Gebt endlich die Köpfe frei!

Emel Abidin-Algan, Tochter des Gründers von Milli Görüs, trug selbst lange ein Kopftuch, bevor sie es ablegte. Allerdings befürwortet sie heute das Ende des staatlichen Verhüllungsverbots in der Türkei.

Grund: Erst wenn jede Frau selbst entscheidet, könne das Kopftuch seine abgrenzende Symbolkraft verlieren.

Verbote, wie das staatliche Kopftuchverbot an den Universitäten der Türkei, greifen in das Persönlichkeitsrecht ein und sind deshalb extrem, was wiederum neue Extreme erzeugt. Heute wird das Kopftuch immer häufiger zweckentfremdet.

Für viele Trägerinnen vermittelt es abgrenzende Gruppenzugehörigkeit als ein religiöses Symbol, das zu einem politischen Ausdruck von Widerstand gegen staatliche Bevormundung eingesetzt wird.

Erschreckend finde ich den modischen Trend, um mit Reizen noch zusätzlich zu kokettieren. Denn ich kann mir schwer vorstellen, dass sich die gläubigen Frauen zur Zeit des Propheten mit ihrer Verhüllung damals vor den Spiegel stellten, um sich chic zu machen, bevor sie ihre Häuser verließen.

Versachlichung der Diskussion nötig

Ich hoffe, dass nach Aufhebung dieses einschränkenden und einseitigen Verbots eine Entspannung zwischen Gegnern und Befürwortern eintreten wird, damit man beginnt, sich ernst zu nehmen, um ins sachliche Gespräch zu kommen. Ich finde, dass Gesprächsverweigerung viel gefährlicher ist als das Tragen eines symbolträchtig gewordenen Kleidungsstücks.

Ich habe selbst über 30 Jahre das Kopftuch getragen und weiß, wie sich eine Frau damit fühlt und wie sie denkt. Wenn das Kopftuch mit Identitätsverständnis, moralischen Werten und anerzogener Scham verknüpft ist, dann kann man von dieser Frau nicht erwarten, dass sie das Kopftuch beziehungsweise ihre Verhüllung von heute auf morgen ablegt. Das Recht auf Bildung darf davon nicht berührt sein und muss für eine Frau immer uneingeschränkt bestehen bleiben.

Seit drei Jahren trage ich kein Kopftuch mehr und bin in die Masse der "Unauffälligen" getreten. Dadurch hat sich meine Wahrnehmung verhüllten Frauen und nicht verhüllten Frauen gegenüber sehr verändert. Ich sehe heute Dinge, die ich als Verhüllte damals nicht gesehen habe.

Prüfung religiöser Quellen

Das Ablegen meines Kopftuches ist nicht von heute auf morgen geschehen. Ich habe einerseits schrittweise eigene Erfahrungen ohne Kopftuch in der Öffentlichkeit gemacht, und andererseits habe ich im Rahmen der Kopftuchdebatte und in meiner Verantwortung als Vorsitzende des Islamischen Frauenvereins die immer wieder von Muslimen angeführten religiösen Quellen genauer unter die Lupe genommen.

Erst als ich nach meinen Recherchen und neuen Erfahrungen das Kopftuch aus Überzeugung endgültig ablegte, haben mir die Reaktionen meiner Glaubensgeschwister dann allmählich bestätigt, dass ich dabei zunächst unbemerkt ein Minenfeld betreten habe.

Emel Abidin-Algan; Foto: Stephan Schmidt
Emel Abidin-Algan: "Ich bin heute sehr dagegen, dass eine Gruppe von Menschen mit Kopftuch und Verhüllung bestimmen, was Religion und vor allem Anstand ist."

​​Eigenständiges Forschen, Infragestellung von Überlieferungen sowie kritische Auseinandersetzungen mit der Gegenwart sind unter Muslimen ungewöhnlich und werden im traditionellen Hierarchiedenken nicht gefördert. Das Ergebnis ist ein Mangel an brauchbaren Argumenten für das Kopftuch in unserer Gegenwart.

Das Argument, eine Frau mit Kopftuch wäre vor Belästigungen geschützt, ist lächerlich. Es gibt zumindest hier in Deutschland keinen Mann, der eine Frau belästigen würde, nur weil diese kein Kopftuch trägt.

Früher sollten die weiblichen Reize mit der Verhüllung neutralisiert werden. Mit jener Verhüllung entstand eine Distanz, die die Kommunikation zwischen Mann und Frau weiterhin ermöglichte.

Diese Verhüllung war für die soziale Bewegungsfreiheit der damaligen Frauen noch lange nicht so einschränkend, wie es für Frauen von heute in einer modernen Welt leider vielfach zur Tatsache geworden ist, wenn sie sich beispielsweise beruflich orientieren wollen.

Heute halte ich auch das Argument mit der Verhüllung von weiblichen Reizen für lächerlich. Zumindest für den europäischen Lebensraum stellt sich die Frage: Besteht überhaupt noch eine Notwendigkeit, weibliche Reize zu neutralisieren? Was sind überhaupt Reize?

Umgekehrt: Üben denn Männer auf Frauen keine Reize aus? Wieso sollten sich dann nicht auch Männer verhüllen? Haben Frauen etwa keine erotischen Fantasien? Vielleicht könnte eine Umfrage dieses Missverhältnis in den Köpfen klären.

Geringes Wissen über religiöse Quellen

Ich bin erstaunt darüber, wie wenig informiert Muslime sind, wenn es um die theologischen Quellen bezüglich dieses Themas geht. Spätestens jetzt, wo im Namen des Islam unverhältnismäßig um das Kopftuch gekämpft wird, sollte bewusst werden, dass das ursprünglich als unbedeutender Teil eines Volksglaubens geltende Tuch nun auf der politischen Bühne als Fahne gehisst wird. Warum wird diese Zweckentfremdung geduldet?

Es wird meistens aus Verpflichtung geglaubt, aber nicht mit Überzeugung aufgrund eigener Erkenntnisse. Mit dem Verweis auf das Befolgen von Gottes Willen und die Einhaltung einer religiösen Pflicht geben sich immer noch sehr viele Frauen zufrieden, ohne genauere Fragen zu stellen.

Jeder Muslim, den ich bisher gefragt habe, kannte zum Beispiel die Offenbarungsgründe, also den historischen Kontext der beiden Bedeckungsverse, gar nicht. Auch dass die Vorgabe, welche Körperteile von Männern und Frauen zu verhüllen sind, auf einen Beschluss von Gelehrten nach dem Tod des Propheten zurückgeht, interessiert niemanden.

Es sind diese Offenbarungsgründe, aber auch meine eigenen Erfahrungen, durch die ich erkannt habe, dass es sich bei der koranischen Verhüllungsempfehlung um eine praktische Maßnahme handelt, die heute wegen eines entwickelten Selbstverständnisses von Mann und Frau völlig überflüssig ist.

Damals gab es eine einfache, praktische Notwendigkeit für diese Körperverhüllung: Frauen wurden von Männern belästigt, weil sie mit den Sklavinnen verwechselt wurden, und Männer brachten sich mit ihrer Vorliebe für weibliche Dekolletés in Verletzungsgefahr. Da die Menschen von damals sich nicht selber helfen konnten, musste sich Gott mit zwei Offenbarungen einschalten.

Ich bin heute sehr dagegen, dass eine Gruppe von Menschen mit Äußerlichkeiten wie Kopftuch und Verhüllung bestimmen, was Religion und Religiosität und vor allem Anstand ist.

Das ist eine Diskriminierung all jenen gegenüber, die nicht verhüllt sind, aber sich, wie ich, sehr religiös fühlen. Der Nichtmuslim in Deutschland assoziiert das Kopftuch jedoch meistens mit dem Islam, ohne genauere Fragen zu stellen.

Abgrenzende Arroganz

Nach meinem Perspektivenwechsel erscheinen mir manche Frauen mit Kopftüchern sehr unnatürlich, kahl: als wären sie gerade aus dem Krankenhaus mit einem großen Wundverband um ihren Kopf gekommen. Ich entdecke auch sehr häufig abgrenzende Arroganz. Viele junge Frauen sähen aus wie "eingepackte Bonbons", so die Wahrnehmung eines nicht muslimischen Mannes, den ich einmal nach seiner Meinung gefragt hatte.

Deshalb finde ich es heute meistens sehr beschämend, dass der außenstehende Nichtmuslim das Kopftuch mit dem Islam in Verbindung setzt und meint, dass die Trägerin eines Kopftuchs religiöser sei als eine Frau ohne Kopftuch.

Heute halte ich es für sehr gefährlich, ein Kleidungsstück derart mit der Religion zu verknüpfen, denn wenn ich das Kleidungsstück für mich nicht mehr als Notwendigkeit ansehe, dann ist es so, als lehne ich die Religion ab. Ohne Kopftuch fühle ich mich heute durch meine größere Nähe zu den Menschen sehr viel religiöser als jemals zuvor und frage mich umso mehr, was das Kopftuch mit Religion zu tun hat.

Mit staatlichen Verboten wird man aber nicht erreichen, dass über diese Dinge diskutiert wird, um endlich brauchbare Argumente für eine differenziertere Auseinandersetzung zu entwickeln und Frauen zu authentischen Veränderungen und eigenständigen Entscheidungen zu ermutigen.

Deshalb sollten Verbote schon aus politischen Gründen abgeschafft werden, wenn man muslimische Frauen aufklären, Männer von ihrem Image als Belästiger befreien und das altertümliche Bild von Mann und Frau in muslimischen Köpfen langfristig verändern will.

Muslime und Nichtmuslime in Deutschland könnten den ersten Schritt zu einer sachlichen Debatte starten, um den verhüllten Frauen sowohl in Deutschland als auch in der Türkei zu helfen. Die gesellschaftlichen Verhältnisse in der Türkei sind wegen der noch sehr traditionellen Strukturen um ein Vielfaches schwieriger. Umso mehr sollten wir uns unserer Chancen und unserer gemeinsamen Verantwortung hier in Deutschland bewusst sein.

Emel Abidin-Algan

© Emel Abidin-Algan 2008

Dieser Text erschien zuerst in der Tageszeitung, Die Welt.

Die Autorin ist Kommunikationsmanagerin in Berlin. Sie ist die Tochter des Gründers der umstrittenen islamischen Vereinigung Milli Görüs, wurde von den Eltern verheiratet, bekam sechs Kinder und war lange Jahre Vorsitzende des Islamischen Frauenvereins. Vor drei Jahren legte sie ihr Kopftuch ab. 2007 wurde ihr als erster deutscher Muslimin der protestantische Preis "Das unerschrockene Wort" verliehen.

Qantara.de

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