Kayseri — Heimat der "islamischen Calvinisten"

Die türkische Stadt Kayseri ist zu einem der wirtschaftlichen Zentren des Landes geworden. Bemerkenswert daran ist, dass der wirtschaftliche Erfolg einhergeht mit der strikten Befolgung islamischer Prinzipien. Dorian Jones berichtet.

Die türkische Stadt Kayseri erlebt einen bemerkenswerten Wandlungsprozess. Im letzten Jahrzehnt wurde sie zu einem der wirtschaftlichen Zentren des Landes. Bemerkenswert daran aber ist vor allem, dass dieser wirtschaftliche Erfolg einhergeht mit der strikten Befolgung islamischer Prinzipien. Dorian Jones berichtet.

Ansicht der Stadt Kayseri; Foto: ESI
Die Religion spielt für die Menschen von Kayseri eine entscheidende Rolle, trotzdem verzeichnet die Stadt einen enormen Wirtschaftsboom.

​​Die Möbelfabrik Ipek schrieb eine der bekanntesten Erfolgsstories in der Stadt. Ihr Besitzer Saffet Arslan machte die klassische Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Karriere. Er begann als Lehrling bei einem Tischler und schuftete dort hart, bis er sich selbstständig machen konnte und Sofas verkaufte. Heute setzt er fast 100 Millionen Dollar im Jahr um; sein Konzern umfasst auch Einkaufszentren, Teppich- und Metallfabriken.

All dies aber änderte nichts an seinem Glauben, sagt Arslan heute. Im Gegenteil, sein Glaube sei es gewesen, der seinen Erfolg überhaupt erst möglich machte:

"Ich verstehe den Islam als eine Religion, die von den Menschen erwartet, demütig zu leben, keine Ungerechtigkeit zu dulden, aufrichtig und auch produktiv zu sein. Dies sind die Regeln, nach denen ich Geschäfte mache, und gleichzeitig auch die Gründe für meinen Erfolg. Der Islam sagt mir auch, dass der geschäftliche Erfolg niemals einen Wert an sich darstellt, sondern vielmehr das Mittel zu einem Zweck sein muss. Mein Erfolg bringt Wohlstand für die ganze Stadt. Dieser Philosophie folgen alle Geschäftsleute in Kayseri. Ich zum Beispiel habe zwei Schulen gebaut und ermögliche es mit Stipendien, dass 200 Kinder zur Schule gehen können."

Die Religion spielt eine ganz zentrale Rolle im Leben der Menschen von Kayseri. Die Stadt hatte schon immer den Ruf, sehr traditionell zu sein. Bis heute ist Alkohol nur in wenigen Lokalen zu bekommen. Doch während es in der Vergangenheit meist die säkulare Elite war, die die türkische Geschäftswelt prägte und die Religion außen vor ließ, ist es in Kayseri genau andersherum.

Die Kombination scheint zu funktionieren. Kayseri ist eine Boomstadt geworden: sie hält mit 190 an einem einzigen Tag gegründeten Unternehmen den Weltrekord. Außerdem beherbergt sie 50 der 500 reichsten Türken.

Zurschaustellung des Reichtums ist verpönt

All dies würde man nicht glauben, wenn man durch die Straßen der Stadt geht. Teure Autos sieht man nur wenige, denn die Zurschaustellung des Erfolgs gilt als unschicklich. Überhaupt herrscht eine Atmosphäre des Puritanismus in der Stadt. Nicht verwunderlich, glaubt man Gerald Knaus von der Europäischen Stabilitätsinitiative (ESI). Erst kürzlich verglich er die Einwohner Kayseris in einem Bericht mit den Calvinisten des 19. Jahrhunderts. Knaus widerspricht damit entschieden der verbreiteten Auffassung, dass Kapitalismus und Islam unvereinbar seien:

"Viele Menschen im Westen — und darunter sehr respektable Denker — glauben, dass der Islam eine fatalistische Religion sei, und nur zu einer Handelsökonomie, nicht aber zu einer produzierenden Ökonomie tauge. In Kayseri sehen wir nun, dass es gerade die Tugenden sind, die Max Weber bei den Calvinisten entdeckte — harte Arbeit, große Nüchternheit, Verzicht auf die Zurschaustellung von Reichtum — die man auch bei den Geschäftsleuten von Kayseri findet."

Harte Arbeit als Form religiöser Verehrung

Mustafa Boydak; Foto: Dorian Jones
"Der Islam lehrt uns Toleranz und Offenheit für neue Ideen. Beides sind wichtige Tugenden im Geschäftsleben", meint Mustafa Boydak.

​​Der Begriff "islamischer Calvinismus" sorgte in der Türkei für einige Aufregung und wurde von einigen Presseorganen heftig kritisiert. In Kayseri selbst aber scheint man damit sehr gut leben zu können. Mustafa Boydak beispielsweise, Vorsitzender der örtlichen Handelskammer und Chef eines der erfolgreichsten Unternehmen der Stadt, sieht ebenfalls Parallelen zu den Puritanern des 19. Jahrhunderts:

"Im Calvinismus fand sich die Überzeugung, dass harte Arbeit eine Form der religiösen Verehrung ist; darin können sich viele Menschen in Kayseri wiederfinden. Der Islam lehrt uns Toleranz und Offenheit für neue Ideen. Beides sind wichtige Tugenden im Geschäftsleben. Das Christentum teilt dieses Ideal, was einen großen Einfluss auf uns hatte. Über Jahrhunderte lebten hier viele griechische Christen und Armenier. Sie waren geschäftlich sehr aktiv und prägten sicher auch unsere Vorstellungen und Ideale."

Erfolgreiche Geschäftsfrauen

Welche Rolle spielen aber die Frauen innerhalb dieser "islamisch-calvinistischen" Welt? Safak Ciftci gehört zu der wachsenden Zahl von Geschäftsfrauen, die Teil haben am Boom. Auch wenn sie einräumt, dass die Stadt nach wie vor als konservativ zu bezeichnen ist, berührt dies in keiner Weise ihr Leben als Unternehmerin:

"Niemand sagt zu mir: Ich mache keine Geschäfte mit dir, weil du eine Frau bist. Ja, es kann mal vorkommen, dass einem jemand die Hand nicht schütteln will, aber wenn schon, ich muss ja auch nicht jedem die Hand geben."

Ciftci zufolge gibt es mindestens 80 Frauen in Kayseri, denen entweder ein Unternehmen gehört oder die hohe Managementpositionen in einer der Firmen innehaben, die im gleichen Industriepark liegen wie ihr eigenes Unternehmen. Ihr Erfolg und die offensichtliche Akzeptanz in einer einstmals rein männlichen Domäne zeugen vom tiefen Wandel, den Kayseri noch immer erlebt. Knaus sagt, dass das Experiment von Kayseri weit reichende Konsequenzen haben kann:

"Die Türkei ist möglicherweise eine Anregung für andere islamische Länder, doch ist einzuräumen, dass eine einfache Übertragung sicher unwahrscheinlich ist, ohne die politische und ökonomische Freiheit, die dies alles erst ermöglichte. Ein bisschen ist es wie die Frage, ob zuerst das Huhn oder das Ei da war."

Dorian Jones

Aus dem Englischen von Daniel Kiecol

© Qantara.de 2007

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