Wo wollen sie hin?

Auch für den Iran gilt das Atomabkommen in seiner bisherigen Form nicht mehr. Das Land reichert Uran jenseits der 3,67 Prozent an und überschreitet damit die Grenze, die das Abkommen setzt. Unterdessen liegt die Wirtschaft am Boden. Die Sicherheitskräfte kündigten an, hart gegen Proteste vorzugehen. Von Ali Sadrzadeh

Von Ali Sadrzadeh

Das erste Ultimatum ist abgelaufen. Die Grenzüberschreitung hat begonnen. Wo aber liegt die nächste Grenze? Kennen sie den Weg, können sie die gefährlichen Klippen in diesem unübersichtlichen Gelände überwinden? Wo wollen sie eigentlich hin, was ist ihr Ziel? Und wer kann ihnen helfen, Irrwege zu meiden? Kurzum: Haben die Machthaber der Islamischen Republik eine Strategie?

Auf der Pressekonferenz, auf der der Iran am vergangenen Sonntag den Beginn der Urananreicherung jenseits der 3,67-Prozent-Grenze bekanntgab, war es schwer, etwas zu erkennen, das man annähernd eine Strategie hätte nennen können. Hier beginne ein zweites Ultimatum, das ebenfalls 60 Tage dauern werde, und wenn auch dieses ohne Ergebnis bleiben sollte, würden weitere Schritte folgen, sagte der iranische Vizeaußenminister Abbas Araghchi.

Was diese Schritte sein würden, sagte Araghchi nicht. Er konnte oder durfte sie nicht nennen, und das ist auch nicht sein Job. Solche "Schritte" werden anderswo festgelegt, nicht im Außenministerium.

Der Mann, der die Außenpolitik bestimmt

Zwei Tage vor dieser Pressekonferenz hatte es einen anderen Auftritt vor den Medien gegeben, bei dem mehr darüber zu erfahren war, wohin der Iran marschieren will. An diesem Tag hatte nämlich Ali Akbar Velayati ausgewählte iranische Medien um sich versammelt. Und wenn Velayati über die Außenpolitik spricht, dann weiß man, dass gesagt wird, was Ali Khamenei, der mächtigste Mann des Iran, denkt. Velayati war 16 Jahre lang Irans Außenminister, momentan zählt sein Wikipedia-Eintrag 37 Jobs, die er innehat. Der wichtigste: außenpolitischer Berater des Revolutionsführers.

Der ehemalige iranische Außenminister Ali Akbar Velayati; Foto: Mehr
Man kehre sofort zum Atomabkommen zurück, wenn Europa sein Versprechen einlöse, erklärte Ali Akbar Velayati, außenpolitischer Berater des Revolutionsführers.

Eine 20-prozentige Urananreicherung würde der nächste Schritt sein, sollten die Europäer ihren Pflichten in den nächsten 60 Tagen nicht nachkommen. Diesen Anreicherungsgrad brauche man für medizinische Zwecke und die Bestückung des Atomkraftwerks Buschehr, sagte Velayati. Doch dieses Kraftwerk ist derzeit defekt und seit Monaten außer Betrieb. Man kehre sofort zum Atomabkommen zurück, wenn Europa sein Versprechen einlöse, so Velayati weiter.

Macht und Wille Europas

Was aber soll Europa tun? In einem Satz: dem Iran helfen, die US-Sanktionen zu umgehen. Wie? Indem man den Verkauf iranischen Erdöls ermöglicht. Kann Europa das, und mehr noch: Will es das überhaupt?

Wenige Stunden, bevor Velayati in Teheran vor die Presse trat, war vor Gibraltar etwas geschehen, das die Macht und den Willen Europas bestens demonstrierte. Die britische Marine setzte einen iranischen Öltanker fest, der auf dem Weg zu einer syrischen Raffinerie war. Großbritannien habe auf Bitten der USA gehandelt, sagte ein Sprecher der spanischen Regierung. Inzwischen hat ein britisches Gericht entschieden, der Tanker dürfe noch weitere zwei Wochen festgehalten werden. So viel zur Hilfsbereitschaft Europas.

Fast unmittelbar nach der sonntäglichen Ankündigung in Teheran verkündeten fast alle europäischen Außenministerien ihre Besorgnis und warnten den Iran vor einem Verstoß gegen das Atomabkommen. Will heißen: Europa kann nicht viel mehr tun als immer wieder zu wiederholen, man wolle das Abkommen am Leben halten.

Klinisch tot

Aber nach dem Austritt der USA ist dieses Abkommen klinisch tot, jedenfalls für den Iran. Und die historisch beispiellosen US-Sanktionen haben es in ein wertloses Papier verwandelt. Ultimaten, Sanktionen und besorgte Mienen sind die Diplomatie unserer Tage. Wie weit wird man nun gehen, wo soll das enden? Lest Twitter, wenn Ihr wissen wollt, wohin die Welt steuert, scheint die Maxime geworden zu sein – und nicht nur Trumps Tweets lesen, wo er vor zwei Wochen verkündete, er habe einen Angriff auf den Iran nur zehn Minuten zuvor gestoppt.

Auch die Machthaber in Teheran machen via Twitter Diplomatie auf ihre eigene Art. „Wir haben schon einmal einen Präsidenten gestürzt, das können wir noch einmal machen. Hört Trump auf Pompeo, versichern wir, dass er ein Präsident mit einer Amtszeit bleiben wird. Hört er aber auf Truck Carlson, werden wir vielleicht ein anderes Beispiel haben.“

Was sagt uns dieser Tweet? Ist er eine Warnung, ein Hilferuf oder ein Angebot? Er stammt von Hessamodin Ashna, engster Berater des iranischen Präsidenten Hassan Rohani. Der 55-Jährige leitet ein Zentrum für strategische Studien, das Rohani selbst vor Jahren gründete. Ashna ist ein Geistlicher, der vor fast zwei Jahren die Mullah-Kleidung abgelegt hat und in den sozialen Netzwerken sehr aktiv ist.

Geiselnahme oder Gesprächsbereitschaft?

Teheraner Botschaftsentführung von 1979; Foto: Fars
Erinnerungen an die Geiselnahme in der US-Botschaft in teheran 1979:Hört Trump auf seinen Außenminister Mike Pompeo, der eine harte Linie gegen den Iran verfolgt, dann geschehe dem Präsidenten das, was einst Jimmy Carter erlebte. Dessen Präsidentschaft fiel mit der Islamischen Revolution und der Geiselnahme der US-Diplomaten in Teheran zusammen. Diese beherrschte den US-Präsidentenwahlkampf: Carter verlor und wurde zum "one term president", die Geiseln kamen genau an dem Tag frei, an dem sein Nachfolger Ronald Reagan seinen Amtseid leistete.

Was sagt uns sein neuester Tweet? Hört Trump auf seinen Außenminister Mike Pompeo, der eine harte Linie gegen den Iran verfolgt, dann geschehe dem Präsidenten das, was einst Jimmy Carter erlebte. Dessen Präsidentschaft fiel mit der Islamischen Revolution und der Geiselnahme der US-Diplomaten in Teheran zusammen. Diese beherrschte den US-Präsidentenwahlkampf: Carter verlor und wurde zum "one term president", die Geiseln kamen genau an dem Tag frei, an dem sein Nachfolger Ronald Reagan seinen Amtseid leistete.

Hört Trump dagegen auf Truck Carlson, seinen Lieblingsmoderator bei Fox News, dann könnten der Iran und die USA ins Geschäft kommen. Carlson hatte sich an dem Tag, an dem der Angriff gegen den Iran starten sollte, vehement gegen einen Krieg ausgesprochen. Das soll Trumps Entscheidungsänderung bewirkt haben.

Was will der iranische Präsidentenberater Trump mitteilen: Hat der Iran etwa so etwas wie einst die Geiselnahme der US-Diplomaten vor? Oder bietet er Gesprächsbereitschaft an, wenn die USA von einem Angriff absehen? Oder handelt es sich um nichts weiter als die gängige Analyse, Trump werde die nächste Präsidentenwahl verlieren, wenn er in einen Krieg mit dem Iran verwickelt ist?

Es gibt keinen kurzen Krieg

Was auch immer: Trump hat danach getwittert, ein Angriff gegen den Iran werde kein üblicher Krieg, sondern eine kurze, aber sehr schmerzliche Aktion sein. Und der iranische Außenminister twitterte zurück: Einen kurzen Krieg werde es nicht geben. Trump könne einen Krieg beginnen, aber er werde nicht derjenige sein, der diesen Krieg auch beende. Planlosigkeit, wohin man schaut.

Was aber gewiss ist, sind die amerikanischen Sanktionen, die zunehmend den Alltag der Iraner und Iranerinnen bestimmen. Fünfzig Prozent der Bevölkerung leben unter der offiziellen Armutsgrenze, stellte vor drei Wochen eine Parlamentskommission fest, die sich mit sozialen Fragen beschäftigt.

Und diese Armen sollen nicht auf die Idee kommen, sich so zu benehmen, wie Trump es sich wünscht: nämlich für einen Aufstand gegen die Herrschenden auf die Straße gehen. Der Revolutionsführer hat die führenden Kommandanten der Revolutionsgarden und der Basidsch, der Volksmilizen, ausgetauscht.

Die neuen Kommandanten haben die Zeichen der Zeit erkannt und bei ihrer Amtseinführung verkündet, sie würden Trumps Pläne im Innern des Iran zunichte machen. Mit anderen Worten: Künftig werden Proteste als Kollaboration mit dem Kriegsgegner gewertet.

Ali Sadrzadeh

© Iran Journal 2019