Lackmustest für den Dialog der Kulturen

Beim 2. Kabuler Theaterfestival, das vor kurzem zu Ende ging, durften Romeo und Julia nur Händchenhalten – eine Adaption an afghanische Verhältnisse. Martin Gerner hat die Vorstellung in Kabul besucht.

​​Kabul erlebte vor kurzem eine Premiere der besonderen Art: Romeo und Julia als Inszenierung eines Inzests. In unseren Breitengraden wäre eine solche Variante von Shakespeares berühmter Tragödie gerade publikumswirksam genug um neue Zuschauer zu locken.

In Afghanistan ist der vermeintliche Tabu-Bruch schlichtweg Notwendigkeit: Romeo, wie er in Kabul auf der Bühne steht, ist ein schwarzhaariger junger Mann, kaum älter als zwanzig Jahre und Julia seine leibliche Schwester. "Alles andere hätte zum Abbruch der Proben geführt und wäre hier nicht vermittelbar gewesen", deutet Maurice Durozier, Regisseur vom Pariser "Theatre du Soleil" die kulturelle Gradwanderung an.

Handkuss als Höhepunkt einer Liebesaffäre

Kurzes Händehalten und ein Handkuss sind die Höhepunkte der leidenschaftlichen Liebesaffäre und zugleich Adaptation an die afghanischen Verhältnisse. Romeo schmachtet auf dem Kabuler Theaterfestival nicht sehnsüchtig zum Fenster von Julia hinauf. Die Angebetete selbst schaut von keinem Balkon, sondern kniet auf einem erhöhten Tisch, verdeckt durch ein Stofftuch, das sie wie einen Küchenvorhang beiseite schiebt.

Julia - Version Kabul - trägt kein Kopftuch und bleibt als Artgenossin ihresgleichen weitgehend allein in dem Stück: die übrigen weiblichen Rollen auf der Bühne werden von Männern gespielt. Das hat Tradition in Afghanistan. Die gesellschaftliche Stigmatisierung gegenüber Darstellerinnen ist derart, dass eine einzige Theaterrolle ausreichen kann, eine Akteurin lebenslang in Verruf geraten zu lassen.

Konfessions- statt Familienfehde

In Shakespeares Original ist Julia mit 14 Jahren eine Minderjährige. Die Hälfte der Frauen in Afghanistan waren in diesem Alter bereits (zwangs-)verheiratet. Die Familienfehde zwischen den beiden Veroneser Familien findet ihre afghanische Parallele in ethnischen Grabenkämpfen oder in religiösen: die Liebe zwischen jungen Schiiten und Sunniten hat es mitunter schwer. Selbstmord ist keine Seltenheit.

Und doch ist die Aufführung Fortschritt und Lackmustest im Dialog der Kulturen: Regisseurin Ariane Minouchkine und Maurice Durozier haben in ihrem Pariser "Theatre du Soleil" eine Schar talentierter, noch ungeschliffener afghanischer Darsteller versammelt, die auf ihre Art komisches und tragisches Potential der Geschichte erfrischend verschmelzen.

Dass die Proben ein Marathon an Initiierung in diesem "Land ohne Theater" (Maurice Durozier) waren, versteht sich von selbst. Für den Franziskanermönch Lorenzo, der im Stück Romeo und Julia in Eile traut, wurde in Kabul auf Umwegen eine Besetzung gefunden. Ein erster Darsteller sprang wieder ab, ihn plagten Skrupel ob der Bekreuzigung, die er vor heimischem Publikum durchführen sollte. Der Gedanke wurde verworfen. In der Endversion faltet Lorenzo schlicht die Hände zum Gebet.

Antasten von Grenzen statt Provokation

Wer bei den Proben dabei war, mag Maurice Durozier, der inszeniert, Provokation nicht unterstellen. Zu sehr hat das "Theatre du Soleil" mit seinem jüngsten Stück "Die letzte Karawanserei" seinen kosmopolitischen Ansatz bewiesen. Das Kabuler Festival zeigt das Antasten von Grenzen, weniger kalkulierte Grenzüberschreitungen.

Am "Dramatic Art Center" der Kabuler Fakultät für Höhere Künste ist zurzeit eine einzige Frau eingeschrieben, die als Darstellerin agiert. Immerhin begegnet man dort einem anderen Bild der Taliban-Zeit als es die gängigen Klischees verbreiten.

"Wir haben hier mit Zustimmung führender Taliban Stücke aufgeführt. Und die waren nicht einmal unkritisch", so Mahmood Salimi, Mitorganisator des Festivals. "Statt der befürchteten Schließung gaben sie uns Geld, wollten, dass wir weitermachen."

An die Öffentlichkeit gelangten die Aufführungen allerdings nicht. Was anfangs als erträgliche Nische erschien, wurde bald zur inneren Emigration wider Willen. Salimi flüchtete wie Millionen seiner Landsleute nach Pakistan und gründete das "Exile-Theater”. Zusammen mit dem US-amerikanischen "Bond-Street-Theater" bilden beide Ensembles eine von mehreren internationalen Koproduktionen des diesjährigen Festivals.

Keine Zensur

Anders als bei internationalen Filmfestivals in Kabul, unterliegt das Theaterfestival in seinem zweiten Jahr erneut keinerlei Zensur durch das Ministerium für Kultur. "Das hat Theater-Gruppen aus dem ganzen Land ermutigt gesellschaftskritische Themen aufzugreifen und mit jungen Frauen zu arbeiten. Diesmal sind sogar Darstellerinnen aus Kandahar dabei, der ehemaligen Taliban-Hochburg", so Julia Affifi.

Die Deutsch-Afghanin, die in Frankfurt Theaterregie studiert hat, ist als Co-Leiterin des Festivals treibende Kraft. Erstmals werden in diesem Jahr bester Autor, bester Schauspieler und bester Regisseur ausgelobt. "Das motiviert nicht nur", so Julia Affifi, "sondern steigert auch die Qualität und erhöht das Selbstbewusstsein der Darsteller".

Sich die Bühne als Raum für Individualität und Kreativität anzueignen, die eigene Freiheit zu probieren und auszuleben, fällt - nach Ansicht aller geladenen Regisseure - den afghanischen Schauspielern am Schwersten. "Improvisationen, bei denen Handlungen eingefroren und dann fortgesetzt werden, enden meist mit martialischen Ritualen", erzählt Joanna Sherman von ihren Workshop-Erfahrungen.

Trotzdem sind die afghanischen Darsteller eine Offenbarung in ihren Interpretation von Straßentheater und Comedia dell’Arte. Auf der Straße aber kann man in Kabul zurzeit nicht spielen. Aus Sicherheitsgründen. Geladen wird in Innenhöfe von Kulturzentren oder in die Ruine des alten Kabul Nandori Theaters. Die Festival-Ouvertüre fand dort zwischen ausgebombten Wänden und unter Sternenhimmel statt. Ein Wiederaufbau der Ruine ist vorerst nicht in Sicht.

Martin Gerner, Kabul

© Qantara.de 2005

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