Verschleierte Debatten

In der Türkei ersetzt der Streit ums Kopftuchverbot dringlichere Diskussionen über das Verhältnis von Staat und Religion, was sowohl den islamistischen Kräften als auch den kemalistischen Kopftuch-Gegnern zugute kommt, schreibt Ömer Erzeren.

In der Türkei ersetzt der Streit ums Kopftuchverbot dringlichere Diskussionen über das gegenwärtige Verhältnis von Staat und Religion, was sowohl den islamistischen Kräften als auch den politisch erstarrten kemalistischen Kopftuch-Gegnern zugute kommt, schreibt Ömer Erzeren.

Der Streit um das Kopftuch nimmt in der Türkei bisweilen bizarre Züge an. So jüngst in der Stadt Erzurum im Nordosten des Landes, wo die Universität feierlich den Absolventen ihre Diplome überreichte. Die Eltern waren zur Feier eingeladen. Einige Mütter, die Kopftuch trugen, wurden indes nicht in den Saal eingelassen. Grund war die Verfügung des Rektors, wonach Frauen mit Kopftuch die Gebäude der Universität nicht betreten dürfen.

In der Türkei gilt das strikte Verbot für Studentinnen, das Kopftuch zu tragen. Mit den Ereignissen in Erzurum wurde das Verbot auf die Mütter der Studenten, die einmalig an einer Zeremonie teilnehmen wollten, ausgedehnt. Es war die bislang wohl radikalste Maßnahme, die die Kopftuch-Gegner ergriffen hatten.

Tagelang berichteten türkische Medien über den Vorfall. Von einem undemokratischen, intoleranten Geist war die Rede. Der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan sprach von einem "großen Unrecht”. Doch der Rektor, der die unsinnige Verfügung erlassen hatte, verteidigte sein Handeln.

Das Kopftuch als Affront gegen die Verfassung

Ein traditionelles Bekleidungsstück, wie das Kopftuch, erregt die Gemüter in der Politik wie kein anderes Thema. Für die einen ist das Kopftuch an Universitäten ein politisches Symbol der islamistischen Bewegung, ein Wegbereiter für die Untergrabung des Laizismus, der Trennung von Staat und Religion. Das Kopftuch als Affront gegen die Verfassungsordnung.

Die Freigabe des Kopftuchs an Universitäten wird als Angriff auf die von Mustafa Kemal 1923 gegründete Republik eingestuft. Die anderen pochen auf dem Recht des Individuums, frei seine Bekleidung wählen zu dürfen. Außerdem werde die Glaubensfreiheit verletzt, wenn erwachsenen Studentinnen nicht das Recht eingeräumt werde, dem islamischen Bedeckungsgebot nachzukommen.

Die Türkei ist das einzige Land mit einer islamischen Bevölkerungsmehrheit, in dem ein Kopftuchverbot an Universitäten herrscht. Selbst in Frankreich mit seiner großen Tradition des Laizismus sind Kopftücher zwar in öffentlichen Schulen verboten, nicht aber an Universitäten.

Die Debatte um das Kopftuch berührt nicht nur die Universitäten. Es stiftet selbst bei den Protokollführern des Staatspräsidenten Verwirrung. Der 29. Oktober ist der wichtigste Staatsfeiertag der Türkei. Die Gründung der Republik wird gefeiert und zu diesem Anlass lädt der Staatspräsident neben Spitzen der Justiz und des Militärs die Abgeordneten und ihre Ehepartner zu einem Empfang ein.

Absurdes Polittheater

Viele der Ehefrauen der Abgeordneten der Regierungspartei AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) tragen Kopftuch. Um Frauen mit Kopftuch auf dem Empfang zu verhindern, hat der Staatspräsident eine ungewöhnliche Einladungspraxis erfunden.

Die Standardeinladung geht an Abgeordnete und Ehepartner. Die Abgeordneten, von denen bekannt ist, dass ihre Ehefrauen Kopftuch tragen, werden ganz einfach ohne Ehepartner eingeladen. Parlamentarierinnen mit Kopftuch gibt es nicht. Eine Staatskrise würde dann wohl herbei beschworen.

Seit zwei Jahrzehnten wird die Kopftuchdebatte, vor allem die Praxis der Universitäten betreffend, geführt. Vor dem Militärputsch 1980 gab es keine gesetzliche Grundlage für ein Verbot. Doch die Frage stellte sich auch kaum.

Die Töchter der republikanischen Eliten, die die Universität besuchten, trugen keine Kopftücher. Erst der gewaltige Urbanisierungsprozess, die Öffnung der Universitäten für die breiten Massen und die Immatrikulation von Studentinnen, die einem konservativen Elternhaus entstammten, bereitete die Grundlage für den Konflikt.

Politische Instrumentalisierung

Die Islamisten entdeckten das Kopftuch als Instrument politischer Mobilisierung. Das traditionelle Kopftuch war Alltagsbekleidungsstück der Binnenmigranten, die versuchten, in den Städten Fuß zu fassen. Weil es Verbote gab, kam es dem politischen Islam gelegen, einen Alltagsstoff zum politischen Symbol zu stilisieren.

Auch heute ist es nur eine kleine Minderheit der studierenden Frauen, die das Kopftuch tragen möchten. Erst das Verbot macht das Kopftuch attraktiv, erst das Verbot lässt das Kopftuch als Symbol oppositioneller Haltung erscheinen.

Es waren die putschenden Militärs, die nach 1980 die Universitäten gleichschalteten. Ein allmächtiger Hochschulrat, der der universitären Selbstverwaltung ein Ende setzte, wurde gegründet. Noch heute sind es die Bestimmungen des Hochschulrates und Gerichtsurteile auf denen das Kopftuchverbot an türkischen Universitäten fußt.

Eine von der Regierung 1989 angestrebte generelle Liberalisierung wurde durch ein Verfassungsgerichtsurteil und diverse Verwaltungsgerichtsurteile aufgehoben. Anfang der neunziger Jahre stand es weitgehend im Ermessen der Rektoren, wie sie mit der Kopftuch-Frage umzugehen gedachten. Nach 1997 wurden die Bestimmungen verschärft.

Heute gilt eine verbindliche Bekleidungsvorschrift, die der Hochschulrat erlassen hat und die das Kopftuch an Universitäten nicht erlaubt. Eine letzte Hoffnung für diejenigen, die das Tragen des Kopftuchs an der Universität erlauben wollten, war der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte.

Doch die Hoffnung zerschlug sich. Die Klage der Medizinstudentin Leyla Sahin, die wegen ihres Kopftuches Disziplinarstrafen erhielt und schließlich 1998 exmatrikuliert wurde, wurde 2004 vom Gericht abgewiesen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte befand, dass es keine Menschenrechtsverletzung darstellt, wenn Universitäten Regularien für die Bekleidung erlassen.

Eine Partei zwischen den Stühlen

Der Wahlsieg der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung 2002, deren Spitzen einst im politischen Islam beheimatet waren, änderte nichts am Kopftuchverbot. Die Partei fürchtete den Konflikt mit den kemalistischen Eliten, die stark im Militär und der Justiz verankert sind.

Es kam zu pikanten Situationen. Hayrünisa Gül, die Ehefrau des türkischen Außenministers, hatte beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geklagt, weil sie wegen ihres Kopftuches nicht an der Universität zugelassen worden war. Sie zog ihre Klage zurück, um nicht vor einem internationalen Gericht den Staat zu verklagen, dessen Außenminister ihr Ehemann ist.

Und der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan beklagt fortwährend im Ausland, dass seine beiden Töchter in den USA studieren müssen, weil sie in der Türkei mit Kopftuch nicht studieren können. Erdogan redet so, als sei er nicht Ministerpräsident, eine Person in höchster politischer Verantwortung, sondern ein einfacher Bürger, dem Unrecht in seinem eigenen Land widerfahren ist.

Ernste Fragen, wie das Verhältnis von Staat und Religion, werden kaum diskutiert. Dabei gäbe es viel zu debattieren. Der Laizismus ist wohl untrennbarer Teil der republikanischen Verfassungsordnung seit über siebzig Jahren. Und der Laizismus genießt auch heute breite Akzeptanz in der Bevölkerung. Es ist keine Selbstverständlichkeit in islamischen Ländern.

Verschleierte Realitäten

Diejenigen, die den Laizismus aufheben und die Scharia, das islamische Recht, zum Leben erwecken wollen, sind gesellschaftlich marginalisierte Extremisten. Doch bei der Ausgestaltung laizistischer Praxis sind noch viele Fragen offen.

Warum unterhält der laizistische, türkische Staat einen gewaltigen Apparat, das Amt für religiöse Angelegenheiten? Warum ist die Glaubensrichtung der Aleviten, nicht repräsentiert? Warum gibt es Religion als Pflichtfach an öffentlichen Schulen? Warum werden immer wieder Fälle von Diskriminierung nicht-muslimischer Religionen bekannt? Warum liefern einzelne Kommunen Moscheen unentgeltlich Trinkwasser, während Kirchen und Synagogen zur Kasse gebeten werden? Eine Kirche in Ankara hat sich jüngst in einer Klage gegen die Stadtverwaltung Ankara gerichtlich das unentgeltliche Trinkwasser erstreiten müssen.

Doch über wichtigen Debatten hängt ein Schleier, während die Kopftuchfrage in aller Munde ist. Das anachronistische Kopftuchverbot ersetzt die Debatte um reale Probleme. Sie kommt sowohl den islamistischen Kräften als auch den politisch erstarrten, kemalistischen Kopftuch-Gegnern zugute. Eine Entmystifizierung der Debatte ist gefordert.

Sie ist auch bereits in Gang gekommen. So fordern Säkulare, die der politischen Linken angehören, eine Aufhebung des Kopftuchverbots an Universitäten. Und es gibt auch gläubige Konservative, die die Auffassung vertreten, dass die Aufhebung des Kopftuchverbots nicht alleinige Lösung der Probleme darstellt, sondern dass in einzelnen gesellschaftlichen Bereichen der Laizismus gestärkt werden müsse.

Ömer Erzeren

© Qantara.de 2005

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