Wird der Libanon von seiner Vergangenheit eingeholt?

Seit dem jüngsten Gewaltausbruch wird der Libanon von der Angst vor einem neuen Bürgerkrieg heimgesucht. Der Schriftsteller und Feuilletonchef der Tageszeitung "Al-Mustaqbal", Hassan Dawud, berichtet.

Seit dem jüngsten Gewaltausbruch wird Libanon von der Angst vor einem neuen Bürgerkrieg heimgesucht. Der Schriftsteller Hassan Dawud ist als Feuilletonchef bei der Tageszeitung "Al-Mustaqbal" tätig, deren Redaktionsgebäude in Brand gesteckt wurde. Auf der Flucht ist der folgende Beitrag entstanden.

Hizbollah-Anhänger mit brennenden Reifen vor Plakat mit Hassan Nasrallah; Foto: AP
"Alles wie gehabt: Die Kämpfe haben den Straßen wieder jenes Aussehen verliehen, das wir aus Kriegszeiten kennen", schreibt Hassan Dawud.

​​Diesen Tag kennen wir. Wir haben ihn schon einmal erlebt. Ich meine den Tag, der mehrere Tage dauert. Aber unsere Sprache, die arabische, belässt es beim Singular und sagt "der Tag des Unglücks", um etwas zu bezeichnen, das auch länger dauern und zu einer ganzen Epoche werden kann.

Das hat mich einst wirklich überrascht, als mir bei der Lektüre des im 13. Jahrhundert von Ibn Mansur kompilierten grossen Wörterbuchs, "Lisan al-Arab", deutlich wurde, wie in unserer Sprache alle Zeitangaben auf Zerstörung verweisen.

"Zu ihnen kam das Jahr" heisst: Sie erlebten Trockenheit und Dürre. Und wenn "die Stunde kommt", heisst das: Das Ende des Lebens steht bevor.

In Beirut erleben wir gerade solche Wörterbuchtage. Mit derselben Sorge wie einst die Stämme, die einem Überfall entgegensahen, schauen wir auf das, was kommen wird.

"Krieg der beiden Standarten"

Wenn ich an die dreiunddreissig Jahre zurückdenke, die seit dem Beginn des libanesischen Bürgerkriegs verstrichen sind, habe ich den Eindruck, kriegerische Handlungen erlebt zu haben wie kein Beduine zu Ibn Mansurs Zeit.

Bewaffneter der Amal-Miliz in Beirut; Foto: AP
Reminiszenzen an die Zeiten des Krieges - Bewaffneter der Amal-Miliz nach der Eroberung West-Beiruts

​​Es war ein Leben, das zur einen Hälfte aus Krieg, zur anderen aus dem Warten auf die Rückkehr des Krieges bestand. Und einen "Tag" wie diesen – ich meine den 7., 8., 9. und 10. des gegenwärtigen Mai – habe ich schon mehrfach mitgemacht.

Nichts daran ist anders als an den früheren Tagen dieser Art, beispielsweise 1982, 1984 und 1987 ebenso wie damals, als man vom "Krieg der beiden Standarten" oder vom "Schwarzen Samstag" 1976 sprach und von der Rückeroberung Beiruts aus den Händen derer, die die Stadt zuvor an sich gerissen hatten.

Neue Kämpfe, alte Ängste

Nichts hat sich in diesem jüngsten Krieg geändert, ich meine, was mich angeht. Die Strasse unten vor dem Haus ist wie in allen vorangegangenen Kriegen. Ich stehe hinter dem Fenster und stelle fest, dass ich mich wieder genauso vor den aufheulenden Geschossen fürchte, die den Kugelhagel krönen.

Ich stelle fest, dass ich Angst habe, dass sich jener Lärm nähert, unsere Strasse erreicht, und dann die Kämpfer ins Haus kommen, bis hinauf in unsere Wohnungen, um jeden, der die Tür öffnet, zu fragen: "Schiit oder Sunnit?" Genau wie sie früher fragten: "Muslim oder Christ?"

Alles ist wie gehabt. Alles bleibt wie gehabt. Seit eh und je und immerdar. Die neuen Milizionäre sind die gleichen wie ihre Vorgänger vor zwanzig oder fünfundzwanzig Jahren, vermummt oder unvermummt.

Dann gibt es die Strassen, auf denen wir, wenn wir die Gelegenheit zur Flucht haben, das Auto allein denken lassen, welche Abzweigungen es nehmen will. Allein erschnüffelt es den Weg, wie ein Stück Vieh die Gefahr wittert. Die Kämpfe haben den Strassen wieder jenes Aussehen verliehen, das wir aus Kriegszeiten kennen.

Mitten im Krieg

In einem einzigen Tag häuften sich die Abfälle eines Monats: die Wracks verbrannter Autos, die zu Schichten von Asche geworden sind. Müll von den Kehrichtdeponien, als Barrikade auf die Strasse gezerrt und in Brand gesteckt, der Sand, den die Milizionäre auf schwerbeladenen Lastern heranschafften, die Schreibtische und Stühle aus Holz und die Sofas – besonders geschätzt wegen des leicht brennbaren Schaumgummis –, die aus den Häusern geholt wurden.

Ausgebrannte Autos in den Straßen Beiruts; Foto: AP
Krieg binnen eines Tages - ausgebrannte Autos in den Straßen Beiruts

​​Innerhalb eines einzigen Tages konnten die Bewaffneten in den Strassen die Leute in den Krieg zurückversetzen; nicht zum Kriegsbeginn, nein, mitten in den Krieg, auf den Höhepunkt des Krieges. An einem einzigen Tag, ja, in einer einzigen Stunde. Es ist, wie wenn man in eine andere Zeitzone reist und bei der Ankunft einfach seine Uhr umstellt.

Alles ist schon einmal da gewesen. Ich finde nichts Neues, was ich in der Zeitung schreiben könnte, um den 8. und 9. Mai zu schildern. Wie sollte ich auch, wo sich der Krieg doch nicht ändert?

"Du hast so etwas schon einmal geschrieben", sagte mir ein Kollege bei der Zeitung. Gerettet vor der Blamage beim libanesischen Publikum hat mich diesmal die Tatsache, dass der Artikel nicht publiziert wurde: Die Milizionäre hatten die Redaktion angezündet, bevor die Nummer erschien.

Mein Büro in der Redaktion ist ausgebrannt, und während ich mit meiner Familie im Auto herumfahre, in das wir alles für eine zweiwöchige Flucht Notwendige gepackt haben, zähle ich im Kopf die Dinge zusammen, die in den Schubladen des Tisches, auf den Regalen und in den Schrankfächern zurückgeblieben sind. Damit lenke ich mich ab. Es ist bedeutungslos wie eine Additionsübung mit den Fingern.

Immer weiter fliehen

Wichtig ist: Wir fliehen, wir fliehen immer weiter. Als wir aus dem Autoradio erfuhren, die Kriegshandlungen verschöben sich ins Gebirge, fuhren wir wieder talwärts. Auch der Norden war nicht mehr sicher, nachdem dort am Vortag vierzehn Männer umgebracht worden waren.

Die Bekaa-Ebene war abgeriegelt, und die Bewaffneten hatten begonnen, sich an den Strassen zu postieren. Doch auch die Rückkehr nach Beirut war gefährlich, nachdem man dort mehrere Personen umgebracht hatte, die einen Toten zu Grabe trugen.

Der Krieg sei wie eine gebärfreudige Frau, sagte der Dichter Suhair Ibn Abi Salma vor 1500 Jahren, er bringe aber immer Zwillinge zur Welt. "Die Nachrichten . . . wo sind die Nachrichten?", fragt meine Frau, während sie von einem Radiosender zum anderen schaltet, um zu erfahren, wohin wir gehen können, wohin das Auto uns bringen soll.

Schnell wird der Krieg nicht zu Ende sein, denn die in Beirut Getöteten wird man in Tripoli rächen, auch in Akkar. Und das wird aufs Neue den Brand in Beirut entfachen.

Hassan Dawud

© Neue Zürcher Zeitung 2008

Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich

Qantara.de

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