Grenzüberschreitungen im Cyberspace

Chatten ist die beliebteste Art marokkanischer Jugendlicher, das Internet zu nutzen. Welche Perspektiven es der Jugend in Marokko außerdem bietet, weiß Ines Braune aus Interviews zu berichten.

Foto: Markus Kirchgessner

​​Neue Informations- und Kommunikationstechnologien und Jugend scheinen zwei Zauberwörter zu sein, ohne die die Zukunft Marokkos nicht gedacht werden kann. Große Hoffnungen werden in beides gelegt.

Gleichzeitig bedeutet die hohe Anzahl Jugendlicher - 70% der Bevölkerung ist unter 30 Jahre alt – bei weitgehender gesellschaftlicher Marginalisierung ein enormes Konfliktpotential. Doch über die Innenansichten der Jugendlichen ist wenig bekannt. Was bedeutet ihnen das Internet?

Die Situation der Jugendlichen

Der Alltag der Jugendlichen ist geprägt von Grenzen, die nicht überschritten werden sollten oder können. Da ist zum einen die Grenze zum Erwachsensein, in dem Sinne, dass den Jugendlichen der Zugang zu Arbeit verwehrt bleibt und sie deswegen weiterhin zu Hause bei ihren Eltern leben müssen. Ihnen fehlen die notwendigen finanziellen Mittel zum Heiraten und sie finden keinen Platz, ihre Pläne und Träume zu verwirklichen.

Zum anderen existiert die aus religiösen Gründen fixierte Grenze zum anderen Geschlecht. Voreheliche Beziehungen sind nach wie vor nicht geduldet, wenngleich das Bedürfnis der Jugendlichen nach einem unkomplizierten Kontakt zu dem anderen Geschlecht groß ist.

Darüber hinaus ist die geographische Grenze nach Europa und Nordamerika für die Jugendlichen sehr relevant und zugleich unpassierbar, denn die Jugendlichen erhalten kein Visum für diese Staaten. Da viele Jugendliche ihre Situation als ausweglos in Marokko empfinden, orientieren sie sich nach Europa und Nordamerika. Besonders beliebt sind dabei die frankophonen Länder.

Der Einzug des Internets

Offiziell wurde das Internet Ende 1995 in Marokko eingeführt. Der junge marokkanische König, Mohammed VI., unterstützte die Einführung des neuen Mediums und proklamierte eine Bildungsdekade bis 2008, innerhalb der auch alle Schulen ans Netz angeschlossen werden sollen.

Das Internet ist dabei in Marokko im Gegensatz zu vielen anderen arabischen Staaten der Region fast frei von Zensur, und auch die Kosten bilden nicht den Haupthinderungsgrund der Internetnutzung, da Internet kostengünstig in den öffentlichen Internetcafés genutzt werden kann.

Die Entstehung der Internetcafés

Internetcafés mit Namen wie Friendship, London Cyber oder Al-Baraka (auf Deutsch: der Segen) sind das sichtbarste Ergebnis der schnellen Entwicklung des Internets - allerdings nur in den Städten. Internetnutzung ist in Marokko ein urbanes Privileg; dabei ist zu berücksichtigen, dass der Anteil der Stadtbevölkerung bei nur knapp über 50% liegt.

Die ersten Internetcafés entstanden in den kapitalkräftigen, modernen Stadtzentren. Das erste Internetcafé beispielsweise in Fes wurde 1998 im Hotel Sheraton eingerichtet, wo eine Stunde Internetnutzung 50 Dirham (5 Euro) kostete.

Seit 2000 etablierten sich Internetcafés aber auch in den Wohlvierteln aller Einkommensklassen, wo sie mit "Standortvorteilen" locken. Die Internetnutzung ist dort etwas günstiger: für 4 Dirham (0,40 Euro) kann man eine Stunde online sein, während die Nutzung in den Internetcafés im Zentrum bis zu 8 Dirham (0,80 Euro) kostet.

Sie bieten zusätzlich bessere Öffnungszeiten: Häufig haben diese Intenetcafés 24 Stunden geöffnet, was wichtig ist, um den Zeitunterschied zu Nordamerika auszugleichen. Ferner entstehen bei dem Gang zum Internetcafé um die Ecke keine Transportkosten und es bereitet weniger Probleme, spät in der Nacht nach Hause zu kommen.

Kommunikative Atmosphäre

Die Internetcafés sind in erster Linie entstanden, da die meisten Privathaushalte weder mit Computer noch mit Internetanschluss ausgestattet sind. Obwohl die Anzahl der mit Internet vernetzten Haushalte steigt, bleiben die Internetcafés ein attraktives Ziel der Jugendlichen.

Sie möchten auf den Gang ins Internetcafé nicht verzichten; viel zu sehr schätzen sie die kommunikative Atmosphäre, gemeinsam mit Freunden am Computer zu sitzen oder sich einfach dort aufzuhalten, auch ohne den Computer zu benutzen. Außerdem ist immer jemand da, der bei Problemen im Umgang mit dem neuen Medium zu helfen weiß.

Ein Teil der Jugendlichen, vor allem Mädchen und junge Frauen, lehnen die Internetnutzung zu Hause ab, da sie dann keinen Grund mehr hätten, außer Haus zu gehen. Ins Internetcafé zu gehen ist oft die einzige Außer-Haus-Aktivität der jungen Frauen.

Dabei haben die Aufenthalte in den Internetcafés, im Gegensatz zu denen in einem normalen Café, einen guten Ruf. Die Ausgestaltung der Internetcafés konzentriert sich auf das Internet und nicht auf das Café. Wohl wegen der Dominanz des Internets heißen die Internetcafés in Marokko einfach Cyber.

Grenzüberschreitungen

In den Internetcafés treffen die Jugendlichen zum einen das Internet und zum anderen sich selbst, und das im doppelten Sinne. Sie treffen sich untereinander, um sich zu unterhalten und Zeit miteinander zu verbringen. Und sie treffen ihre "Persönlichkeit" in der Konfrontation und Auseinandersetzung mit dem Anderen, mit fremden Ideen und Bildern, denen sie im Internet begegnen.

Ungeachtet sozialer, religiöser oder geographischer Grenzen können die Jugendlichen im Cyberspace Erfahrungen machen, die sie vor allem im Chat sammeln. Chatten ist die mit Abstand beliebteste Internetaktivität marokkanischer Jugendlicher.

Der 19jährige Mohammed umgeht die sozialen Restriktionen, in dem er sich mit seiner Freundin, die im gleichen Stadtteil wohnt, im Chat trifft und sie sich dort ein Treffen an einem "sicheren" Ort ausmachen. Ein Treffen im eigenen Stadtteil ist zu riskant, da die beiden nicht miteinander verheiratet sind.

Auf eine andere Weise überspringt Fatima, 21 Jahre, die Konventionen. Sie selber trägt ein Kopftuch und beschreibt die islamische Religion als identitätsstiftend für sich. Im Internet genießt sie es, problemlos mit Männern sprechen zu können.

Dabei stellt sie die Verschiedenheit der Männer und Frauen nicht in Frage, sondern es geht ihr darum, die Mentalität der Männer kennen zu lernen. Sie schätzt es, im Internet diejenige sein zu können, die nicht nur Gespräche führt, sondern sie auch bestimmt und, wenn sie ihr nicht passen, abbricht.

Die 23jährige Latifa hat versucht, ihr Studium in Kanada fortzusetzen. Da sie nicht genügend Geld für ein Visum hat, ist das ihr nicht möglich. Stattdessen chattet sie mit ihren kanadischen Freunden, die sie alle im Internet kennen gelernt hat und schätzt es, sich im Chat in ihrer Nähe zu befinden. Sie hofft darauf, dass sie irgendwann in der Lotterie die amerikanische Green Card gewinnt.

Mit dem Internet den Alltag bewältigen

Der grenzenlose Cyberspace wird in von den Jugendlichen in Marokko genutzt, um bestehende Grenzen zu überwinden, zu ignorieren und zu vergessen. Die Internetcafés sind die lokalen Fixpunkte für die globale Reise durch das Internet.

Die Jugendlichen haben sie für sich in Besitz genommen. Sie haben sich einen Platz geschaffen, an dem sie sich nicht nur einfach aufhalten können, sondern in dem sie ihre Situation neu verhandeln, sei es durch das Erhalten von Visa, das Finden von Arbeitsplätzen und/oder ausländische Ehepartner oder indem sie sich im weltweiten Netz einfach ablenken.

Vielleicht entwerfen die Jugendlichen im Umgang mit dem Internet angemessenere Formen zur Bewältigung ihres Alltags.

Es bleibt abzuwarten, welche Veränderungen die online-gemachten Erfahrungen in der offline-Welt hervorrufen. Sicher ist, dass die Internetnutzung die Jugendlichen einen Schritt näher an die von ihnen erträumten Orte bringt; auch in dem Sinne, als das es bedeutet, an der (Post-)Moderne teilzuhaben, Schritt zu halten mit Europa und Nordamerika.

Ines Braune

© Qantara.de 2005

Ines Braune, Arabistin, promoviert an der Universität Leipzig über jugendliche Internetnutzung in Marokko. Im Rahmen mehrerer Aufenthalte zwischen 2002 und 2004 in Fes, Marokko, hat die Autorin eine Online-Befragung (240 Interviews) und eine qualitative Befragung (80 Interviews) durchgeführt. Die Geschichten der Jugendlichen sind den Interviews entnommen.