Gefährliches Spiel unter dem Atomschirm

Die jüngste militärische Eskalation zwischen Indien und Pakistan wirft die Frage auf: Ist die Abschreckungsstrategie zwischen den beiden Atommächten stabil? Im Prinzip ja, meint der Südasien-Experte Michael Kugelman.

Von Michael Kugelman

Ein eisernes Prinzip des internationalen Sicherheitssystems lautet: Der Besitz von Atomwaffen hält Staaten von ihrem Einsatz ab. Nach den amerikanischen Atombombenabwürfen über Hiroshima und Nagasaki wurden diese Waffen nicht mehr eingesetzt. Allerdings hält der Besitz von Atomwaffen solche Staaten nicht notwendigerweise davon ab, gegeneinander Krieg zu führen. Das heißt, dass die Gefahr der Eskalation von militärischen Konflikten auf die Ebene eines nuklearen Konflikts weiterhin besteht, auch wenn eine solche Eskalation unwahrscheinlich ist.

Die pakistanisch-indischen Beziehungen bieten dafür ein hervorragendes Beispiel. Sie befinden sich derzeit in ihrer schwersten Krise seit Jahrzehnten. Beide Länder haben drei ausgewachsene Kriege gegeneinander geführt, bevor sie 1999 den Status von Atomwaffenstaaten erlangten.

Seitdem gab es weiterhin begrenzte militärische Auseinandersetzungen zwischen ihnen. Artilleriebeschuss über die umstrittene De-facto-Grenze in Kaschmir ("line of control") kommt häufig vor.

Im ersten Jahrzehnt seit 2000 unternahm Indien mehrere begrenzte Militäraktionen jenseits der Grenze, 2016 führte es eine "chirurgische Operation"  gegen Terror-Stützpunkte auf grenznahem Gebiet Pakistans durch. 

Quelle: Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI)
Atomares Potential: Beide Länder haben Raketen, die mit Atomsprengköpfen bestückt werden können. Laut dem "Center for Strategic and International Studies" (CSIS) in Washington verfügt Indien über neun verschiedene einsatzbereite Raketensysteme. Dazu gehört auch die Rakete vom Typ Agni-3, die Ziele in bis zu 5.000 Kilometern Entfernung treffen kann. Pakistans Raketen, die mit chinesischer Unterstützung gebaut wurden, können laut CSIS ebenfalls jedes Ziel in Indien erreichen.

"Präventiver" Luftschlag Indiens

Und nun folgte Anfang der Woche die jüngste Eskalation. Bei dem Anschlag einer Terrorgruppe mit tiefen Verbindungen in Pakistans Sicherheitsapparat wurden im indischen Teil Kaschmirs über 40 indische Sicherheitskräfte getötet.

Laut offizieller indischer Darstellung flogen daraufhin indische Kampfflugzeuge durch den Luftraum über dem pakistanisch verwalteten Teil Kaschmirs und führten in der angrenzenden Provinz Khyber-Pakhtunkhwa Luftangriffe gegen Terroristenstützpunkte durch. Die letzte spektakuläre ausländische Militäroperation auf pakistanischem Territorium war die Kommandoaktion zur Ausschaltung Osama Bin Ladens durch US-Spezialkräfte in Abbottabad 2011.

Von Neu Delhi wurden die Luftangriffe nicht als defensive, sondern als präventive Maßnahme bezeichnet: Weitere Pläne für Terroranschläge in Indien sollten  vereitelt werden. Indien hat damit seinen Willen demonstriert, mit militärischen Mitteln gegen eine akute Terrorbedrohung auch in Pakistan vorzugehen, und zwar nicht nur im Grenzstreifen, sondern tief auf pakistanischem Territorium.

Indien folgt mit diesem Vorgehen seiner sogenannten "Kaltstart"-Doktrin begrenzter militärischer Gewaltanwendung gegen Pakistan unterhalb der nuklearen Ebene. Pakistan hat seinerseits gegen Indiens "Präventivschlag" einen "Vergeltungsschlag" gegen indische militärische Ziele in Jammu und Kaschmir geführt. Offenbar sehen Indien und Pakistan reichlich Spielraum für konventionelle militärische Auseinandersetzungen unter dem Nuklearschirm. Allerdings ist dieser Spielraum nicht grenzenlos.

Das Risiko der nuklearen Eskalation besteht

Denn nicht allein die diversen niedrigschwelligen Eskalationen erhöhen das Risiko eines Atomkriegs zwischen Indien und Pakistan. Besorgniserregend ist auch die stetige Vergrößerung des Arsenals an taktischen Atomwaffen in Pakistan.

Hinzu kommt, dass Pakistan niemals zugesichert hat, nicht als erster Atomwaffen einzusetzen. Jeglicher konventioneller Angriff durch Indien könnte also theoretisch von Pakistan auch mit atomaren Mitteln beantwortet werden.

Trügerische Harmonie 1999: Wenige Monate nach dem Treffen zwischen dem damaligen pakistanischen Regierungschef Sharif und seinem indischen Amtskollegen Vajpayee begann Pakistan den sogenannten Kargil-Krieg in Kaschmir
Trügerische Harmonie 1999: Wenige Monate nach dem Treffen zwischen dem damaligen pakistanischen Regierungschef Sharif und seinem indischen Amtskollegen Vajpayee begann Pakistan den sogenannten Kargil-Krieg in Kaschmir

Es geht hier nicht darum, Horrorszenarien an die Wand zu malen: Ein atomarer Konflikt ist weiterhin sehr unwahrscheinlich. In der aktuellen Krise müsste die Eskalation noch um einige Stufen steigen, bis diese letzte erreicht wäre.

Außerdem: Sollten die Spannungen tatsächlich außer Kontrolle zu geraten drohen, würde die internationale Gemeinschaft unter Führung Washingtons und der Vereinten Nationen eingreifen, um die Lage zu beruhigen. Dennoch bleibt die Möglichkeit bestehen. Und die jüngste Geschichte bietet dafür durchaus ernüchterndes Anschauungsmaterial.

Waffengang von 1999 als Präzedenzfall

1999, etwa zu der Zeit, als Indien und Pakistan sich offiziell zu Atomwaffenmächten erklärten, drangen von Pakistan unterstützte Kämpfer in den indischen Teil Kaschmirs vor. Indien ging mit Luftangriffen gegen die Eindringlinge vor, der sogenannte Kargil-Krieg dauerte von Mai bis Juli. Die CIA hatte Anfang Juli überzeugende Informationen über konkrete Pläne Pakistans bekommen, Atomwaffen gefechtsbereit zu machen und möglicherweise einzusetzen. Daraufhin setzte sich die damalige US-Regierung von Bill Clinton erfolgreich für die Beendigung des Konflikts ein.

Falls diese Darstellung der Ereignisse stimmt - sie wurde erst 2015 publik gemacht - stand die Welt 1999 am Rande eines Atomkriegs. Und leider kann man eine Wiederholung eines solchen dramatischen Moments für die weiteren pakistanisch-indischen Beziehungen nicht ausschließen.

Michael Kugelman

© Deutsche Welle 2019

Michael Kugelman ist leitender Asien- und Südasien-Forscher am Woodrow Wilson International Center for Scholars in Washington