Spielball der Politik

Seit Jahren wird das Kopftuchverbot, das in der Türkei für alle öffentlichen Einrichtungen gilt, kontrovers diskutiert. Für einen gesellschaftlichen Kompromiss scheint hierbei kein Platz mehr zu sein, meint Ömer Erzeren.

Seit Jahren wird das Kopftuchverbot, das in der Türkei für alle öffentlichen Einrichtungen gilt, kontrovers diskutiert. Längst ist die Debatte zum Spielball unterschiedlicher Gesinnungsgruppen geworden. Für einen gesellschaftlichen Kompromiss scheint kein Platz mehr zu sein, meint Ömer Erzeren.

Foto: Sirvan Sarikaya
Kopftuch: Ja; Kopftuch: Nein – kein anderes Thema scheint für die politischen Kräfte besser geeignet, um die Gesellschaft zu polarisieren

​​Nachdem im Mai 2006 ein islamisch-faschistischer Attentäter gezielt auf die Richter der Zweiten Kammer des Obersten Verwaltungsgerichtes in Ankara schoss, dabei einen Richter tötete und vier verletzte, fragte die Öffentlichkeit nach den Motiven. Schon bei der ersten polizeilichen Vernehmung sprach der Attentäter vom Kopftuch-Verbot.

Die angegriffenen Richter hatten in einem Urteil bestätigt, dass eine Erzieherin im öffentlichen Kindergarten kein Kopftuch tragen dürfe. Die islamistische Tageszeitung Vakit hatte Fotos und Namen der Richter veröffentlicht und sie zur Zielscheibe erklärt.

Das Urteil war umstritten. Auch der türkische Ministerpräsident hatte die Richter scharf angegriffen.

Kopftuch als politisches Symbol

Die Beerdigung des Richters wurde zur Manifestation Zehntausender, die die Bedrohung der säkularen Republik durch Islamisierung thematisierten. In ihren Augen ist das Bestreben, das Kopftuch-Verbot für Studentinnen aufzuheben, ein zentrales Moment der Bedrohung der säkularen Republik. Das Beispiel offenbart, dass das Kopftuch in der Türkei längst zu einem politischen Symbol geworden ist.

Die Fragen um den Charakter des verfassungsrechtlich festgeschriebenen Laizismus, der Trennung von Staat und Religion, die Fragen um die Gewährleistung der Glaubensfreiheit, die Fragen um die Trennlinien zwischen öffentlichem und privatem Raum werden kaum noch rational diskutiert.

Kopftuch: Ja; Kopftuch: Nein – kein anderes Thema scheint für die politischen Kräfte besser geeignet, um die Gesellschaft zu polarisieren.

Dabei spielt das Kopftuch für die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung keine große Rolle. Über Jahrzehnte hinweg spielte die traditionelle Kopfbedeckung bei Frauen keine Rolle in der Politik.

Das Kopftuch gehörte zum Alltag der Masse der Bevölkerung. Dass Mädchen in der Schule und Studentinnen an der Universität den Kopf nicht bedecken, war ebenso selbstverständlich. Mit zunehmendem Bildungsniveau nahm die Bereitschaft, das Kopftuch abzulegen, zu. Es gab kein Kopftuch-Verbot an Universitäten und es gab keine Studentinnen, die Kopftuch trugen. Die Töchter der republikanischen Elite trugen keine Kopftücher.

Generelles Kopftuchverbot an Universitäten

Die Situation änderte sich erst in den achtziger und neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Urbanisierungsprozesse und die Immatrikulation von Studentinnen, die einem gläubig-konservativen Elternhaus entstammen, bereiteten die Grundlage für den Konflikt. Die Ideologen des politischen Islam erkannten bald die Sprengkraft des Themas.

Foto: Cem Yücetas
Das Kopftuch: modisches Accessoire oder Ausdruck von Frömmigkeit?

​​Parallel zum Aufstieg des politischen Islam gehörten Demonstrationen gegen Kopftuchverbote einzelner Hochschulen zum universitären Alltag. Liberalisierungsversuche beim Kopftuch scheiterten durch Gerichtsurteile.

Nach 1997 wurden die Bestimmungen verschärft. Der Hochschulrat erließ eine verbindliche Bekleidungsvorschrift, wonach an den Universitäten das Kopftuch generell nicht erlaubt ist.

Es gehörte zu den großen Versprechen der Politiker, die heute die Regierung stellen, dass das Kopftuch-Verbot an Universitäten aufgehoben wird.

Festgefahrene Situation

Die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung, die mit Tayyip Erdogan den Ministerpräsidenten stellt, hat ihre Ursprünge in der islamistischen Bewegung. Tayyip Erdogan sprach immer wieder von dem "großen Unrecht", das gläubigen Studentinnen widerfährt.

Als der türkische Außenminister Abdullah Gül noch als Abgeordneter für die Oppositionspartei im Parlament saß, versuchte er persönlich die Immatrikulation seiner Ehefrau, die ein Kopftuch trägt, an der Universität durchzusetzen. Ohne Erfolg.

Doch auch nach dem Machtantritt Erdogans im Jahr 2002 änderte sich die Situation nicht. Die parlamentarische Mehrheit reichte nicht aus, um einen Wandel herbeizuführen.

Wenn es um das Kopftuch ging, opponierten der Staatspräsident, mächtige Militärs, die Justiz, der Hochschulrat und die Rektoren.

Heute ist die Situation festgefahren. Für einen gesellschaftlichen Kompromiss, der eine breite Mehrheit findet, scheint kein Platz zu sein.

Europäischer Gerichtshof lehnt Klage ab

Die türkische Regierung verband große Hoffnungen mit der Klage einer Medizin-Studentin beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Sie wurde wegen ihres Kopftuches exmatrikuliert.

Doch im Jahr 2004 befand der Gerichtshof, dass es keine Menschenrechtsverletzung darstellt, wenn Universitäten Bekleidungsvorschriften erlassen.

Dossier: Der Streit ums Kopftuch

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So zerschlug sich die Hoffnung, über ein europäisches Gericht das innenpolitische Problem zu lösen. Längst finden auch keine Demonstrationen gegen das Kopftuch-Verbot mehr statt.

So setzten die Politiker um Erdogan auf den langen Marsch durch die Institutionen. In diesem Jahr wählt das Parlament einen neuen Staatspräsidenten. Der Staatspräsident benennt wiederum den Vorsitzenden des Hochschulrates. Mit der Neubesetzung des Staatspräsidenten und des Hochschulrates könnte Kopftüchern an Universitäten der Weg geebnet werden.

Eigentliche Debatte bleibt aus

Erschreckend ist, dass eine wirkliche Debatte um den Charakter des Säkularismus und des Verhältnisses zu Religion und Glaubensfreiheit nicht geführt wird. Konservativ-religiöse Inhalte kommen - gefördert durch das Bildungsministerium - in den Schulen immer mehr zum Zuge.

​​Jüngst wurde in einem Schulbuch die Reproduktion des Delacroix-Gemäldes "Die Freiheit führt das Volk” vom Ministerium zensiert, weil auf dem Bild eine barbusige Frau abgebildet ist.

Doch die Aushöhlung aufklärerischen Denkens an den Schulen findet in der Öffentlichkeit weniger Beachtung als das Kopftuch.

So bleibt die Türkei das einzige islamische Land, wo ein Kopftuchverbot an Universitäten herrscht, während die schrittweise Islamisierung der Bildungseinrichtungen hingenommen wird.

Und das Kopftuch bleibt Gegenstand obskurer Aktionen. Jüngst wurde die emeritierte Professorin Ilmiye Cig von der Istanbuler Staatsanwaltschaft angeklagt. Die 92-Jährige, die ein Leben lang über Sumerer und Hethiter forschte, hatte in einem Buch dargelegt, dass bei den Sumeren, einer babylonischen Gesellschaft von vor mehr als fünftausend Jahren, Prostituierte das Kopftuch trugen.

Eineinhalb Jahre Gefängnis forderte die Staatsanwaltschaft für die Wissenschaftlerin. Sie wiegle die Bevölkerung zu Feindseligkeit auf.

Das Gerichtsverfahren gegen die renommierte Wissenschaftlerin endete jedoch in einem Freispruch.

Ömer Erzeren

© Qantara.de 2007

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