Frankreichs Staatsverbrechen an den Algeriern

Wurden tagelang in Sammelstellen festgehalten: Algerische Muslime am 20. Oktober 1961 in Paris
Wurden tagelang in Sammelstellen festgehalten: Algerische Muslime am 20. Oktober 1961 in Paris

Erschossen, erschlagen oder ertränkt: Eine Demonstration zehntausender Algerier endete am 17. Oktober 1961 mit dem "Massaker von Paris". 60 Jahre später fordern Historiker und Opferverbände ein Zeichen des Präsidenten. Von Andreas Noll

Von Andreas Noll

Zum 60. Jahrestag des Massakers von Paris kommen im französischen Fernsehen die Opfer zu Wort: "Die Polizisten haben damals ein Blutbad angerichtet, mit allem, was ihnen in die Hände gekommen ist. Ob Eisenstangen oder Knüppel", erinnert sich Saad Ouazene. Der Algerier zählte zu den mehr als 30.000 Demonstranten, die am 17. Oktober 1961 aus den Vorstädten friedlich in die französische Hauptstadt gezogen waren.

Sie protestierten an diesem Tag auf Initiative der algerischen Unabhängigkeitsbewegung gegen die nächtliche Ausgangssperre für französische Muslime, die der Polizeipräfekt ihnen wenige Tage zuvor auferlegt hatte. Die Demonstration endete in einem Gemetzel: Je nach Quelle ist von mehreren Dutzenden oder sogar von Hunderten Algeriern die Rede, die von Polizisten erschossen, erschlagen oder in der Seine ertränkt wurden. Mehr als zehntausend Demonstranten wurden von der Polizei tagelang festgehalten.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron verurteilte am Vortag des Jahrestages die Taten als unentschuldbar. "Die Verbrechen, die in dieser Nacht (...) begangen wurden, sind für die Republik unverzeihlich", hieß es in einem Schreiben des Élyséepalasts. Frankreich erkenne seine eindeutige Verantwortung an. Macron nahm an einer Gedenkveranstaltung in Colombes bei Paris teil. Laut Élysée ist er damit der erste Präsident, der einem solchen Gedenken beiwohnte. Ist das schon das erwartete Zeichen?

 

Heute vor 60 Jahren tötete die Pariser Polizei 200 Algerier, die an einer friedlichen Demonstration gegen eine rassistische Ausgangssperre teilnahmen. Wer französisch liest, findet hier Hintergründe. 1/ https://t.co/bKTtNoiChn

— Nadia Pantel (@NadiaPantel) October 17, 2021

 

Schweigen über das Massaker

Das wahre Ausmaß des außer Kontrolle geratenen Polizeieinsatzes wurde jahrzehntelang vom Staat verschwiegen - Zensur und Amnestiegesetze verhinderten eine unabhängige Aufarbeitung. Zunächst berichteten offizielle Stellen von drei Toten nach der Demonstration, dann von sechs. Man habe in der Öffentlichkeit nichts über das Massaker gehört, erinnert sich der heute 78 Jahre alte Historiker Etienne François, der über Erinnerungskultur in Frankreich geforscht hat.

Als Student in Nancy hat er im Oktober 1961 von der brutalen Niederschlagung der Demonstration nicht aus den Medien erfahren, sondern durch einen Professor: "Man wusste aus dem Algerienkrieg, dass die Verhältnisse in Algerien hart und grausam waren, aber dass sich das auf Frankreich selbst, auf die Hauptstadt Paris, ausdehnen könnte, das war für uns damals undenkbar."

Zur Verantwortung gezogen wurden die Beteiligten nicht. Im Gegenteil: Sie machten Karriere. Der damalige Innenminister Roger Frey wachte später als Präsident des Verfassungsgerichtes über das Gesetz und der zuständige Polizeipräfekt von Paris, Maurice Papon, wurde unter Präsident Valery Giscard d'Estaing in den 1970er Jahren Haushaltsminister.

In der französischen Gesellschaft gab es, nachdem Algerien 1962 unabhängig geworden war, den Wunsch, "die Sauereien des Algerienkriegs zu vergessen", analysiert der Historiker Fabrice Riceputi. Erst seit gut 20 Jahren wird der Algerienkrieg in Schulbüchern thematisiert, die brutale Eroberung des Landes ab 1830 wird dagegen dort bis heute verschwiegen.

Riceputi zählt zu einer Gruppe von Wissenschaftlern, Politikern und Aktivisten, die für eine umfassende gesellschaftliche Aufarbeitung des Algerienkrieges kämpfen. Staatspräsident Emmanuel Macron müsse das Massaker vom 17. Oktober als einen Akt der Staatskriminalität bezeichnen, fordern sie. Diesen Wunsch teilt auch Geschichtsprofessor Etienne François: "Ich hielte eine solche Einordnung persönlich für sinnvoll, weil es der Realität dieses Massakers entspricht."

Tiefpunkt im algerisch-französischen Verhältnis

Tatsächlich hat Macron die Kolonialisierung so scharf kritisiert wie kein Präsident vor ihm. In Algier hatte der Politiker im Wahlkampf vor den Präsidentschaftswahlen 2017 die Kolonialisierung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnet. Auch für den 17. Oktober 2021 hatte Macron eine symbolische Geste angekündigt, nachdem er bereits 2018 in einem Tweet die damaligen Ereignisse als "gewaltsame Repression" bezeichnet hat.

Präsident Macron bei den Gedenkfeierlichkeiten in Colombes; Foto: AP Photo/picture-alliance
Die Aufarbeitung des schmerzlichen Kapitels steht noch am Anfang: Staatspräsident Macron möchte als erster Präsident Frankreichs die für beide Länder schmerzhafte Zeit des Algerienkrieges und die 132 Jahre währende Kolonialgeschichte in Algerien aufarbeiten. Macron, der 15 Jahre nach Ende des Algerienkriegs auf die Welt gekommen ist, kann in dieser Frage unbelasteter vorgehen als seine Vorgänger, die bis hin zum Sozialisten François Mitterrand noch selbst Verantwortung für Frankreichs Politik in diesem Konflikt getragen haben.

Die aktuellen Umstände sind schwierig. Zuletzt haben die Beziehungen zwischen Frankreich und Algerien einen neuen Tiefpunkt erreicht, nachdem Macron mit einer Jugendgruppe über den Algerienkrieg und den 17. Oktober diskutiert hatte. Macron sprach in der Diskussion von einer offiziellen algerischen Geschichte, die "nicht auf Wahrheiten" gründe, sondern auf einem "Diskurs, der auf dem Hass auf Frankreich basiert". Seit der Unabhängigkeit 1962 mache das politisch-militärische System in Algerien Frankreich für die Probleme des Landes verantwortlich. 

Die algerische Führung reagierte auf diese Äußerungen mit dem Abzug ihres Botschafters aus Paris und der Sperrung des Luftraums für französische Militärflüge, die über diesen Korridor die Truppen in Mali mit Nachschub versorgen.

Und doch: Staatspräsident Macron möchte als erster Präsident Frankreichs die für beide Länder schmerzhafte Zeit des Algerienkrieges und die 132 Jahre währende Kolonialgeschichte in Algerien aufarbeiten. Macron, der 15 Jahre nach Ende des Algerienkriegs auf die Welt gekommen ist, kann in dieser Frage unbelasteter vorgehen als seine Vorgänger, die bis hin zum Sozialisten François Mitterrand noch selbst Verantwortung für Frankreichs Politik in diesem Konflikt getragen haben.

Historiker schätzen, dass mehr als sieben Millionen Franzosen in Frankreich heute mit Algerien verbunden sind - ob als Nachfahren der französischen Siedler in Algerien, die nach der Unabhängigkeit das Land verlassen mussten oder als Algerier, die sich in Frankreich niedergelassen haben. Frankreich und Algerien, das von Frankreich nie als Kolonie bezeichnet wurde, sondern als Teil des eigenen Staatsgebiets, müssen sich verständigen, sagt Historiker Etienne François: "Die Verflechtung zwischen der Geschichte und der Gegenwart Algeriens und Frankreichs ist so tief, dass man nicht sagen kann, dass beide Länder völlig getrennt und anders sind.“

Guerillas der Nationalen Befreiungsfront, Algerienkrieg; Foto: picture-alliance/United Archives
"Die Sauereien des Algerienkriegs" dürfen nicht vergessen werden: Historiker Fabrice Riceputi zählt zu einer Gruppe von Wissenschaftlern, Politikern und Aktivisten, die eine umfassende gesellschaftliche Aufarbeitung des Algerienkrieges fordern. Staatspräsident Emmanuel Macron müsse das Massaker vom 17. Oktober als einen Akt der Staatskriminalität bezeichnen. Diesen Wunsch teilt auch Geschichtsprofessor Etienne François: "Ich hielte eine solche Einordnung persönlich für sinnvoll, weil es der Realität dieses Massakers entspricht."

Kritische Bestandsaufnahme

Als Ausgangspunkt für die Aufarbeitung hatte Macron den renommierten Historiker Benjamin Stora beauftragt, eine "gerechte und präzise Bestandsaufnahme" des französischen Umgangs mit dem Algerienkrieg zu schreiben, der zwischen 1954 und 1962 mehr als eine Million Menschenleben forderte.

Anfang des Jahres legte Stora seine Analyse vor. Der in Algerien geborene Historiker forderte darin unter anderem eine Kommission für Wahrheit und Erinnerung, die Zeitzeugenberichte sammelt, eine Öffnung der Archive, und ein staatliches Gedenken an die Schrecken des Krieges auf beiden Seiten. Zu den historischen Daten, die Stora im öffentlichen Bewusstsein verankern möchte, zählt auch der 17. Oktober 1961.

Als Reaktion auf Storas Bestandsaufnahme hatte Macron "symbolische Akte" zur Anerkennung von Verbrechen in Aussicht gestellt - aber es werde weder eine Entschuldigung noch Reue geben, so der Präsident. Auch Historiker Stora ist skeptisch, ob die Zeit für eine Entschuldigung schon gekommen ist. Sie könnte am Ende der Aufarbeitung stehen, sollte aber nicht den Anfang markieren, so Stora, der als Sohn algerischer Juden 1962 aus Algerien nach Frankreich ausgewandert ist.

Auch wenn die Aufarbeitung des Massakers von Paris jahrzehntelang vom Staat behindert wurde: Mittlerweile wurden in über 50 Städten Gedenktafeln für die Opfer des 17. Oktober angebracht. Ihr Leid hatte Macrons Vorgänger François Hollande 2012 in einem ersten Schritt anerkannt, zur Verantwortung des Staates aber noch geschwiegen: "Am 17. Oktober 1961 wurden Algerier, die für ihr Recht auf Unabhängigkeit demonstrierten, bei der blutigen Niederschlagung getötet. Die Republik erkennt diese Tatsachen mit Klarheit an. 51 Jahre nach dieser Tragödie zolle ich dem Andenken an die Opfer Tribut", schrieb der Präsident damals in einem offiziellen Kommuniqué und überließ es damit seinem Nachfolger, den nächsten Schritt zu tun. 

Andreas Noll

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