Syrien. Elf Jahre, in denen unzählige Gräueltaten von allen Konfliktparteien begangen wurden. Doch gerade die Aufnahme des Massakers in Tadamon, das damals unter der Kontrolle der syrischen Regierung ist, hat einen Nerv getroffen. Vielleicht deshalb, weil die Männer sichtlich Spaß an ihrer "Arbeit" haben. Sie sind routiniert, töten am helllichten Tag, haben es nicht eilig. Mehrmals treiben sie ein grausames Spiel mit ihren Opfern: Sie behaupten, dieser Teil der Straße sei durch Scharfschützen bedroht. Das Opfer läuft also mit verbundenen Augen los, stürzt in die Grube. Bevor es begreifen kann, wo es liegt, wird es erschossen.

Die Männer, die sich offensichtlich unantastbar fühlen, halten ihre Verbrechen in dem Video fest. Es sind keine geheim aufgenommenen Handy-Videos. Sie filmen in "high definition", winken und rufen Witze in die Kamera. Wieso tut man so etwas? Wollten sie eine "Jagdtrophäe" haben? Wollten sie mit der "guten Arbeitsleistung" beim Vorgesetzten punkten? Eines steht fest: Das Video sollte nicht an die Öffentlichkeit geraten.

Der Mann mit Hut steht im Dienste Assads

Uğur Ungör, Forscher am niederländischen Institut für Genozidforschung (NIOD), ist einer der ersten, der 2019 eine Kopie des Videos erhält. Zusammen mit seiner Kollegin Annsar Shahoud hat er herausgefunden, dass die mutmaßlichen Täter im Video für den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad arbeiteten. Der mittlerweile verstorbene Najib al-Halabi war Mitglied einer regimenahen Miliz. Direkter mit Assad verbunden ist der andere Mann im Video, Amjad Youssef, deutlich an seinem Fischerhut zu erkennen. Er ist – noch immer – Offizier im Militärgeheimdienst.

Ein Standbild aus dem Video von 2013 zeigt, wie ein syrischer Mann mit verbundenen Augen von einem syrischen Agenten geschubst wird; Foto: AP Photo/picture-alliance
Gefühllos, grausam und tödlich: Assads Männer haben sichtlich Spaß an ihrer "Arbeit". Sie sind routiniert, töten am helllichten Tag, haben es nicht eilig. Mehrmals treiben sie ein grausames Spiel mit ihren Opfern: Sie behaupten, dieser Teil der Straße sei durch Scharfschützen bedroht. Das Opfer läuft also mit verbundenen Augen los, stürzt in die Grube. Bevor es begreifen kann, wo es liegt, wird es erschossen.

"Die letzten zwei Jahre waren auch für uns die Hölle," sagt Uğur Ungör der DW. "Stellen Sie sich vor: Sie wissen von einem schrecklichen Massaker. Sie müssen dieses Video immer wieder anschauen, doch niemand anderes darf davon wissen." Es ist keine gewöhnliche Forschung. Die zwei Akademiker wollten die Verantwortlichen ausfindig machen und das schaffen, was nur wenigen anderen in dem jahrzehntelangen Konflikt gelungen ist: anhand des Videos belegen, dass der syrische Staat mit manchen der schlimmsten Gräueltaten des Krieges direkt und unwiderlegbar in Verbindung steht.

"Ich habe viel getötet"

Dafür verwandelten sich die Forscher in regelrechte Detektive. Shahoud, gebürtige Syrerin, legte sich ein Alter Ego zu.

"Anna Sh." war eine junge alevitische Frau aus Homs, eine begeisterte Anhängerin des ebenfalls alevitischen Präsidenten Assad. Der "Guardian" und die ARD haben ausführlich darüber berichtet, wie sich "Anna Sh." über zwei Jahre mit hunderten Beamten des Assad-Regimes austauschte und ihr Vertrauen gewann. Eines Tages im März 2021 stieß sie auf das Profil von Amjad Youssef, dem Mann auf dem Video, der einen Fischerhut trägt. "Anna Sh." freundete sich mit ihm an, sie telefonierten ab und zu. Ihre Kollege Ungör hörte immer aus dem Off zu.

Amjad Youssef fühlte sich einsam, beklagte sich darüber, unter welchem Druck er stehe. Bei "Anna Sh." fand er ein offenes Ohr. Noch Monate dauerte es, bis das Geständnis kam: "Ich habe viel getötet," erzählt er. Die zwei Forscher hatten ihr Ziel erreicht. "Anna Sh." konnte jetzt verschwinden.

Shahoud und Ungör haben ihre Aufzeichnungen an die niederländische und deutsche Justiz weitergeleitet. In einem langen Artikel in der amerikanischen Zeitschrift "New Lines” machten die zwei Forscher außerdem ihre Erkenntnisse bekannt. "Wir können nicht einfach sagen: Hey, wir sind Akademiker, wir machen diese Forschung, lassen das wie eine Bombe in den sozialen Medien hochgehen und ziehen uns wieder zurück", sagt Ungör. "Wir müssen die Verantwortung dafür übernehmen."

Screenshot des Facebook-Profils von Anna Sh, auf dem ein Foto von Assad zu sehen ist; Foto: Uğur Ungör
Amjad Youssef – der, der in eine Falle tappte: Shahoud, gebürtige Syrerin, legte sich ein Alter Ego zu – "Anna Sh." war eine junge alevitische Frau aus Homs, eine begeisterte Anhängerin des ebenfalls alevitischen Präsidenten Assad. Über zwei Jahren tauschte sich "Anna Sh." mit hunderten Beamten des Assad-Regimes aus und gewann ihr Vertrauen. Eines Tages im März 2021 stieß sie auf das Profil von Amjad Youssef, dem Mann auf dem Video, der einen Fischerhut trägt. Amjad Youssef fühlte sich einsam, beklagte sich darüber, unter welchem Druck er stehe. Bei "Anna Sh." fand er ein offenes Ohr. Noch Monate dauerte es, bis das Geständnis kam: "Ich habe viel getötet," erzählt er.

Einmalige Beweiskraft

Für Ermittler ist das Video in seiner Beweiskraft einmalig. Erstens, weil der Tathergang, die Opfer und Täter klar zu erkennen sind. Außerdem zeigt es, dass dieses Massaker nicht aus heiterem Himmel geschah. Das vorbereitete Massengrab, die Routine der Täter, der Versuch, die Identität der Opfer unkenntlich zu machen, das Dokumentieren. Das seien Indizien dafür, dass die Verbrechen systematisch begangen wurden, sagt Alexander Schwarz, Völkerstrafrechts-Experte bei Amnesty International. "Ein systematischer Angriff auf die Zivilbevölkerung, wie er im Video zu sehen ist, ist eine Voraussetzung, um ein Delikt als Verbrechen gegen die Menschlichkeit werten zu können."

Es bleibt offen, ob und, wenn ja, wann in diesem Fall ein Strafverfahren eingeleitet wird. Der Fall des Offiziers Anwar Raslan, der im Januar dieses Jahres wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit im deutschen Koblenz verurteilt wurde, zeigt, dass es möglich ist. Und für Fritz Streiff, Rechtsberater für unter anderem die Organisation Mnemonic, die Menschenrechtsverletzungen dokumentiert, hat das Video auch eine politische Signalwirkung. Das Grauen und Entsetzen, das es hervorruft, seien wichtig, um einer Normalisierung der Beziehungen zum Assad-Regime entgegenzuwirken. "Es geht nicht nur um Amjad Youssef," betont auch Ungör, der Forscher aus Amsterdam, "sondern um das System, das Menschen wie Youssef geschaffen hat".

Sowohl Schwarz als auch Streiff arbeiten mit Menschen, deren Verwandte in Syrien noch vermisst werden. Die Aufklärung der Verbrechen, wie sie etwa in Koblenz stattfindet, kann für die Opferfamilien eine heilsame Wirkung haben. Doch Tasnim, die Schwester vom verstorbenen Waseem, ist noch nicht so weit. "Ich weiß, man muss im Leben optimistisch bleiben, aber gerade haben wir jede Hoffnung verloren. Wir leben, aber nur, weil wir es sollen."

Trotzdem wollte sie mit der DW sprechen. "Ich will, dass Menschen wissen, warum manche von uns Monate und Jahre brauchen, um [in Deutschland] anzukommen", sagt sie noch kurz, "und warum manche es nicht hinbekommen. Weil das, was wir in Syrien erlebt haben, das war so schrecklich, das kann man sich als normaler Mensch kaum vorstellen".

Luisa von Richthofen & Khaled Salameh

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