Verhüllen, um zu zeigen

Die Verfassungsrichter in Karlsruhe sind im Irrtum, wenn sie das Kopftuch einzig als "religiöses Symbol" behandeln. Demonstrative Verhüllung ist nicht Unterwerfungsgeste, sondern Aufbegehren. Ein Kommentar von Sonja Zekri

Von Sonja Zekri

Niemand konnte ahnen, dass das Urteil der Verfassungsrichter gegen das Kopftuch im Gerichtssaal kurz nach den Anschlägen in Hanau fallen würde. Aber Zufälle sind manchmal besonders aufschlussreich. Neben vielen anderen Aspekten brachte Hanau zum Vorschein, dass türkisch-, arabisch- oder sonst wie nicht deutschstämmige Deutsche oft nur Gegenstand der Debatte, aber nicht Gesprächspartner sind.

Dass sie Shisha-Bars besuchen, weil sie keinen Zutritt zu Clubs haben. Dass sie oft trotz deutschem Pass, deutscher Steuernummer und - ganz wichtig - deutscher Bildung von vielen der reichen Aufstiegs- und Partizipationsmöglichkeiten dieses Landes ausgeschlossen sind. Und dass sie sich dessen bewusst sind.

Wenige Tage später urteilt das Bundesverfassungsgericht, dass Rechtsreferendarinnen mit Kopftuch nicht am Richtertisch sitzen, keine Sitzungen leiten und keine Beweise aufnehmen dürfen. Sie müssen im Zuschauerraum sitzen. Dies nicht als jüngstes Beispiel in einer langen Reihe von Zurückweisungen zu sehen, dürfte für Muslime unmöglich sein.

Und dies nicht allein, weil der Grundsatz weltanschaulich-religiöser Neutralität der Justiz, den die Richter in Karlsruhe zur Begründung ihres Urteils heranziehen, ohnehin ein Ideal ist - notwendig für die Demokratie, unbedingt anzustreben, um jeden Preis zu verteidigen, aber, wie jedes Ideal: unerreichbar. Die Diskrepanz zwischen absolutem Anspruch und menschlichem Faktor lässt sich nicht aufheben. Durch Kreuz, Kopftuch, Turban oder sonstige visuelle Reize wird sie lediglich sichtbar.

Nicht unter jedem Hidschab steckt Unterdrückung

Völlig aus der Zeit gefallen aber wirkt es, wenn die Karlsruher Richter das Kopftuch einzig als "religiöses Symbol" behandeln. Das ist es nicht mal in der islamischen Welt, schon deshalb nicht, weil es Frauen in Ländern wie Saudi-Arabien oder Libyen durch Gesetze oder soziale Konventionen oft aufgezwungen wird, ganz gleich, ob und wie oft sie beten. In Deutschland, ebenso wie in anderen Ländern Europas und in den USA, gilt dies umso mehr.

Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe; Foto: picture-alliance/dpa
Kritikwürdiger Beschluss: Das Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen in Hessen stimmt nach einem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts mit dem Grundgesetz überein. Wegen der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates kann der Gesetzgeber das Tragen von Kopftüchern untersagen, wie aus dem am Donnerstag veröffentlichten Beschluss des Zweiten Senats hervorgeht.

Oft entscheiden sich Frauen für das Kopftuch, weil sie den Nachteilen ohnehin nicht entgehen, die ein türkischer, arabischer oder pakistanischer Name mit sich bringt: bei der Suche nach einer Wohnung, einem Ausbildungsplatz, kurz, einem Platz in der Gesellschaft.

Die Stigmatisierung des Hidschab sei ein Grund, warum einige Frauen ihn tragen: als Zeichen "kulturellen Stolzes", schreibt die britische Kunsthistorikerin Reina Lewis. Mit persönlicher Spiritualität habe das nicht unbedingt zu tun.

Nur in einer Gesellschaft, die Muslimen misstraut, weil sie Muslime sind, ganz gleich ob gläubig oder säkular, kann die demonstrative Verhüllung zu einem Ausdruck der Selbstbehauptung werden. Sie ist eben nicht Unterwerfungsgeste, sondern auch ein Aufbegehren gegen das Urteil der Mehrheit darüber, wer ein Muslim ist und wie er zu sein hat.

Dieses Ineinanderspiel von kultureller Identität und politischem Appell, Abgrenzung und Integrationsbemühen ist, zugegeben, etwas verwirrend.

Zum Trost für die Karlsruher Richter sei darauf hingewiesen, dass die Botschaft des Schleiers früher auch nicht leichter zu entziffern war. Als die ägyptische Frauenrechtlerin Hoda Schaarawi 1923 öffentlich den Gesichtsschleier ablegte, war dies eine Botschaft in unterschiedliche Richtungen: an die westlichen Beobachter, die "orientalische" Frauen für geknechtet und rückständig hielten, ebenso wie an die patriarchalische ägyptische Gesellschaft. Auch jüdische und drusische Frauen legten damals den Schleier ab. Für einen Moment war Solidarität zwischen Mehrheit und Minderheit zum Greifen nah.

Sonja Zekri

© Süddeutsche Zeitung 2020