"TNT macht keinen Unterschied"

Mangel an Wissen zieht viele Menschen in den Sog ideologischer Rattenfänger. Doch die terroristischen Anschläge können alle treffen und schaden auch denen, für die sie angeblich durchgeführt werden, so Peter Philipp in seinem Kommentar.

Nicht mangelnder Wohlstand, sondern der Mangel an Wissen zieht viele Menschen in den Sog ideologischer Rattenfänger. Doch die terroristischen Anschläge können alle treffen und schaden auch denen, für die sie angeblich durchgeführt werden. Ein Kommentar von Peter Philipp.

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​​Nun sind sie wieder zu hören, die alten Argumente – die nach dem 11. September die Runde machten: Man könne Terrorismus nicht mit Gewalt ausrotten, sondern man müsse an die Wurzeln gehen und die Ursachen beseitigen: Die Diskrepanz zwischen Arm und Reich in der Welt, die Ungerechtigkeit zwischen Nord und Süd, die Ignoranz zwischen Okzident und Orient. Was schon nach den Angriffen auf das World Trade Center keine adäquate Antwort war, ist es auch heute nach Madrid nicht. Solche Argumente sind eher der Ausdruck der unangenehmen Erkenntnis, dass wir gegenüber solchen Terrorakten immer noch ratlos und hilflos sind. Wobei das „wir“ durchaus global gemeint ist und sich nicht auf den Westen beschränkt, sondern – wir haben es seit dem 11. September und auch schon davor ja erlebt – auch jedes andere Land dieser Welt treffen und betreffen kann: Von Kenia bis Bali, von Russland über die Türkei bis hin nach Marokko.

Eine unangenehme Erkenntnis, die aber doch auch etwas anderes klar macht: Nicht die Ungerechtigkeit dieser Welt ist Ursache solch eines Wahnsinns, sondern die Anfälligkeit und Empfänglichkeit unverändert großer Bevölkerungsgruppen für einfache und primitive Demagogie. Wie die Osama Bin Ladens und seiner Anhänger, die den Unterdrückten und Entrechteten in der islamischen Welt einreden, ihr Elend sei direkte Konsequenz westlicher Arroganz und westlichen Hegemonialstrebens. Wenn schon nicht besser, so lebt es sich nun einmal einfacher mit einem klaren Feindbild: Wenn man jemandem die Schuld geben kann für die eigene Not und wenn man jemanden abstrafen kann für diese Not, dann kann man umso leichter jeden Versuch unterlassen, sich selbst aus dieser Misslage zu befreien.

Oder hat der elfte September auch nur einen unterdrückten Moslem dieser Welt befreit? Der elfte März wird das ebenso wenig tun. Beide Daten und der blutige Terror, für den sie stehen, haben nur noch mehr Unheil gebracht und werden noch mehr Unheil bringen. Und dies ist das eigentlich perfide an den Taten: Sie treffen nicht nur unschuldige Außenstehende, sondern sie schaden auch denen, für die sie angeblich durchgeführt werden. Ohne Rücksicht und ohne Mitleid und ohne Ansehen der Person. Menschenleben zählen nicht. Dies aber ist der Kern des Terrorismus. Ungeachtet, was irgendwelche Bekennerschreiben hinterher verkünden.

Und leider wird es auch weiterhin genug Menschen geben, die sich von solchen Taten berauschen lassen. Ein Grund hierfür liegt auch – aber nicht allein – im eklatanten Bildungsgefälle auf dieser Welt: Nicht der Mangel an Wohlstand, sondern vielmehr der Mangel an Wissen ist der Motor, der die Massen ideologischen Rattenfängern hinterher laufen lässt und der die Gehirne verschließt vor logischen und sachlichen Argumenten und schließlich auch die Herzen vor menschlichen Gefühlen.

Selbst wenn dies im Westen bekannt ist – zum Beispiel auf Grund jährlicher UNO-Untersuchungen – wir haben doch keine Antwort darauf. Wir sind zu sehr mit uns selbst beschäftigt und wachen erst auf, wenn es mal wieder „knallt“. Aber dann ist es zu spät. Und auf der Gegenseite setzt man fest darauf. Denn nichts wäre schlimmer für sie als wenn ihr der Nährboden entzogen würde. Die Antwort auf Madrid, New York und anderen Terror dieser Art kann deswegen nur heißen: Die Menschen müssen sich bewusst werden, dass sie alle Opfer sind, wenn sie sich dem nicht widersetzen. Dabei ist die Religion unerheblich: TNT macht keine Unterschiede. Was allein helfen kann: Die pauschale Verteufelung der Gegenseite muss aufhören. Wobei selbst dieser Ausdruck falsch ist: Aus der „Gegenseite“ sollten endlich „Mitmenschen“ werden.

Peter Philipp

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