Kinder auf der Flucht

Im Konflikt zwischen der radikal-islamischen Fatah al Islam und der libanesischen Armee um das Flüchtlingslager Nahr el Bared sind vor allem Kinder die Leidtragenden des Krieges, wie Christina Förch berichtet.

Im Konflikt zwischen der radikal-islamischen Fatah al Islam und der libanesischen Armee um das Flüchtlingslager Nahr el Bared sind vor allem Kinder die Leidtragenden des Krieges, wie Christina Förch am Beispiel des Sozialzentrums der libanesisch-palästinensischen Organisation "Bait Atfal Assumoud" berichtet.

Kinder aus dem palästinensischen Flüchtlinglager Nahr el Bared im Libanon; Foto: Christina Förch
Viele Kinder mussten nach den schweren Gefechten in Nahr el Bared in ein benachbartes Flüchtlingslager fliehen.

​​Der 20. Mai 2007 war wieder ein schwarzer Tag in der tragischen Geschichte der palästinensischen Flüchtlinge: Die Terrorgruppe Fatah al Islam, die im Flüchtlingslager Nahr el Bared im Nordlibanon Unterschlupf gefunden hatte und dort Söldner aus verschiedenen arabischen Ländern trainierte, attackierte die libanesische Armee aus dem Hinterhalt.

27 libanesische Soldaten wurden bereits am ersten Tag der Kämpfe getötet.

Wenig später bombardierte die libanesische Armee Stellungen der Fatah al Islam im Flüchtlingslager. Die Terroristen hatten sich auch in Wohnhäusern verschanzt, Bomben der Armee trafen Häuser und gemeinnützige Einrichtungen.

NGOs unter Beschuss

Darunter befand sich auch das Sozialzentrum der libanesisch-palästinensischen Organisation "The National Institution of Social Care and Vocational Training" (NISCVT; ehemals: "Bait Atfal Assumoud" - Haus der standhaften Kinder). In den ersten Tagen der Gefechte wurde das Zentrum zweimal getroffen und das dritte Stockwerk, in dem sich unter anderem eine Zahnarztpraxis befand, komplett zerstört.

Dabei wollte der deutsche Verein "Flüchtlingskinder im Libanon e.V.", der Projekte der libanesisch-palästinensischen Partnerorganisation NISCVT unterstützt, die Aufstockung des Sozialzentrums um eine weitere Etage finanzieren. Dort sollte ein Begegnungs- und Berufsbildungszentrum entstehen. Statt in die Zukunft zu investieren, müssen die Spendengelder nun für Reparaturarbeiten des beschädigten Gebäudes ausgegeben werden.

"Alle unsere Mitarbeiter sind wohlauf", berichtet Abdallah Baraki. "Unseren Kindern geht es den Umständen entsprechend gut." Baraki kommt aus Nahr el Bared und leitet dort die Organisation NISCVT.

Patenschaften aus Deutschland

Mit "unseren Kindern" meint er nicht seine leiblichen Kinder, sondern diejenigen, die sowohl von NISCVT als auch von dem deutschen Verein finanziell und sozial unterstützt werden.

Kinder im palästinensischen Flüchtlingslager Nordlibanons; Foto: Christina Förch
Deutsche Pateneltern ermöglichen eine qualifizierte Betreuung für die Flüchtlingskinder.

​​In Nahr el Bared haben Deutsche für insgesamt 14 Kinder aus bedürftigen Familien Patenschaften übernommen. Derzeit gibt es 96 Patenschaften, für 91 Kinder aus verschiedenen Lagern wird der Besuch eines Kindergartens bezahlt. Oft sind die Kinder Halbwaisen oder der Ernährer der Familie ist invalid und kann seine Familie nicht finanziell unterhalten.

Mit einem Monatsbeitrag bekommen diese Kinder eine regelmäßige finanzielle Unterstützung. Die Kleinsten unter ihnen bekommen täglich außer einer qualifizierten Kindergartenbetreuung auch ein Glas Milch.

Der Verein für Flüchtlingskinder finanziert teilweise die Gehälter der Sozialarbeiterinnen und der Kindergärtnerinnen und manchmal auch deren Ausbildungen. Das Projekt ist eines der vielen kleineren Projekte des deutschen Vereins.

"Es ist schon sehr beschämend, dass diese Flüchtlingskinder noch nicht einmal die Möglichkeit haben, ein Glas Milch am Tag zu erhalten, sofern sie nicht diesen Zuschuss aus Deutschland erhielten", empört sich einer der Wahlpaten des Vereins.

Ewig Flüchtling

Die Kinder trifft es wie immer am härtesten in bewaffneten Konflikten – wie die gegenwärtigen Auseinandersetzungen zwischen Fatah al Islam und der libanesischen Armee wieder einmal zeigen. Ahmed el Ali, ein 14-jähriger Junge, ist eines der Patenkinder. Der Halbwaise wurde zwei Tage nach dem Beginn der Kämpfe abermals zum Flüchtling. Zusammen mit seiner Mutter und seinen Geschwistern nutzten er sowie schätzungsweise 13.000 weitere Palästinenser eine Gefechtspause, um das eigene Zuhause zu verlassen.

Flüchtlinge in Nahr el Bared; Foto: AP
Auf der Flucht: Bewohner des palästinensischen Flüchtlingslagers Nahr el Bared im Nordlibanon.

​​Die meisten Flüchtlinge machten sich auf den Weg ins benachbarte Lager Baddawi, rund zwölf Kilometer von Nahr el Bared entfernt. In der Eile konnten sie nichts packen und kamen daher nur mit ihren Kleidern am Leibe dort an.

In Baddawi leben normalerweise 12.000 Flüchtlinge, nun hat sich die Einwohnerzahl mit der Ankunft der Nachbarn aus Nahr el Bared verdoppelt. Untergebracht sind sie in Schulen und Moscheen. Wer Verwandte und Freunde hat, ist dort untergekommen – so auch Abdallah.

"In der ersten Nacht waren wir 50 Personen in einer Zwei-Zimmer-Wohnung", erzählt er. Doch immerhin war er dort in Sicherheit. Sein Zuhause befindet sich am Rande von Nahr el Bared. Dort waren die Gefechte in den ersten Tagen am heftigsten.

"Ich konnte noch nicht einmal in den zweiten Stock laufen, um unser Geld und unsere Pässe zu holen", berichtet er. "Ob mich das Rote Kreuz nochmals dort hinfahren könnte, damit ich alles hole?" Doch im selben Augenblick zweifelt er an seiner Frage und fügt hinzu: "Ich glaube wohl kaum! Und was wird mit den Fotos meiner Kinder und all den anderen Dingen, die unersetzlich sind?"

Wie ihm geht es allen Flüchtlingen aus Nahr el Bared. Die Kinder wissen sehr wohl, warum sie hier sind. Sie hassen die Fatah al Islam, die sie für ihre Vertreibung verantwortlich machen. Aber sie stellen sich auch gegen die libanesische Armee, die ihre Häuser zerstört.

"Wir wollen wieder nach Hause", sagen viele Flüchtlingskinder – trotz der anhaltenden Kämpfe. Denn sie befürchten, dass sie nicht nur ihre Heimat Palästina für immer verloren haben, sondern nun auch ihr bescheidenes Zuhause im Flüchtlingslager.

Psychologische Hilfe für Traumaopfer

Trotz der traumatischen Erfahrungen des Beschusses und der Flucht stand Abdallah am nächsten Tag im Büro von NISCVT in Baddawi, trommelte seine eigenen Mitarbeiter, die Kollegen aus Baddawi sowie Freiwillige zusammen und begann, die Unterbringung und Verpflegung der Flüchtlinge zu organisieren – vor allem die Betreuung der Kinder – nach dem Motto: Wer arbeitet und sich engagiert, hat keine Zeit, depressiv zu werden.

Doch die meisten palästinensischen Flüchtlinge aus Nahr el Bared, die nun abermals zu Flüchtlingen wurden, sind traumatisiert. "Sie leiden unter Stress, Depressionen, Schock", erklärt Abdallah. "Manche glauben noch immer, sie seien in Nahr el Bared."

Die psychologische und psychatrische Betreuung dieser Menschen – und besonders auch der Kinder – ist demnach eine der dringendsten Hilfsmaßnahmen, die NISCVT organisiert.

Zerstörtes Haus in Nahr el Bared; Foto: AP
Bild der Zerstörung - ein Haus wird von der libanesischen Armee beschossen, in dem sich ein Heckenschütze der Fatah al-Islam verschanzt haben soll.

​​"Die Kinder sollen über ihre Erfahrungen sprechen", erläutert die Sozialarbeiterin Abir. "Oder sie sollen sie malen." Sie brauchen ein Ventil, sie sollen das Erlebte verarbeiten. "Viele der Kinder hier sind aggressiv", erzählt sie. "Dem müssen wir etwas entgegensetzen."

Sie sollen daher Fußball spielen, sich austoben, rauskommen aus den Notunterkünften und aus dem Lager, raus in die wunderschöne Natur, die sowohl Baddawi als auch Nahr el Bared umgibt. Sobald die Nothilfe organisiert ist, wollen sich Abir und die anderen Mitarbeiter um diese Dinge kümmern.

Derweil sind die Pateneltern in Deutschland sehr besorgt, fragen nach ihren Schützlingen aus Nahr el Bared – fast täglich gehen Anfragen in der Zentrale in Beirut ein: "Wir gehen davon aus, dass alle Patenkinder mit ihren Familien hier in Baddawi sind. Doch die Lage ist noch zu unübersichtlich, um genau zu wissen, wo sie untergekommen sind", erläutert Abdallah.

Ein schwacher Trost für die fernen Wahlverwandten in Deutschland. Doch außer der Nothilfe, die der deutsche Verein jetzt für die Kinder aus Nahr el Bared leistet und der individuellen finanziellen Unterstützung für diese Familien, ist der moralische Rückhalt extrem wichtig – damit sie wissen, dass sie nicht vergessen werden.

"Wir bekommen viele E-Mails und Briefe von Unterstützern aus Deutschland", sagt Kassem Aina, Leiter der Organisation in Beirut. "Und wir leiten sie natürlich an die Sozialarbeiterinnen und die Kinder weiter."

Und was ist mit Ahmed el Ali? "Ich habe seine Mutter in Baddawi gesehen", erinnert sich Abdallah. Ein schwacher Trost. "Ich glaube, Ahmad und seine Familie sind wohlauf."

Christina Förch

© Qantara.de 2007

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