Eine kleine Oase in Neukölln

Im Berliner Migrantenstadtteil Neukölln versuchen die Leiter des Jugendtreffs "Manege" mit Farben, Musik und Bewegung den Dialog zu fördern: Kinder und Jugendliche erschaffen dort ihre eigene, neue Kultur. Eine Reportage von Naima El Moussaoui

Im Berliner Migrantenstadtteil Neukölln versuchen die Leiter des Jugendtreffs "Manege" mit Farben, Musik und Bewegung den Dialog zu fördern: Kinder und Jugendliche erschaffen dort ihre eigene, neue Kultur. Naima El Moussaoui hat sich dort umgesehen.

Goldener Frosch am Eingang des Jugendtreffs Manege; Foto: Naima El Moussaoui
Integration, Unterhaltung und Hilfe für junge Migranten jenseits des Rütli-Schulen-Images: die "Manege" in Berlin-Neukölln

​​Vor dem Eingang blähen sich zwei riesengroße, gold-bronzene Frösche auf. Mit eindringlichem Blick mustern sie jeden Passanten. Doch sie lassen jeden vorbeiziehen. Vorbei zum knallig, blauroten Bauwerk, aus dessen Vorderfront Tiger mit fletschenden Zähnen durch Feuerringe springen, ein Gorilla seinen Kopf schiebt und das Maul aufreisst, ein Elefant klebt, der seinen langen Rüssel vergnügt in die Luft reckt. "Manege" prangt in leuchtenden Lettern an der Wand.

Sozialer Brennpunkt Berlin Neukölln, im Reuter-Kiez, Rütlistraße 1-3. So lautet die Adresse dieses Zauberhauses. Stahl, Polyester, Glasfaser und jede Menge Pappmaché haben diese Fassade entstehen lassen. Gleich gegenüber der grauen Rütli-Hauptschule - alias "Horror-Schule" der Bundesrepublik Deutschland - dort befindet sich der interkulturelle Jugendclub Manege.

Überall Farben, Mosaike und Graffiti an den Wänden, Tische und Stühle, eine kleine Theke, auf der Pflanzen und Blumen stehen. Dahinter die Küche. Es ist niemand da. Laute Musik tönt aus einer offenen Tür.

Hier haben sich alle versammelt: Eine große Halle, von deren Decke Pappmaché-Spinnen, Fische und Schimpansen baumeln. "Deutschland gegen Türkei", erklärt der kleine Momo, der eigentlich Mohammed heißt. Er spielt für die Türkei, sagt er. Momo ist Torwart. Der Torwart der deutschen Mannschaft ist ein kleines Mädchen, es trägt ein Kopftuch.

"Das machen doch nur Deutsche"

Osman El-Zein, im weißen T-Shirt und Jeans, läuft mit. "Schön, weiter, weiter. … So nicht Ahmed, nicht schupsen!" Er ist zugleich "Schiri", Trainer und Auswechselspieler beider Mannschaften. Der 20-Jährige ist schon als Jugendlicher in die Manege gekommen, inzwischen arbeitet er dort:

"Mit den Kindern machen wir zum Beispiel Hausaufgaben, kochen und helfen ihnen, wenn sie Probleme haben." Die meisten Kinder und Jugendlichen stammen wie er aus Migranten- oder sozial schwachen deutschen Familien, die in Neukölln leben. "Ich kann mich gut in ihre Lage versetzen und Ratschläge geben."

Kinder spielen Fußball; Foto: Naima El Moussaoui
Welche Mannschaft ist deutsch, welche türkisch? Dies ist für den Zuschauer nicht ersichtlich, weil in beiden etwa gleich viele deutsche wie türkische Kinder spielen.

​​Osman ist in der zwölften Klasse und macht sein Fachabitur in Sozialarbeit. Er müsse sich bald entscheiden, ob er Sozialpädagoge, Polizist oder Logopäde wird. Am liebsten würde er gern alles machen. Von seinen Freunden sei er der einzige, der einen Abschluss mache.

Manchmal würden sie "Streber" oder "Das machen doch nur Deutsche" sagen. "Die Manege war sehr wichtig für mein Leben", erklärt er. "Das ist nicht irgendein Jugendclub, sondern die Chefs, Martha und Wolfgang, kümmern sich um jeden einzelnen und wollen jeden dazu animieren, etwas aus seinem Leben zu machen."

Martha Galvis de Janzer, Fotografin, und ihr Mann Wolfgang Janzer, Literaturwissenschaftler und Publizist, gründeten 2002 den Jugendclub, der im Rahmen ihres Projekts "Fusion – Intercultural Projects Berlin" läuft. Das Projekt fördert Kinder und Jugendliche aus Berliner Problembezirken.

Die Zeit des globalisierten Kulturtypus

Wolfgang Janzer sitzt draußen im Garten, wie immer umkreist von Kindern. Mit seinen langen weißen Haaren, dem Vollbart und seinem Bäuchlein, das sich bewegt, wenn er lacht, sieht er aus wie eine Symbiose aus Weihnachtsmann, Papa-Schlumpf und einem Althippie.

"Diese Kinder kriegen zunehmend die Kompetenz sich in dieser hybriden kulturellen Form zu bewegen." Es sei wie ein Puzzle: "Man nimmt von hier, man nimmt von dort, baut das heute so, morgen so zusammen."

Seine Hände bauen das imaginäre Puzzle auf dem Tisch nach. Die Zeiten des "monokulturellen Menschen" seien bald vorbei, prophezeit er. "Nicht mehr: das ist der Türke, das ist der Deutsche, das ist der Araber – Wir bekommen einen neuen kulturellen Typus von Menschen, den globalisierten Kulturtypus."

Doch nach der multikulturellen Kompetenz fragt im echten Leben selten jemand, das weiß auch Janzer. Die Migranten-Kids in Neukölln "fingen nicht bei Null an, sondern bei Minus irgendwas."

Wer auf eine Schule mit über 90 Prozent Migrantenanteil gehe, so Janzer, habe nicht einmal mehr das Glück, benachteiligt zu werden. "Das sind Schulen, da geht man hin, weil es eine Schulpflicht gibt oder um Freunde zu treffen", erklärt er. "Man kann die Jugendlichen hier fragen, was sie sich vorstellen, einmal zu werden und die sagen: 'Harz IV'."

Tanzen als Moment der Freiheit

"Ich kenne Leute, die haben einen Abschluss, aber damit eh nichts erreicht", erzählt Prince Ofori Kyere. Deshalb habe er irgendwann keine Lust mehr gehabt, zur Schule zu gehen. Er ist 20 Jahre alt, und sagt, er komme aus Ghana. Deshalb habe er "ein bisschen eine andere Mentalität als die Leute, die hier geboren sind."

Doch er lebe seit seinem 13. Lebensjahr in Deutschland. "Mein Name ist Saber Hussein, ich bin Iraker, aber geboren in Neuburg an der Donau, das liegt in Ingolstadt, Bayern. Ich bin 21 Jahre alt." Mit sechs Jahren ist Saber mit seinen Eltern nach Berlin gezogen.

​​Sie sitzen im Tanzraum der Manege. "Sollen wir normal reden oder so wie immer?", fragt Saber und lacht. So wie immer? "Eh, Alter, was geht?", scherzt er und schlägt seinem Freund auf die Schulter ... Vor drei Jahren seien sie hierhin gekommen, auf der Suche nach einem Raum zum Tanzen. "Aber die haben uns viel mehr gegeben, das ist hier mehr wie eine Familie", sagt Saber.

"Für den kurzen Moment, in dem ich tanze, bin ich frei." Princes Augen leuchten, seine Stimme klingt euphorisch. Doch im echten Leben, sagt er, werde er sich niemals frei fühlen. "Wenn ich in den Club gehen will und meinen Ausweis zeige, dann sagen die 'Nein, du kommst hier nicht rein.'"

Und wenn man sich als Neuköllner bewirbt, so Prince, "sobald die Leute sehen, dass ich ein Zeugnis von der Rütli-Schule hab' zum Beispiel, auch wenn das alles Einsen sind, werd' ich sofort verurteilt."

Jetzt schlägt er Saber auf die Schulter und lacht: "Doch vielleicht kann Herr Hussein noch etwas dazu sagen." Saber: "Und dann staut sich Wut in einem auf und dann denkt man: Ach, wenn das nicht legal geht, dann mach ich's eben illegal."

Er habe selbst viele Probleme mit der Polizei gehabt und auch in der Schule sei es schwer gewesen: "Ich war drei Jahre in der siebten Klasse, kam nie in die achte." Von den Lehrern habe er sich anhören müssen, "dass alle Ausländer einfach nichts wären." Irgendwann habe er sich aber gedacht: "Den A*** werd' ich's zeigen: Ich hab' meinen Hauptschulabschluss nachgemacht, meinen Realschulabschluss und in einer Woche hab' ich meinen Abschluss für meine Ausbildung als Einzelhandelskaufmann."

In der Manege kennen alle die beiden Tänzer. Sie geben Unterricht, organisieren Veranstaltungen und sorgen für gute Stimmung. HipHop-Musik erklingt. Prince ist sofort auf den Beinen, er macht ein paar "Moves", dann setzt er sich wieder.

"Wir hatten hier schon sehr viele Tanz-'Battles' - da reisen Leute aus ganz Deutschland an." Aber nie sei jemand gekommen, um darüber zu berichten. "Wenn wir uns jeden Monat getroffen hätten, um uns einfach nur zusammenzuschlagen, dann wären alle Fernsehrsender da gewesen."

Ausländer: Gewalt, Arbeitslosigkeit, Desintegration

Kunstwerkstatt; Foto: Naima El Moussaoui
In der Kunstwerkstatt werden Fantasie- und Fabelfiguren zum Leben erweckt – Gollum aus "Herr der Ringe" ist gerade auferstanden, von den Wänden zwinkern unheimliche Masken ihren Betrachtern entgegen.

​​Hämmer-, Schleif- und Sägegeräusche. "Gib mal den Pinsel rüber!" Farbtöpfe, Kleistereimer, Zeitungsfetzen liegen überall verteilt. Eine Werkstatt, die Kunstwerkstatt der Manege.

Eine kleine Frau mit brauner Lockenmähne, Blaumann und Chucks läuft hin und her, gibt Anweisungen, und werkelt dann weiter an einer riesigen Boa. Es ist die Chefin Martha de Galvis de Janzer.

"Wenn ich ein Kunstwerk erschaffe und das hier auf der Straße, in einer Schule, in einem Kindergarten aufgestellt wird, dann habe ich ein Stück meiner Zeit, meiner Visionen, meiner Geschichte aufgestellt, und diese Wirkung ist unschlagbar", beschreibt sie die Arbeit mit den Kindern, "denn dadurch identifiziere ich mich mit dem Ort, an dem ich lebe."

Vor 30 Jahren ist Galvis de Janzer aus Kolumbien nach Europa gekommen. Über Migranten in Deutschland sagt sie: "Wir Migranten dienten dazu, der Sündenbock von heute zu sein. Man wird schon mit einem Stigma geboren." Sie wird lauter. "Der Begriff 'Ausländer' ist gekoppelt mit den Begriffen 'Gewalt, Arbeitslosigkeit, Nicht-Integration'."

Sie hält inne, mit leiser Stimme fügt sie hinzu: "Ich finde das beschämend." Dann lacht sie wieder: "Ich liebe diese Kinder und wenn sie böse sind, die bösen, bösen Ausländerkinder, dann ist es einfach nur die Rechnung, die sie uns präsentieren: Investiert man Gutes kommt Gutes raus, da bin ich 100prozentig von überzeugt."

Naima El Moussaoui

© Qantara.de 2008

Dieser Artikel entstand im Rahmen des gemeinsamen Projekts "Meeting the Other" mit dem Online-Magazin babelmed.net im Europäischen Jahr des interkulturellen Dialogs. Mehr Informationen zu diesem Projekt finden Sie hier

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