"Ein ganzes Volk ist traumatisiert“

Die Fotojournalistin Masrat Zahra; Foto: Elisa Rheinheimer
Die Fotojournalistin Masrat Zahra; Foto: Elisa Rheinheimer

Die 28-jährige Fotojournalistin Masrat Zahra dokumentiert die Situation im von Indien kontrollierten Kaschmir. Im Interview mit Elisa Rheinheimer spricht sie über ein Leben im Ausnahmezustand, die konservative Gesellschaft und die Vorbehalte der eigenen Familie.

Von Elisa Rheinheimer

Frau Zahra, Sie porträtieren vor allem Frauen und Kinder in Ihrer Heimat. Warum?

Masrat Zahra: Ich will denjenigen eine Stimme und ein Gesicht geben, die nicht gehört werden. Jede Frau in Kaschmir kennt das Gefühl, sich morgens von Vater, Sohn oder Ehemann zu verabschieden und nicht zu wissen, ob sie sie je wiedersieht. Frauen sind die Hauptleidtragenden in Kaschmir. Sie verlieren ihre Söhne, werden vergewaltigt, ohne dass das Konsequenzen hätte, und wenn ihre Männer entführt werden und nicht mehr auftauchen, sind sie dazu verdammt, zu warten – für den Rest ihres Lebens.

Sie haben keinerlei Besitz, können nichts erben, dürfen aber auch nicht neu heiraten. Viele Frauen leiden unter post-traumatischen Belastungsstörungen, so wie ich auch. Ich habe zu viel Blut gesehen, zu viele tote Körper, weinende Frauen und Kinder.

Sie sind die erste Fotojournalistin in Kashmir. Welche Hürden mussten Sie dafür überwinden?

Zahra: Ich musste eine gläserne Decke durchbrechen, als ich 2016 mit der Arbeit begann. Es gab keine Frauen in Kaschmir, die als Fotografinnen und Journalistinnen tätig waren und auch die Gefechte zwischen indischen Soldaten und Rebellen dokumentierten. Ich wurde von den Leuten in den Dörfern angestarrt und habe am Anfang so getan, als verstände ich den lokalen Dialekt nicht und käme von woanders, um in Ruhe arbeiten zu können und nicht so viele Fragen beantworten zu müssen. Aber besonders hart war es, diesen Weg gegen den Willen meiner Eltern zu gehen.

Warum wollten Ihre Eltern Sie daran hindern?

Zahra: Ich stamme aus einer konservativen Familie, meine Mutter wollte mich lieber verheiratet sehen. Wenn überhaupt, sollte ich Medizin studieren. Journalistin zu sein, das ist für sie viel zu gefährlich. Ich habe heimlich Bücher über Fotografie gelesen und vom Aufnahmetest an der Uni habe ich ihnen auch nichts erzählt. Zum Glück hatte ich einen Professor, der zu uns nach Hause gekommen ist und versucht hat, meine Eltern umzustimmen. Es hat trotzdem Jahre gedauert, bis sie meine Arbeit akzeptiert haben.

Immer wieder hat sich meine Mutter beklagt, es sei zu gefährlich, und mein Bruder hat sich beschwert, Journalismus sei kein ehrbarer Beruf für eine Frau, weil ich nach Anbruch der Dunkelheit noch draußen unterwegs war. Mehr als ein Mal haben meine Eltern mir meine Kamera und meinen Laptop weggenommen. Einmal haben wir uns so gestritten, dass ich mitten in der Nacht von Zuhause weggelaufen bin, barfuß wie ich war. Ich bin für einige Zeit bei einer Tante untergekommen. Und habe danach einfach weiter gemacht.

Proteste in Kaschmir; Foto: Masrat Zahra
Proteste in Kaschmir gegen die indische Besatzung. Ein Foto von Masrat Zahra, Kaschmirs erster Fotojournalistin, die in ihrer Arbeit mit erheblichen Widerständen konfrontiert ist. "Ich musste eine gläserne Decke durchbrechen, als ich 2016 mit der Arbeit begann,“ sagt Zahra. "Es gab keine Frauen in Kaschmir, die als Fotografinnen und Journalistinnen tätig waren und auch die Gefechte zwischen indischen Soldaten und Rebellen dokumentierten. Ich wurde von den Leuten in den Dörfern angestarrt und habe am Anfang so getan, als verstände ich den lokalen Dialekt nicht und käme von woanders, um in Ruhe arbeiten zu können und nicht so viele Fragen beantworten zu müssen. Aber besonders hart war es, diesen Weg gegen den Willen meiner Eltern zu gehen.“

Hausarrest für das ganze Volk

Im August 2019 hob die indische Regierung den bis dahin geltenden Autonomiestatus der Region auf und schnitt Kaschmir ein Dreivierteljahr lang von der Außenwelt ab. Wie war das Leben für Sie während des monatelangen Lockdowns?

Zahra: Es war ein Hausarrest für das ganze Volk. Ein totaler Blackout: Kein Telefonnetz, kein Fernsehen, kein Internet – acht Monate lang. Können Sie sich vorstellen, was das für mich als Journalistin bedeutet hat? Wir wussten ja noch nicht mal, wo die nächste Demonstration stattfinden würde, es war Zufall, davon zu erfahren. Die Informationen wurden mündlich weitergegeben, eine andere Möglichkeit gab es nicht. Die indische Regierung hat zwar ein Medienzentrum aufgebaut, aber da gab es bloß vier Computer für alle Journalisten aus ganz Kaschmir.

Einer war für die indische Regierungspropaganda bestimmt, zwei für männliche Journalisten und ein einziger für Journalistinnen. Wir hatten pro Person nur 15 Minuten Zeit am Tag, um Mails zu checken und Artikel oder Fotos an Redaktionen zu übermitteln. Täglich standen wir in langen Schlangen vor dem Gebäude an, bei jedem Wetter. Und da auch der öffentliche Nahverkehr zum Teil lahmgelegt war, mussten alle, die kein Motorrad oder Moped besaßen, dorthin laufen.

Sie haben ein Jahr lang mit einem Stipendium der "Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte“ in Hamburg gelebt. Was hat Sie in Deutschland am meisten überrascht?

Zahra: Ungewohnt für mich war, dass man keine Soldaten in den Straßen sieht. Kaschmir ist die am stärksten militarisierte Region der Welt: Bei uns kommt auf sieben Menschen ein Soldat mit Waffe. Als Kind habe ich die Gewehrläufe der Soldaten angefasst und erst später begriffen, wie gefährlich das war. Bevor ich nach Deutschland kam, kannte ich nur dieses Leben, es war normal für mich. Ich war nie zuvor außerhalb von Kaschmir und Indien gewesen.

In Deutschland kannst du durch die Straßen gehen und frei atmen, ohne Angst haben zu müssen. In Hamburg habe ich einmal mein Fahrrad falsch abgestellt und musste zur Polizei, um es abzuholen. Ich war wirklich nervös. Aber sie waren freundlich und höflich, haben mich angelächelt und mir sogar einen Sitzplatz angeboten. Ich musste meinen Ausweis vorzeigen und dann hatte ich mein Fahrrad wieder.

Während Ihrer Zeit in Hamburg haben Sie Bilder ausgestellt und von dem Leid in Kaschmir berichtet…

Zahra: Ja, ich hatte zum Beispiel eine Ausstellung in der Bucerius Law School in Hamburg und war zur Eröffnung dort. Am selben Tag hat die Polizei in Kaschmir ein Auto angehalten und drei junge Männer, die darin saßen, erschossen. Sie waren unbewaffnet. So etwas passiert fast jeden Tag, ich bekomme die Nachrichten, Fotos und Videos über Twitter und Instagram geschickt. Ein ganzes Volk ist traumatisiert – aber die Welt interessiert das einfach nicht. Ihr Deutschen kennt Kaschmirwolle, aber vom Kaschmir-Konflikt wisst ihr nichts.

Schwierige Zeiten für Journalisten in Kaschmit; Foto: Masrat Zahra
Schwierige Zeiten für Journalisten in Kaschmir. Immer wieder werden sie in ihrer Arbeit behindert. "Ich poste meine Fotos auch in den sozialen Netzwerken, damit die ganze Welt sie sehen kann“, sagt Masrat Zahra. "Das gefällt den Indern nicht. Sie wollen uns Journalisten zum Schweigen bringen, damit niemand mehr über die Gräueltaten berichtet, die tagtäglich in Kaschmir geschehen. Wer auf Twitter aktiv ist, wird ganz genau beobachtet. Im April 2020 erhielt ich eine Vorladung der Polizei. Sie sagten mir, ich solle aufhören, meine Fotos online zu stellen. Ich habe genickt – und am nächsten Tag weiter gemacht. Ich wollte mich nicht einschüchtern lassen.“

"Es gab eine Phase, wo ich aufhören wollte"

Wegen Ihrer Arbeit sind Sie vor zwei Jahren beinahe im Gefängnis gelandet. Wie kam das?

Zahra: Ich poste meine Fotos auch in den sozialen Netzwerken, damit die ganze Welt sie sehen kann. Das gefällt den Indern nicht. Sie wollen uns Journalisten zum Schweigen bringen, damit niemand mehr über die Gräueltaten berichtet, die tagtäglich in Kaschmir geschehen. Wer auf Twitter aktiv ist, wird ganz genau beobachtet. Im April 2020 erhielt ich eine Vorladung der Polizei. Sie sagten mir, ich solle aufhören, meine Fotos online zu stellen. Ich habe genickt – und am nächsten Tag weiter gemacht. Ich wollte mich nicht einschüchtern lassen.

Daraufhin tauchte Ihr Name auf einer Liste auf, die normalerweise Terroristen aufführt…

Zahra: Ja, die indische Regierung hat behauptet, ich würde mit meinen Bildern gegen die indische Souveränität und Integrität verstoßen – laut dem Unlawful Activities Prevention Act stehen darauf mehrere Jahre Haft. Ich musste wieder zur Polizei, und als ich mich von meiner Mutter verabschiedete, habe ich sie umarmt und "bis bald“ gesagt – ich habe ihr nicht erzählt, wohin ich gehe. Ich musste mich sehr zusammenreißen, um nicht zu weinen, denn ich habe gedacht, dass ich sie nie wieder sehen würde. Ich war sicher, dass sie mich verhaften würden. Ich hatte solche Angst.

Was ist dann passiert?

Zahra: Der Journalistenverband meiner Heimat hat mich unterstützt, bei Twitter hatte ich plötzlich 24.000 neue Follower. So ist auch Amnesty International auf mich aufmerksam geworden und hat sich für mich eingesetzt. Wenige Wochen später wurde ich für den Anja-Niedringhaus-Preis nominiert (Anm. der Redaktion: Eine Auszeichnung für mutige Fotojournalistinnen), den ich 2020 auch bekommen habe. Die internationale Öffentlichkeit hat mir geholfen, dass die indische Regierung die Anklage fallengelassen hat. Da haben auch meine Eltern endlich verstanden, dass wichtig ist, was ich mache. In dieser Zeit hat meine Mutter zu mir gesagt: "Du bist nicht mehr meine Tochter. Du bist jetzt die Tochter ganz Kaschmirs.“

Trotzdem ist es nach wie vor gefährlich für Sie. Haben Sie je überlegt, aufzuhören?

Zahra: Ja, es gab so eine Phase. Denn meine Familie und ich sind Schiiten und gehören damit zu einer Minderheit, die meisten in Kaschmir sind Sunniten. Die indische Regierung hat das Gerücht gestreut, die Schiiten seien gegen den Freiheitskampf der Kaschmiris. Da entstand das Gerücht, ich sei eine Informantin der indischen Polizei und ich habe schlimme Drohungen von ganz normalen Leuten erhalten, vor allem übers Internet. "Du wirst vergewaltigt werden. Du bist eine Hure. Das Haus deiner Familie wird brennen“ - so etwas.

Das war traumatisierend für mich und ein Punkt, an dem ich überlegt habe, aufzuhören. Mein Bruder hat mich unterstützt und ist mit mir zur Polizei gegangen, damit ich eine Anzeige aufgeben kann. Aber ich habe sie letztlich zurückgezogen, weil ich weiß, was sie in den Gefängnissen mit den Leuten machen. Sie werden schwer misshandelt. Und ich dachte mir: Wenn dieser Mann ins Gefängnis kommt, sitzt zuhause eine Mutter, die um ihn weint.

Indische Soldaten in Kaschmir; Foto: AFP/R.Bakshi
Die am stärksten militarisierte Region der Welt: "Bei uns kommt auf sieben Menschen ein Soldat mit Waffe,“ sagt Masrat Zahra. Ihr kam das normal vor, bis sie bei einem Besuch in Hamburg merkte, dass in Deutschland keine Soldaten auf den Straßen zu sehen sind. Seit der im Sommer 2019 von Indien und Pakistan verkündeten Waffenruhe habe sich die Situation für die Zivilbevölkerung weiter verschlechtert. "Auch vor 2019 haben die Besatzer (Anm. der Redaktion: gemeint sind indische Soldaten) Menschen umgebracht, aber die Familien konnten die Toten wenigstens würdevoll beerdigen. Heute bekommen die Hinterbliebenen noch nicht einmal die Leichen ausgehändigt.“

Keine Entspannung für Kaschmir

Im März vergangenen Jahres verkündeten Indien und Pakistan überraschend eine Waffenruhe. Ist damit eine Phase der Entspannung eingetreten?

Zahra: Überhaupt nicht! Seit Sommer 2019 hat sich die Situation für die Kaschmiris verschlechtert. Fast täglich werden Menschen von den indischen Soldaten entführt oder willkürlich erschossen. Immer mehr Journalisten und Menschenrechtsaktivisten werden inhaftiert, so wie ein Bekannter von mir, Khurram Parvez. Ich werde ihn wohl nie wiedersehen. Schon vor 2019 war der Alltag von uns Kaschmiris von Terror geprägt. Aber jetzt hat der Konflikt ein Niveau erreicht, bei dem es nicht mehr um Gerechtigkeit geht.

Es geht nur noch darum, wenigstens die Leichen geliebter Menschen zu erhalten. Auch vor 2019 haben die Besatzer (Anm. der Redaktion: gemeint sind indische Soldaten) Menschen umgebracht, aber die Familien konnten die Toten wenigstens würdevoll beerdigen. Heute bekommen die Hinterbliebenen noch nicht einmal die Leichen ausgehändigt.

Sie sprechen viel über Indien, aber welche Rolle spielt Pakistan?

Zahra: Darüber möchte ich nicht reden. Ja, ich erhalte auch von pakistanischer Seite Drohungen. Auf dem social-media-Profil einer pakistanischen Terrorgruppe tauchte ein Foto von mir auf, zusammen mit einer Morddrohung. Aber die Islamisten haben mich wissen lassen, dass das ein Fake sei. Sie haben gesagt, es ist vermutlich eine Aktion der indischen Regierung, die diese den Pakistanis in die Schuhe schieben will. Sie haben gesagt, ich soll auf mich aufpassen.

Die indische Polizei hat Ihnen Personenschutz angeboten...

Zahra: … den ich abgelehnt habe. Ich lebe auf einem Minenfeld, indische Bodyguards würden nur meine Unabhängigkeit infrage stellen. Dann würden alle denken, ich sei aufseiten Indiens.

Was muss Ihrer Meinung nach geschehen, damit sich die politische Lage verbessert?

Zahra: Die internationale Gemeinschaft muss mehr Druck auf die indische Regierung ausüben, damit die Menschenrechtsverletzungen gegen uns Kaschmiris aufhören. Es sollte endlich ein Referendum stattfinden, wie es uns von den Vereinten Nationen versprochen wurde. Wir warten seit über 70 Jahren darauf. Wir fordern unser Recht auf Selbstbestimmung. Es geht uns nicht nur um das Land. Es geht um Identität. Ich habe einen indischen Pass, weil ich sonst staatenlos wäre, aber ich fühle mich nicht als Inderin – ich bin eine muslimische Kaschmiri. Ich träume von einem Kaschmir, das weder zu Indien noch zu Pakistan gehört, sondern unabhängig ist.

Das Gespräch führte Elisa Rheinheimer.

© Qantara.de 2022

Masrat Zahra ist Fotojournalistin im von Indien kontrollierten Kashmir. Für ihre Bilder über die Folgen des Konflikts insbesondere für Frauen und Kinder erhielt sie 2020 den “Anja Niedringhaus Courage in Photojournalism”- Preis der International Women’s Media Foundation und den “Peter Mackler Award” for Courageous and Ethical Journalism, ebenfalls in 2020. Ihre Arbeiten sind unter anderem in der Washington Post, bei Aljazeera und in The New Humanitarian erschienen.