Eine Stadt der Gärten, Griechen und Türken

Viele frühe Reiseberichte von Europäern zeugten von Fehlwahrnehmungen und Stereotypen der arabischen Kultur und Lebensweise. Ein Beispiel hierfür sind auch die Eindrücke des italienischen Schriftstellers Renzo Manzoni von seiner Jemen-Reise im Jahr 1877. Von Mohamed Shaaban

Von Mohamed Shaaban

"Die Stadt ist sehr pittoresk. Die Häuser sind groß und malerisch, ganz aus gehauenen Steinen und braunroten Ziegeln gebaut. Die Straßen sind breit und sauber, die Menschen elegant und würdevoll." So beschrieb der italienische Schriftsteller und Reisende Renzo Manzoni in seinem Buch "Jemen: eine Reise nach Sanaa" die heutige Hauptstadt des arabischen Landes. Zwischen 1877 und 1878 hielt er sich in Sanaa auf – eine Metropole, die gegenwärtig von unfassbarer Zerstörung und Gewalt heimgesucht wird.

Am meisten faszinierte Manzoni, wie tolerant und friedfertig die Einwohner dort lebten. Obwohl die Stadt unter osmanischer Besatzung stand, erlebte er dort zwischen den Jemeniten und den Türken nicht einen einzigen Konflikt.

In Sanaa lebten auch viele Griechen. Sie betrieben alle Arten von Geschäften, in denen sie Streichhölzer, Packpapier, Sardinendosen, Gaslampen, Spiegel, Kleidung und eine Vielzahl alkoholischer Getränke verkauften. Einige Griechen, die solche Waren importierten, hatten bereits am Bau des Suezkanals in Ägypten mitgearbeitet. Nach ihrem Aufenthalt dort zogen viele von ihnen schließlich ins sudanesische Suakin, nach Massawa in Äthiopien (jetzt Eritrea) oder in die jemenitische Stadt Al-Hudaida. Endstation war jedoch zumeist Sanaa, wohin sie Waren brachten, die bei den Türken äußerst beliebt waren.

Musik und Gesang

Buchcover  Renzo Manzoni: "Jemen: eine Reise nach Sanaa; Verlag: ellint
Durch die europäische Brille: Renzo Manzoni stellte Sanaa so dar, wie er die Stadt erlebte. Seine Berichte waren voller Zerrbilder in Hinblick auf die italienische Kultur im Vergleich zur islamischen Welt. Die damaligen europäischen Besucher wussten nur wenig über den Islam und das kulturelle Erbe der Araber. Deshalb, und weil sie kaum arabisch verstanden, interpretierten sie viele ihrer Eindrücke und Erfahrungen völlig falsch.

Der italienische Schriftsteller interessierte sich auch für die Komponisten der damaligen Musik. Einige von ihnen schrieben nur religiöse Hymnen, die in den Häusern aufgeführt wurden. Andere wiederum wurden abschätzig behandelt, weil ihre Vorführungen sehr gewagt erschienen. Meist zogen die Musiker von einem Land ins andere – eine einheimische Frau würde sich niemals trauen, öffentlich zu singen und zu tanzen.

Manzoni besuchte in Sanaa viele verschiedene Häuser, und so bemerkte er unweigerlich, dass sie alle voll mit Bediensteten waren. Obwohl die Hausangestellten sehr wenig arbeiteten, wurden sie oft gut behandelt. "Der schlechteste Dienstbote in Europa könnte ohne große Mühe an einem Tag die Arbeit von vier oder fünf arabischen Dienern erledigen", schrieb er.

Die Männer durften keine weiblichen Hausangestellten einstellen und umgekehrt. Auch kastrierte Diener gab es im Jemen nicht. Juden durften laut Manzoni keine Muslime anstellen, während dies den Christen offensichtlich erlaubt war.

Die Frauen von Sanaa

Auf seiner Reise von Aden nach Sanaa lernte der italienische Schriftsteller viele Stämme kennen, die ihn dazu veranlassten, die Stammesfrauen mit den Einwohnerinnen von Sanaa zu vergleichen. Die letzteren beschrieb er als erheblich schöner und weißer. Er schrieb, sie hätten langes, schwarzes Haar, das sie üblicherweise zurückgekämmt trugen. Ein paar Strähnen fielen jedoch stets über ihre Wangen. Einige Frauen hatten ihr Haar auch in einer ungeraden Anzahl von Zöpfen geflochten, was ihnen Glück bringen sollte.

Frauen der reichen Elite trugen feine, bunte Kleidung – allerdings nur bei sich zu Hause oder wenn sie in den Harem gingen. Auf der Straße verhüllten sie sich von Kopf bis Fuß in einen Umhang. Dabei bedeckten sie auch ihre Gesichter mit leichten Tüchern, die keine Löcher zum Atmen aufwiesen.

Reiche und arme Frauen jeden Alters trugen alle den gleichen dunklen Umhang, also war es extrem schwer festzustellen, welche Frau wohlhabend und welche unterprivilegiert war. Allerdings bemerkte Manzoni, dass die Frauen aus Sanaa meist einen Teil ihrer Füße unbedeckt ließen, woran man erkennen konnte, ob eine Frau jung oder alt war.

Die Harems

Manzoni berichtete auch über den Harem, einen abgetrennten Bereich des Hauses, in dem die Frau oder eine andere weibliche Verwandte eines Mannes lebte. Er schrieb, ein Harem werde in Europa häufig als Ort der Ausschweifungen betrachtet. Tatsächlich aber ging es in den Harems, wo die Mutter, die Frau oder die Schwestern des Hausherrn lebten, genau so streng und geregelt zu wie in einem europäischen Nonnenkloster. In den Harems der reichen Häuser lebten Dienstmädchen, denen es – konträr zur Auffassung, sie seien die Sexsklaven des Hausherrn – nicht erlaubt war, die männlichen Bewohner zu sehen. Stattdessen bestand ihre Aufgabe darin, der Ehefrau bei der Hausarbeit zu helfen.

Obwohl Manzoni in Sanaa viel unterwegs war, traf er keine einzige gebildete Frau. Die weiblichen Bewohnerinnen der Stadt waren Analphabeten. Neben ihren anderen Hausarbeiten konnten sie nur kochen und stricken. Den meisten Teil ihrer Zeit verbrachten sie damit, ihre Hände und Füße mit Henna zu färben und sich zu schminken, um ihren Männern zu gefallen.

Die weniger gebildeten Einwohner Sanaas glaubten an Magie und Spiritismus. Laut Manzoni interessierten sich die ärmeren Jemeniten häufig für Medien, wohingegen sich die Reichen mehr für Astrologie interessierten. In Sanaa wurde an Montagen wurde zumeist geheiratet, Donnerstage waren gesegnet, und der Freitag verhieß Glück, weil der Prophet Mohammed an diesem Tag von Mekka nach Medina emigriert war. Sonntage und Mittwoche galten als neutral, der Dienstag jedoch wurde mit Unheil verbunden und als "Tag des Blutes" bezeichnet, weil die meisten muslimischen Märtyrer an einem Dienstag gestorben waren.

Auch im Jahresverlauf gab es sowohl gute wie schlechte Tage. Der schlimmste war angeblich der letzte Mittwoch des Monats Safar. An diesem Tag, der für den Feiertag der Geister gehalten wurde, hatten die Menschen Angst, ihre Häuser zu verlassen.

Heilige und Derwische

Laut Manzoni standen Heilige bei den Jemeniten sehr hoch im Kurs, ob sie nun lebten oder bereits verschieden waren. Dass diese Menschen heilig waren, schien keinen bestimmten Grund zu haben, und sie nutzten ihre privilegierte Stellung nach besten Kräften aus. Der Autor beschrieb diese Heiligen als harmlose "Narren und Idioten", von denen die Menschen aus irgendeinem Grund annahmen, sie seien etwas Besonderes. Sie standen über dem Gesetz, und sogar wenn sie völlig unbekleidet über die Straße liefen, traute sich niemand, sie zurechtzuweisen.

Derwische hingegen galten als religiöser - oder zumindest taten sie so. Zumeist waren sie Türken oder Perser, und sie zeigten ihre Spiritualität, indem sie außergewöhnliche Dinge taten. So aßen sie beispielsweise Steine, Glas, oder Metall. "Sie sind Blender, die von Spenden leben, um die sie entweder betteln oder die sie unaufgefordert bekommen", schrieb Manzoni. "Die Araber im Jemen haben Angst vor ihnen, da sie glauben, sie könnten ihnen Unglück bringen."

In ganz Sanaa gab es eine Vielzahl von Gärten, von denen Manzoni den "Pfauengarten" am liebsten hatte. Er war riesengroß, gepflegt und voller unterschiedlicher Bäume und Blumen. Auch bei den Türken war diese Gartenanlage sehr beliebt. Sie suchten ihn häufig auf, aßen vor dem Mittagessen noch ein paar Früchte und tranken ihren Arak.

Historisches Bild von der Altstadt von Sanaa; Foto: UNESCO/Maria Gropa/Creative Commons Attribution-ShareAlike 3.0 IGO
"Eine Stadt, so pittoresk, so malerisch…": Die UNESCO hatte die Altstadt von Sanaa 1986 auf ihre Liste des Weltkulturerbes genommen. Sie liegt 2.200 Meter hoch in einem Bergtal und war eines der größten Zentren für die Ausbreitung des Islams. Sie umfasst mehr als 6.000 meist mehrgeschossige Häuser, die vor dem elften Jahrhundert errichtet wurden.

Von Fehlwahrnehmungen und Stereotypen

Nicht alles, was Manzoni über die Bewohner von Sanaa schrieb, war richtig. Vieles von dem, was er als seltsam oder irrational erachtete, beruhte auf weit verbreiteten Stereotypen, an die er und andere westliche Reisende glaubten. Häufig gaben solche Beobachter in ihren Büchern lediglich ihrem Abscheu gegenüber fremden Kulturen Ausdruck.

Beispielsweise beschrieb Manzoni, wie sich die Menschen gegenüber ihren Vorgesetzten oder Höhergestellten auf demütige Weise gehorsam zeigten. Wann auch immer ein solcher Privilegierter vorbeikam, schrieb er, würden die anderen Männer aufhören zu rauchen und aufstehen, um ihn zu grüßen. Außerdem erwähnte er, es sei für einen Mann üblich, sich im verbalen oder schriftlichen Umgang mit der Elite als "höchst ergebenen Diener" zu bezeichnen.

Einige von Manzonis Einschätzungen beruhten auf seinen persönlichen Begegnungen. "Sehr häufig geschah es, dass ich im Jemen ganze Stämme von Männern und Frauen sah, die extrem hässlich waren, während die Männer anderer Stämme gut aussahen und die Frauen einen sehr charmanten Eindruck machten", schrieb er.

Während einer seiner Besuche wurde er von den Einheimischen fälschlicherweise für einen Arzt gehalten und gebeten, Patienten zu behandeln. Daraus schloss er, die Menschen sämtlicher muslimischer Länder seien der Ansicht, die Europäer wüssten alles, nur weil sie lesen und schreiben konnten. Seiner Meinung nach war "der Araber" unwissend, da "er glaubt, sämtliches menschliches Wissen könne in einem einzigen Buch enthalten sein, und wenn ein Mann seine Seiten lesen könne, wisse er alles".

Der Schriftsteller stellte Sanaa so dar, wie er die Stadt erlebte, seine Berichte waren dabei voller Zerrbilder in Hinblick auf die italienische Kultur im Vergleich zur islamischen Welt. Beispielsweise schrieb er, der Ramadan sei für die Muslime der Monat der Freuden, während er in Wirklichkeit der Monat ist, an dem sich die Muslime zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang aller Freuden enthalten, darunter auch denen der Speise und des Tranks.

Laut Abdullah Shaker, einem Professor für Zeitgeschichte, sollten diese damaligen Reiseberichte nicht für bare Münze genommen werden, da sie aus westlicher Perspektive geschrieben seien und viele Fehler enthielten. Wie Shaker erklärt, wussten die europäischen Besucher nur wenig über den Islam und das kulturelle Erbe der Araber. Deshalb, und weil sie kaum arabisch verstanden, interpretierten sie viele ihrer Eindrücke und Erfahrungen völlig falsch.

Mohamed Shaaban

© Raseef22

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff