"... und meine Träume toben"

Zu den vielen Autoren aus dem ehemaligen Sowjetreich, die mit den Nachfolge-Regimen überquer gerieten, gehört auch der usbekische Autor Jodgor Obid, der in Österreich Zuflucht gefunden hat. Uli Rothfuss erzählt vom Schicksal des Autors und der Situation der Literatur in Usbekistan.

Jodgor Obid, Foto: Max Aufischer
Jodgor Obid, Foto: Max Aufischer

​​„Hier bin ich nun, und meine Träume toben“: Verse des usbekischen Dichters Jodgor Obid, der auf der Flucht vor dem autoritären usbekischen Regime Islam Karimows in Österreich gestrandet ist.

Das Wüstenland Usbekistan an der historischen Seidenstraße ist reich an Erdöl, ein Land mit rund 24 Millionen Einwohnern, zu drei Vierteln Usbeken, die zu den mittelasiatischen Turkvölkern gehören, einst nomadisch lebten und sich mehrheitlich zum Islam sunnitischer Richtung bekennen.

Verfolgung usbekischer Literaten

Nachdem sich Usbekistan 1991 von der Sowjetunion löste und für unabhängig erklärte, steht es bis heute unter der politischen Dominanz der Volksdemokratischen Partei des Präsidenten und ehemaligen Ersten Sekretärs der KP Usbekistans, Islam Karimow, der das Land autoritär regiert. Wenn man die Härte, mit der das Regime Literaten verfolgt, einschätzt, so scheint die Sprengkraft literarischer Tätigkeit in Usbekistan kaum zu überschätzen zu sein.

Jodgor Obid ist usbekischer Dichter. Heute lebt er im österreichischen Exil, in der Gemeinde Götzis in Vorarlberg. Dass er mit dem Leben davonkam, hat er seinem Spürsinn für gefährliche Situationen, manchmal schlicht dem Glück und immer wieder auch Freunden zu verdanken. Jodgor Obid (* 1940) arbeitete in einer Kolchose, war Bau- und Hochofenarbeiter und wurde 1975 zum Literaturstudium in Moskau zugelassen. Ab Mitte der 80er Jahre konnten seine Gedichte nicht mehr offiziell in der Sowjetunion erscheinen, weil sie zu sehr die Zustände kritisierten. 1989 wurde er Mitglied der usbekischen Bürgerrechtsbewegung Birlik, die 1993 verboten wurde. Die führenden Bürgerrechtler wurden ins Gefängnis geworfen. Zuerst versuchte das Regime noch, Obid zu kaufen, es bot ihm einen hohen Regierungsposten an. Er verweigerte sich und wurde um so unnachgiebiger verfolgt. Im Ausland wurde man seiner Situation freilich auch gewahr: 1996 wurde Jodgor Obid für seinen Einsatz für Bürgerrecht durch Literatur mit dem Preis von Human Rights Watch Helsinki ausgezeichnet.

Obids Literatur ist stark in der usbekischen Literaturtradition verwurzelt, er gilt als ihr Erneuerer. „Obid ist einer der wenigen Dichter, denen es gelang, die usbekische Literatur von der Altlast des Kommunismus zu befreien, sie wieder zu beleben und ihr neuen Geist einzuhauchen. Er machte aus einer toten Literatur nur noch auf dem Papier eine Literatur eines Volkes“, schreibt der Literaturwissenschaftler Schahongir Muhamed aus Taschkent.

Gefängnis und Flucht

Trotz seiner inzwischen jahrelangen Abwesenheit ist Jodgor Obid in Usbekistan immer noch ein populärer Autor, viele seiner Gedichte kennen selbst kleine Kinder auf der Straße, sie werden auf Kundgebungen rezitiert und auf Flugblättern gedruckt. Elfmal hat er in Usbekistan im Gefängnis gesessen, er wurde gefoltert, weil er mit seinen Texten die Zustände in seiner Heimat anprangerte, bis ihm die Flucht gelang. Über Tbilissi, Baku und Moskau kam er nach Österreich. Seine Familie musste er zurücklassen. Noch heute traut er sich nicht, seine Frau zuhause anzurufen. Immer noch kreisen seine literarischen Themen um die Heimat: in einer bilderreichen Sprache findet er besondere Metaphern für sein geliebtes Usbekistan. Für die Herrschenden und den Präsidenten Karimov, den er als „streunenden Hund, der Diktator wurde“ bezeichnet, sucht er in drastischen Bildern Ausdruck der eigenen Abscheu. Die Vergangenheit der Verfolgung ist ihm auch im Exil Gegenwart, die Sehnsucht zurück in die Heimat und zur Familie scheint durch jedes seiner Gedichte und Märchen. „Ich glaube die Poesie begleitet mich mein ganzes Leben lang“, sagt Obid, und: „Ich versuche immer, dem Wesen der Dinge möglichst nahe zu kommen.“Gesellschaftliche Funktion der Literatur

Literatur hat in ganz Zentralasien zentrale gesellschaftliche Funktion, sie findet im öffentlichen Leben statt, ganz in der Tradition des Gründers der klassischen usbekischen Literatur Alisher Nawoi. Nawoi lebte im 15. Jahrhundert und wurde mit seinen humanistischen Gedanken und mit dem philosophischen Tiefgang seiner Arbeiten und der Universalität seiner Ideen Vorbild für Generationen nachfolgender Autoren. Nawoi ist Vorbild für die heutigen Dichter Usbekistans, weil er die Poesie als Mittel zur Verbesserung der Welt betrachtete: Er selbst wirkte als Dichter und Staatsmann. Seine Werke sind bis heute aktuell, sein Aufruf zur Liebe zur Heimat und zur Arbeit für ihr Wohl wirkt bis heute, auch bei den Dichtungen heutiger usbekischer Literaten.

Bis 1924 war die Landessprache Chaghatai, eine Sprache mit einer bis ins 15. Jahrhundert zurückreichenden Geschichte, die Schriftsprache Zentralasiens von Persien bis zum östlichen Turkestan im heutigen China, geschrieben in arabischer Schrift und mit vielen persischen Elementen in Grammatik und Vokabular. Alisher Nawoi gilt als herausragender Vertreter dieses „Alten Usbekisch“. Anfang des 20. Jahrhunderts kamen Bemühungen auf, Chaghatai zu reformieren und alle geschriebenen Sprachen in der türkischen Welt zu vereinigen, weshalb sie in vielen Bereichen standardisiert wurde. Die Gründung der Sowjetunion und die Integration turksprachiger Völker in das Sowjetreich machten diesen Bemühungen ein Ende.

Jede türkische Sprache sollte unabhängig bestehen, Usbekisch wurde als die Fortführung Chaghatais bezeichnet. 1928 bis 1930 wurde die arabische Schrift durch die lateinische, 1940 diese dann von der kyrillischen abgelöst. Dadurch ist die alte Literatur der Region oft nur noch Spezialisten zugänglich, wenn auch viel von der Volksliteratur mündlich tradiert wird. Seit der Unabhängigkeit 1990 ist Usbekisch die offizielle Staatssprache.

Ausrottung einer Generation von Schriftstellern

Bis heute wirken die Verluste nach, die der Stalinismus der usbekischen Literatur zugefügt hat. In den 30ern des vorigen Jahrhunderts wurde nahezu jedes literarische Talent, wie die meisten Intellektuellen in Usbekistan, als Feind des Volkes verfolgt und hingerichtet. Vor diesen Verfolgungen hatte Usbekistan eine Generation von Schriftstellern hervorgebracht, die eine reiche und vielfältige Literatur produzierte, auch weltliche Einflüsse integrierte und wichtige Fragen der Zeit behandelte. Mit der beinahe kompletten Ausrottung dieser Generation geriet die usbekische Literatur in eine Periode der Stagnation, in der die überlebenden Dichter gezwungen waren, gemäß den Formeln des sozialistischen Realismus zu schreiben. Erst in den 80er Jahren konnten einige usbekische Schriftsteller den Versuch wagen, aus dieser Zwangsjacke auszubrechen. In der Zeit von Glasnost und Perestrojka bereitete eine Gruppe von Schriftstellern - unter ihnen Jodgor Obid - den Weg, die Bürgerrechtsbewegung Birlik zu gründen. Schon zu Beginn der 80er Jahre kritisierten diese Autoren in ihren Werken das Regime in Moskau und klagten die Krankheiten der Gesellschaft an.

Die Macht der Dichtung

Dichtung ist in Usbekistan populär, bei Festen und auf der Straße werden Gedichte vorgetragen. Wenn ein Schriftsteller aus seinen Werken liest, versammeln sich wahre Menschenmassen. Diese Macht der Dichtung, Menschen zusammenkommen zu lassen und sie begeistern zu können, fürchten die Herrschenden.

Ein wichtiger Bestandteil der Arbeit der Schriftsteller Usbekistans nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war die Rettung und Erneuerung der usbekischen Sprache, die von der russischen Sprache als Sprache der Gebildeten und Regierenden bedroht war. Um dies zu erreichen, mieden sie jede Übernahme russischer Wörter. Sie wurden zu Vorkämpfern des Usbekischen als Staatssprache. Ironie ist, dass fast gleichzeitig einige dieser Schriftsteller sich in der Verfolgung durch das Karimow-Regime wieder fanden, da sie – wie früher in der Sowjetunion – die neue Politik des alten Führers offen zu kritisieren wagten.

Uli Rothfuss

Quelle: LiteraturNachrichten Nr. 78

© 2003, LiteraturNachrichten

Deutsche Übersetzungen:
Das goldene Schiff. Gedichte.
Übers. Martha Sever und Sandra Ziagos. Leykam Verlag, Graz o.J., hrsg. von Graz - „Stadt der Zuflucht“ und dem Internationalen Haus der Autoren Graz (vergriffen)
Berge gebt mir euer Herz. Gedichte. Übers. Martha Sever, Sandra Ziagos, Lieselotte Stiegler und Peter Deutschmann. Books on Demand, ISBN 3-8311-3877-X
Die verzauberte Drachenhöhle. Märchen. Übers. Eleonore Klauser. Books on Demand, o.J. ISBN 3-8311-3713-7.
Hier bin ich nun, und meine Träume toben. CD mit Booklet.
Vorarlberger Autorenverband, 1999. Bestellung: Vorarlberger Autorenverband, Bahnhofstr. 6, A-6800 Feldkirch.