Säkularismus auf dem Prüfstand

In seinem Buch "Europas Angst vor der Religion" warnt der Religionssoziologe José Casanova vor einem angeblich anti-demokratischen Potenzial des Säkularismus und fordert, dass Religion und Politik nicht grundsätzlich strikt voneinander getrennt werden sollen. Von Lewis Gropp

Cover José Casanova (Quelle: Berlin University Press)
Argumente für das anti-demokratische Potenzial des Säkularismus: José Casanova, international renommierter Religionssoziologe

​​"Europas Angst vor der Religion" – mit diesem Titel hat José Casanova eine griffige und provokante Formel für seine Thesen gefunden. Der renommierte spanische Religionssoziologe lebt und lehrt seit vielen Jahren in den USA und hat so aus nächster Nähe erfahren, dass die Religion auch in einer modernen Gesellschaft eine nachhaltig zentrale Rolle einnehmen kann – ganz anders als in Europa, wo die Mehrheit der Bevölkerung der Ansicht sei, dass Religion "intolerant" sei, wie Casanova mit Verweis auf verschiedene Studien schreibt.

Diese These zu belegen, muss eigentlich als überflüssig bezeichnet werden. Dass der politische und gesellschaftliche Einfluss der Kirchen in Europa in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend geschrumpft ist, würde heute niemand ernsthaft bestreiten. Diese Entwicklung hat eine lange und komplexe Vorgeschichte. José Casanova versteht es, diese Vorgeschichte in einer süffisant zugespitzten Kurzversion wiederzugeben.

"Es gab einmal im mittelalterlichen Europa, wie es für vormoderne Gesellschaften typisch ist, eine Fusion von Religion und Politik. Doch diese Fusion führte unter den neuen Bedingungen religiöser Diversität, extremistischen Sektierertums und einem von der protestantischen Reformation hervorgerufenen Konflikt zu den scheußlichen, brutalen und lang anhaltenden Religionskriegen der frühen Neuzeit, die die europäischen Gesellschaften in Schutt und Asche legten."

"Die Säkularisierung des Staates", so Casanova weiter, "war die gelungene Antwort auf diese Katastrophenerfahrung, welche sich offenbar in das kollektive Gedächtnis europäischer Gesellschaften unauslöschlich eingeprägt hat."

Europas Gottlosigkeit und der Totalitarismus

An dem ironisierenden Tonfall erkennt man, dass der Religionssoziologe dieser Lesart der Geschichte nicht zustimmt. Im Gegenteil: Es geht Casanova darum, eben dieses Paradigma zu widerlegen, demzufolge Säkularisierung eine Vorbedingung offener, toleranter Gesellschaften ist und automatisch zur Demokratisierung führt.

Quelle: Wikipedia
Territorialisierung von Konfessionalismus und absolutistischer Feudalismus: Die europäischen Religionskriege führten nicht unmittelbar zur Trenung von Staat und Kirche. Jacques Callot: Die Belagerung von Breda (1626-28)

​​Es gelingt Casanova dabei auch, die eine oder andere akkurate Feststellung zu formulieren – so erläutert er zum Beispiel, dass die Religionskriege und der 30-jährige Krieg mitnichten einen Prozess der Säkularisierung eingeleitet, sondern vielmehr zur Territorialisierung von Konfessionalität sowie zum modernen absolutistischen Feudalstaat geführt haben. Die Argumente, die Casanova aber gegen die Säkularisierung, gegen die Trennung von Staat und Religion anführt, sind indessen weder neu, noch sind sie sinnvoll zusammengestellt.

So bringt Casanova die Mahnung hervor, dass die Gottlosigkeit Europas schließlich in den Totalitarismus mündete und in den grausamen Vernichtungskriegen des 20. Jahrhunderts ihren Höhepunkt fand. "All diese schrecklichen Konflikte", schreibt Casanova, "waren [...] das Produkt moderner, säkularer Ideologien."

Als weiteres Argument für das anti-demokratische Potenzial des Säkularismus führt Casanova die religionsfeindliche Politik der Sowjetunion an. So unleugbar und zutreffend dieser Hinweis auch sein mag: Es ist geradezu unanständig, wie hier unter dem Deckmantel der Wissenschaft disparate Begrifflichkeiten vermischt werden.

Dass das 20. Jahrhundert durch 'gottlose Ideologien' in die verheerendsten Vernichtungskriege der Menschheit geführt wurden, ist allgemeinhin bekannt. Aber diese Menschheitsverbrechen auf das Prinzip der Trennung von Religion und Politik zurückzuführen, muss als primitives Deduktionsverfahren bezeichnet werden, das schwerer wiegt als eine akademische Fahrlässigkeit. Hitler und Stalin sind schließlich nicht als Verfechter des Säkularismus in die Geschichte eingegangen.

Religiöse Parteien und Europas Demokratisierung

Foto: AP Graphics
Nicht als Verfechter des Säkularismus in die Geschichte eingegangen: Diktatoren Adolf Hitler und Josef Stalin

​​Doch indem der Autor seine Argumentation unsystematisch und selektiv untermauert, suggeriert er sogar einen Zusammenhang zwischen den Ideen der Aufklärung und den Gräueltaten von Faschismus und Stalinismus. Zu guter Letzt stellt der renommierte Akademiker sogar noch die Behauptung auf, dass es im Endeffekt sogar die Kirchen und religiösen Parteien waren, die Europa auf den Pfad der Demokratie gebracht haben.

"Sehr oft waren es tatsächlich religiöse Gruppen und eine religiöse Politik, die – manchmal auf paradoxe Weise und unbeabsichtigt – zur Demokratisierung und Säkularisierung der Politik in vielen europäischen Staaten beitrugen. [...] Selbst diejenigen Parteien, die sich ursprünglich als anti-liberale und zumindest weltanschaulich als anti-demokratische entwickelten [...] spielten letzten Endes eine sehr wichtige Rolle für die Demokratisierung ihrer Gesellschaften."

Durch seine ungeschickten und widersprüchlichen Formulierungen führt Casanova seine eigene Argumentation ad absurdum.

Die Errungenschaften der weltanschaulichen Neutralität

US-Panzer in Bagdad; Foto: Wikipedia
Zweifelhafter Einfluss von Religion auf Politik: Für den Irak-Feldzug von 2003 wurde US-Präsident Bush auch von vermeintlich christlichen Motiven geleitet.

​​Dass die bisweilen übertriebene Ablehnung von Religion ein europäisches Problem darstellt und dass Religion in der Tat eine konstruktivere Rolle in Kultur und Gesellschaft spielen kann, sei unbestritten. Problematisch an dem Band von Casanova ist allerdings, dass er die Errungenschaften des aufgeklärten und weltanschaulich neutralen Staates, der seinen Bürgern die freie Religionsausübung garantiert, so wie es in der Bundesrepublik zurzeit der Fall ist, infrage stellt und diskreditiert – ohne auch nur im Ansatz konkret zu erläutern, welche Rolle die Religion denn nun spielen soll.

Es wäre ein Leichtes, Casanovas These, dass Religion und Politik nicht getrennt werden sollten, zu widerlegen. Es gibt zahlreiche Länder, in denen sich die Rolle der Religion in der Politik als tödliches Gift erwiesen hat: Pakistan, Iran, Nigeria, Malaysia, Palästina um nur eine Handvoll zu nennen.

Und selbst in den USA, ein Land, das Casanova als positiven Gegenentwurf zum europäischen Modell heranzieht, ist der Einfluss der Religion auf die Politik eher von zweifelhaftem Wert. Man denke nur an die nicht zuletzt christlich motivierte Begründung der Bush-Administration für den Irak-Feldzug.

So wie José Casanova die Rolle der Religionen in der Weltgeschichte darstellt, kann man nur sagen: Gott schütze uns vor der Rückkehr der Religionen!

Lewis Gropp

© Qantara.de 2009

José Casanova: Europas Angst vor der Religion, Deutsch von Rolf Schieder, Berlin University Press, Berlin, 133 Seiten, 19,90 Euro

Qantara.de

Wolfgang Schäuble: "Braucht unsere Gesellschaft Religion?"
Glaube als moralische Instanz
In seinem Buch beschreibt Innenminister Wolfgang Schäuble, warum es zur Integration des Islams in Deutschland keine Alternative gibt – und wie ein recht verstandener Glaube die Menschen vor Machtmissbrauch schützt. Lewis Gropp stellt das Buch vor.

Interview mit Mathias Rohe zur Scharia-Debatte:
"Integrative Islam-Interpretationen sind alternativlos"
Nach Ansicht des Juristen und Islamwissenschaftlers Mathias Rohe ist es höchste Zeit für die hier lebende muslimische Bevölkerung, religiöse Grundlagen zu finden, die sich klar im Rahmen des säkularen Rechtsstaats bewegen. Mit ihm sprach Loay Mudhoon.

Interview Abdullah Ahmed An-Na'im
"Wir Muslime haben keine Kirche!"
Menschenrechte und Säkularismus sichern den Raum für Widerspruch, sagt Ahmed An-Na'im. Überraschend: In der Scharia, der muslimischen Rechtslehre, sieht der aus dem Sudan stammende Jurist die dritte Verbündete für eine humane Zivilgesellschaft.