Fehlender Reformwille

Der Aufbau eines demokratischen Rechtsstaates kommt in Libyen nur schleppend voran. Schuld daran sind unter anderem die fehlende Reform des Rechtswesens und die Selbstjustiz von bewaffneten Brigaden. Beat Stauffer informiert.

Rechtsanwalt Abdallah Banun kommt in Rage, wenn von den versprochenen Reformen des Justizsystems die Rede ist. "Nichts ist geschehen", sagt der angesehene Anwalt in seinem Büro in Tripolis. "Die Regierung hat nicht einmal erste, bescheidene Schritte unternommen."

Die dringend notwendige Säuberung des Justizsystems sei selbst in Ansätzen nicht erfolgt, sagt Banun. Und in den meisten Gerichten würden immer noch die alten Gaddafi-Richter sitzen.

Rechtsanwalt Banun spricht aus eigener Erfahrung. Der Richter, der den Sohn seiner Schwester aus politischen Gründen zum Tode verurteilt hatte, sei immer noch in Amt und Würden, sagt Banun verbittert. Dies sei absolut kein Einzelfall.

Banun führt dies auf zwei Gründe zurück. Zum einen fehle der libyschen Regierung unter Ministerpräsident Ali Zeidan der politische Wille zur Reform des Justizsystems. Zum andern funktioniere die Kommission, welche die Integrität von Justizbeamten überprüfen sollte, nur schlecht.

Milizen protestieren vor dem libyschen Justizministerium in Tripolis; Foto: Reuters
Der Druck der Straße: Anfang Mai wurde über eine Woche lang das Justizministerium in der Hauptstadt Tripolis von Milizen belagert. Sie forderten den Ausschluss von Unterstützern des früheren Machthabers Muammar al-Gaddafi aus dem Staatsdienst. Das libysche Parlament verabschiedete auf ihren Druck hin ein entsprechendes Gesetz.

​​Vielen Richtern und Staatsanwälten, die unter der jahrzehntelangen Herrschaft Gaddafis dienten, sei es gelungen, sich zu Unrecht als Revolutionäre auszugeben.

Gaddafi-Schergen in Amt und Würden

Die Integritätskommission könne oder wolle gegen diese Missbräuche respektive Falschaussagen nicht vorgehen. "Ich befürchte, dass am Schluss die wenigen integren Richter eliminiert werden und dass stattdessen die Gaddafi-Schergen ihre Posten behalten können", meint Banun verbittert.

Abdallah Banuns Aussagen haben Gewicht. Zum einen hat der Anwalt laut Gewährsleuten als Jurist einen ausgezeichneten Ruf. Zum andern hat sich Banun bereits im Februar 2011 auf die Seite der Aufständischen geschlagen und zusammen mit Mustafa Abdeljalil, dem nachmaligen Präsidenten des Nationalen Übergangsrates, im Komitee zur Befreiung von Tripolis mitgewirkt.

Im Frühjahr 2011 musste er nach Tunesien ins Exil flüchten, da er seines Lebens nicht mehr sicher war. Banun ist auch Vorsteher einer Sufi-Bruderschaft, der Zawia Kabira. In dieser Eigenschaft wurden er selber und seine drei Söhne im November letzten Jahres von salafistischen Milizen mit dem Tod bedroht, und das Mausoleum in der Altstadt von Tripolis wurde verwüstet.

Zu einer ganz ähnlichen Lagebeurteilung kommt auch Ahmed Shebani, der Gründer der "Demokratischen Partei Libyens". Der Ingenieur, der lange in Großbritannien sowie in anderen westlichen Ländern gelebt hat und dessen Familie ursprünglich aus Misrata stammt, sieht keine Anzeichen dafür, dass tatsächlich ein neues Justizsystem aufgebaut wird. Vielmehr würden zentrale Elemente des Unrechtsstaates auch im postrevolutionären Libyen weiter existieren.

Regelmäßig interveniere die Regierung in die gesetzgeberische Aktivität des Parlaments und missachte auch auf andere Weise das Grundprinzip der Gewaltenteilung. Shebani bemängelt zudem, dass die dringend notwendige Gründung einer Wahrheitsfindungs- und Versöhnungskommission bis jetzt nicht stattgefunden habe.

Verständnis für Selbstjustiz

Der jüngste Lagebericht der "International Crisis Group" zur Situation der Justiz in Libyen, der Mitte April veröffentlicht wurde, bestätigt diese individuellen Einschätzungen weitgehend. Angesichts der fehlenden Reformen und des Misstrauens dem libyschen Justizapparat gegenüber äußern auch manche demokratisch gesinnte Libyer ein gewisses Verständnis für die Selbstjustiz vieler Revolutionsbrigaden gegenüber echten oder vermeintlichen Gaddafi-Gefolgsleuten.

Dass Seif al-Islam al-Gaddafi immer noch unter der Kontrolle einer Brigade aus Zintan steht und nicht den Justizbehörden in Tripolis übergeben wurde, dürfte in Libyen überwiegend auf Zustimmung stoßen. Zu groß ist die Befürchtung, der Gaddafi-Kronprinz könnte in Tripolis von ehemaligen Gefolgsleuten befreit werden.

Seif al-Islam al-Gaddafi ; Foto: dapd
Juristisches Tauziehen um Diktatorensohn: Gegen den von einer Rebellen-Brigade in Zintan festgehaltenen Seif al-Islam al-Gaddafi hatte der Internationale Strafgerichtshof Haftbefehl erlassen. Seither verlangt das Gericht mehrfach die Auslieferung Gaddafis. Tripolis will dagegen, dass dem Sohn des Diktators der Prozess gemacht wird.

​​Diese Missstände in Libyen zu kritisieren, ist eine riskante Angelegenheit. Das musste unter anderen der Chefredakteur der Zeitung "Al-Umma", Amara Abdallah al-Khitabi, am eigenen Leib erfahren. Nach der Veröffentlichung einer Liste mit 87 korrupten Staatsanwälten und Richtern wurde er wegen "Beschimpfung und Verleumdung der Justiz" angeklagt und in Untersuchungshaft genommen.

Seit Januar 2013 sitzt al-Khitabi nun in einem Hochsicherheitsgefängnis. Sein Anwalt beklagt grobe Verfahrensmängel gegenüber seinem Mandanten. "Reporter ohne Grenzen", "Amnesty International" sowie "Human Rights Watch" fordern die unverzügliche Freilassung des Journalisten.

Neue Gesetze unter dem Druck der Straße

Säkulare und weltoffene Libyer sehen aber nicht nur in der fehlenden Reform des Justizapparats ein großes Problem. Auf zunehmende Ablehnung stößt auch das als arrogant empfundene Vorgehen mancher Brigaden, die sich als Kriegsherren gebärden und eigenmächtig Recht sprechen.

Er sei sehr besorgt über die Art und Weise, wie bestimmte Milizen die Macht an sich gerissen hätten und nun auf brachiale Art und Weise Druck ausübten, sagt Abdallah Banun. So hätten etwa salafistische Milizen damit gedroht, den neuen Religionsminister umzubringen, wenn er sein Amt antrete; dies, obwohl das Parlament dem Minister sein Vertrauen ausgesprochen hatte. Dies sei eine sehr gefährliche Entwicklung, sagt Banun. Doch die sogenannten Thuwar – die Revolutionäre – hörten nicht auf Juristen und andere Fachleute.

Seit Monaten üben bewaffneten Brigaden auch starken Druck auf das libysche Parlament aus, ein Gesetz zu verabschieden, das alle Funktionäre, welche dem Gaddafi-Regime in den letzten 30 Jahren gedient haben, zehn Jahre lang von allen öffentlichen Ämtern ausschließen soll. Sie umstellten wiederholt das Parlament und besetzten vorübergehend auch mehrere Ministerien.

Schwacher Staat mit fragilem Zentrum

Unter diesem massiven Druck stimmte der Nationalkongress schließlich dem so genannten Isolationsgesetz mit großer Mehrheit zu. Zwar ist zum heutigen Zeitpunkt noch offen, wie das Gesetz umgesetzt werden soll. Klar ist aber, dass bei einer strengen Umsetzung mehrere Minister und andere hohe Staatsfunktionäre ihre Stellen aufgeben müssten, so etwa auch Premierminister Ali Zeidan.

Der Umstand, dass bewaffnete Gruppen auf solche Weise Einfluss auf den Gesetzgebungsprozess des Parlaments nehmen, ist höchst problematisch. Dazu kommt, dass das nun verabschiedete Gesetz in höchst problematisch ist: Es sei diskriminierend, erhalte ungerechte Restriktionen und verletze internationale Menschenrechtsverpflichtungen, warnt etwa Human Rights Watch.

Der Aufbau eines demokratischen Rechtsstaats in Libyen wird zurzeit von mehreren Seiten gefährdet: Durch die ausstehende Reform der Justiz, aber auch durch das selbstherrliche Agieren der bewaffneten Brigaden, welche die Autorität des noch jungen Staates unterminieren.

"Wir haben heute einen schwachen Staat mit einem sehr fragilen Zentrum und einer starken Peripherie", meint Ahmed Shebani. Die Peripherie: Das seien die Brigaden, die von Kriegsherren angeführt werden. Sie hätten zurzeit die eigentliche Macht in den Händen. "Die heutige Regierung", sagt Shebani ernüchtert, "ist gegenüber den Milizen am kürzeren Hebel."

Beat Stauffer

© Qantara.de 2013

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de