Opfer der zivilisatorischen Politik

Indiens Entscheidung, Kaschmir seiner Autonomie zu berauben, ist neben dem harten Durchgreifen der chinesischen Regierung in der Unruhe-Provinz Xinjiang und der von den USA unterstützten israelischen Annexion arabischer Gebiete, der jüngste Beweis dafür, wie eine neue Weltordnung aussehen könnte. Von James M. Dorsey

Von James M. Dorsey

Beim aktuellen Umgang mit Konflikten ist eine neue Weltordnung erkennbar, die es Politikern ermöglicht, ungestraft das internationale Recht zu verletzen. Dazu haben US-Präsident Donald Trump, die Ministerpräsidenten Israels (Benjamin Netanjahu) und Indiens (Narendra Modi) sowie arabische und muslimische Politiker beigetragen.

Dabei umgehen sie die Diplomatie und das nationalstaatliche Verständnis, das seit den Westfälischen Verträgen von 1648 üblich ist. Außerdem ignorieren sie die nationalen, ethnischen, religiösen und menschlichen Rechte sowie die Interessen von Minderheiten.

Dass Narendra Modi nun sein altes Wahlversprechen erfüllt und Kaschmir unilateral das Recht nimmt, sich selbst zu regieren, erinnert an Donald Trumps Alleingang, die israelische Annexion Ostjerusalems und der Golanhöhen anzuerkennen. Diese Anerkennung wurde auch durch arabische und muslimische Politiker ermöglicht, die bei ihren immer selektiveren Lippenbekenntnissen gegenüber dem Schicksal ihrer ethnischen und/oder religiösen Brüder jeglichen Schein islamischer Solidarität und Glaubwürdigkeit abgelegt haben.

Durch ihre Taten und Maßnahmen entpuppen sich Modi, Trump und Netanjahu als zivilisatorische Politiker, die die Rechte anderer ignorieren. Sie definieren die Grenzen ihrer Länder anhand historischer Forderungen, Bevölkerung und Sprache sowie dem Konzept einer Zivilisation – statt einer Nation, deren Grenzen durch international anerkannte Vereinbarungen bestimmt sind.

Modis rücksichtsloses Vorgehen in Kaschmir

Als sich der Südostasien-Historiker William Dalrymple an die Prinzipien indischen Politik in den ersten Jahren als unabhängiger Staat erinnerte, bemerkte er, wie weit Modi sein Land von der Vision einer pluralistischen, demokratischen Nation entfernt hat, die sich der Unabhängigkeitsaktivist und erste indische Ministerpräsident Jawaharlal Nehru vorgestellt hatte.

Nehru sagte im Jahr 1952: „Kaschmir ist nicht Eigentum Indiens oder Pakistans, sondern gehört dem kaschmirischen Volk. Als sich Kaschmir Indien anschloss, erklärten wir den Führern des kaschmirischen Volkes, dass wir uns immer dem Urteil ihrer Stimme beugen würden. Würden sie von uns verlangen, die Region zu verlassen, würde ich nicht zögern, Kaschmir aufzugeben. Wir haben das Thema vor die Vereinten Nationen gebracht und uns mit unserem Ehrenwort für eine friedliche Lösung ausgesprochen. Als große Nation können wir dieses Ziel nicht aufgeben.“

Der „gefährlichste Ort der Welt“

Umfragen in Indien haben gezeigt, dass bis zu zwei Drittel der Einwohner des Kaschmirtals, einer der weltweit am stärksten militarisierten Regionen, unabhängig sein wollen. Modi war es offenbar bewusst, dass er in einer Region, die der ehemalige US-Präsident Bill Clinton einst „den gefährlichsten Ort der Welt“ genannt hatte, mit dem Feuer spielte.

Da er nach den Angriffen nationalistischer Hindus bereits in der Defensive war und voraussah, dass sein Vorhaben von der muslimischen Gemeinde Indiens abgelehnt werden würde, schickte er vor seiner Entscheidung zehntausend Soldaten nach Kaschmir, entließ Dutzende von Politikern, wies Touristen aus der Region aus, schloss dort Schulen, kappte Telefonleitungen und blockierte das Internet.

Wahrscheinlich war Modi bei seiner Zeitplanung auch von Trumps jüngstem Angebot beeinflusst, im Kaschmir-Streit zu moderieren, was Indien rundweg ablehnte – und von den US-Verhandlungen mit den Taliban, die zu einem Rückzug der USA aus Afghanistan und vielleicht zu einer Taliban-Regierung führen könnten. Beide Entwicklungen würden Indiens Erzrivalen Pakistan in die Hände spielen.

Proteste für die Unabhängigkeit Kaschmirs in Peshawar; Foto: Getty Images/AFP/A. Majeed
Supporters of an independent Kashmir protest in Peshawar, Pakistan. According to James M. Dorsey, the timing of Modi's revocation of Kashmir's autonomous status "was likely propelled by Trump's recent offer to mediate the Kashmir dispute that India rejected out of hand and US negotiations with the Taliban that could lead to a US withdrawal from Afghanistan and potentially to a Taliban takeover. Both developments would strengthen India's arch-rival Pakistan"

Dennoch hat Narendra Modi, unterstützt und gefördert von gleichgesinnten zivilisatorischen Politikern, Nehrus Vision von Größe neu definiert, indem er sie in Begriffen eines hinduistischen anstatt indischen Nationalismus interpretierte – ein Ansatz, der es ihm ermöglichte, zu den rechtlichen, politischen und moralischen Versprechen und Verpflichtungen seiner Vorgänger zurückzukehren. Auch Benjamin Netanjahu hat dies so gemacht, obwohl Israels Besatzung der arabischen Gebiete nach dem Nahostkrieg von 1967 auf das Konto seiner Vorgänger geht.

Ermutigt durch Trump und Xi?

Auch Donald Trump könnte Modi ermutigt haben, indem er einen Präzedenzfall für die Verletzung internationalen Rechts schuf – nämlich durch seine Anerkennung der israelischen Annexion Ostjerusalems und der Golanhöhen, die Israel von Jordanien beziehungsweise Syrien erobert hatte. Ebenso unterstützt Trump de facto die Siedlungsaktivitäten Israels im Westjordanland.

Wahrscheinlich war auch der chinesische Präsident Xi Jinping ein Vorbild. Ihm gelang es, die muslimische Welt dazu zu bringen, über seine brutale Unterdrückung der muslimischen Turkvölker in Xinjiang zu schweigen oder sie gar zu billigen. Und dabei handelt es sich immerhin um den direktesten Angriff auf eine Religionsgemeinschaft in der jüngsten Geschichte.

Das Vorgehen in Kaschmir, Xinjiang und den arabischen Gebieten im Nahen Osten erhöhen kurz- oder langfristig das Risiko gewalttätiger Konflikte – wie massiver Volksaufstände oder einer Konfrontation zwischen den Nuklearmächten Indien und Pakistan. Als Indien eine von der Regierung verhängte Ausgangssperre abmilderte, strömten bereits Tausende von Kaschmiris auf die Straßen, um gegen die Abschaffung der Selbstverwaltung zu protestieren.

Muslime im indischen Teil Kaschmirs während des Eid-ul-Adha-Festes; Foto: picture alliance/AP/C. Anand
Pictured here: Muslims in Indian-administered Kashmir offered prayers amid the communications clampdown during the festival of Eid-ul-Adha. "The moment India eased a government-imposed curfew, thousands of Kashmiris spilled onto the streets to protest against the revocation of self-rule," writes Dorsey

Die arabischen und muslimischen Politiker rücken immer stärker das angebliche nationale Interesse in den Vordergrund – auf Kosten der islamischen Solidarität und der Verteidigung der Umma, der muslimischen Glaubensgemeinschaft. Angesichts dessen könnten die Meinungsverschiedenheiten in der islamischen Welt, wie auf die zivilisatorischen Tendenzen in Konfliktgebieten mit muslimischen Gemeinschaften am besten reagiert werden sollte, für sie zum zweischneidigen Schwert werden.

Unterschiedliche Reaktionen aus der islamischen Welt

Wie bereits im Fall von Xinjiang und der arabischen Gebiete gehörten die Türkei und Malaysia zu den wenigen muslimischen Ländern, die das indische Vorgehen öffentlich kritisierten. Der Botschafter der Vereinigten Arabischen Emirate hingegen vertrat die isolierte Meinung, die Rücknahme der kaschmirischen Autonomie sei eine interne indische Angelegenheit, die dazu beitrage, die Effizienz und Effektivität der Regierung und der sozioökonomischen Entwicklung in der Region zu verbessern.

Anwar bin Mohammed Gargash, der Außenminister der Emirate, versuchte daraufhin, sein Land in Einklang mit den meisten anderen muslimischen Staaten zu bringen, die sich für Zurückhaltung und eine friedliche Lösung einsetzen.

Die unterschiedlichen Reaktionen der islamischen Welt auf die vielfältigen, die Rechte der Muslime bedrohenden Krisen sind nicht nur ein Zeichen von Machtlosigkeit, sondern auch für die wachsende Bereitschaft, die muslimischen Grundsätze auf dem Altar der scheinbaren nationalen Interessen und wirtschaftlichen Vorteile zu opfern.

Die Frage ist, ob die Bürger diesen Ansatz unterstützen würden, wenn die Redefreiheit in vielen muslimischen Ländern nicht so erheblich eingeschränkt wäre. Die Politiker sind offenbar unfähig, die öffentliche Meinung zu berücksichtigen. Stattdessen sind sie bereit, sie zu ignorieren – und dies könnte letztlich nach hinten losgehen und auf sie zurückfallen.

James M. Dorsey

© Qantara.de 2019

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff

Dr. James M. Dorsey ist Senior Fellow der Rajaratnam School für Internationale Studien an der Technischen Universität von Nanyang, Forschungsmitarbeiter am Nahostinstitut der Nationalen Universität von Singapur und Co-Direktor des Instituts für Fankultur der Universität Würzburg.