"Aus dem Jemen flieht niemand nach Europa"

Verglichen mit Naturkatastrophen fallen Spenden für Kriegsopfer gering aus. Karl-Otto Zentel, Generalsekretär der Hilfsorganisation CARE Deutschland, spricht im Interview mit Carsten Grün über das Leid im Jemen, die Pflicht der Bundesregierung und die Friedensgespräche in Stockholm.

Von Carsten Gruen

Herr Zentel, welche Erfolgsaussichten haben die Friedensgespräche zum Jemen in Stockholm?

Karl-Otto Zentel: Das erste Mal seit 2016 haben sich die Konfliktparteien zu Gesprächen bereit erklärt. Das allein ist bereits ein erster Erfolg. Für Frieden braucht es immer einen ersten Schritt, und den hatten die Beteiligten in den letzten beiden Jahren immer wieder verweigert. Wenn diese Gespräche aber nicht zu einer besseren Versorgung der Menschen im Jemen führen, dann waren sie für diese Menschen kein Erfolg.

Was wäre ihrer Ansicht nach nötig, um das Leid der Menschen erst einmal abzumildern?

Zentel: Eine Waffenruhe ist für die Zivilbevölkerung vorrangig. Und dann natürlich freier und ungehinderter Zugang für Hilfen in alle Gebiete, damit die Menschen, die Hilfe am dringendsten benötigen, sie auch erhalten.

Woran leiden die Menschen am meisten?

Zentel: Zum einen schlichtweg an Hunger. Jemen ist für 90 Prozent seiner Nahrungsmittel auf Importe angewiesen. Und wenn dann die wichtigsten Häfen nicht voll zugänglich sind und das Entladen von Schiffen durch Kampfhandlungen behindert wird, kann einfach nicht genug Nahrung ins Land kommen.

Dazu kommt die Vertreibung aus Städten: Familien fliehen aufs Land, in notdürftige Unterkünfte, und sind dort der Witterung schutzlos ausgeliefert. Ich habe viele Kinder mit Hautekzemen gesehen. Durch die kaum funktionierende Wasserversorgung kommen Cholera und andere Durchfallerkrankungen dazu. Durch das zusammengebrochene Gesundheitssystem gibt es kaum noch Impfungen. Polio und Diphterie treten deshalb immer häufiger auf. Und was häufig vergessen wird: Viele Menschen mit chronischen Erkrankungen wie Diabetes oder auch Diagnosen wie Krebs haben keine Überlebenschance mehr: Die Krankenhäuser sind überfüllt und unterversorgt, eine medizinische Evakuierung nicht möglich, weil die Flughäfen für zivilen Verkehr geschlossen sind.

Umkämpftes Taiz, Jemen; Foto: picture-alliance/AP/M. Al Zekri
What began four years ago as a civil war in Yemen has now become a war of proxy and intervention, especially between the Middle Eastern powers Saudi Arabia and Iran. About 10,000 people have been killed so far. Half of Yemen's 28 million inhabitants face famine. Thousands more people are trying to flee. Peace talks between the government and the Houthi rebels have repeatedly failed

Wie schätzen sie die Rolle von Rüstungsfirmen wie zum Beispiel Rheinmetall ein, die die Bürgerkriegsparteien mit Kriegsmaterial versorgen?

Zentel: Wir haben den Stopp von Rüstungsexporten an Saudi-Arabien ausdrücklich begrüßt. Dass im Nachhinein bekannt wurde, dass er nur für zwei Monate gelten soll, war für uns eine Enttäuschung. Es geht um eine klare Linie, und die ist Aufgabe der Politik und nicht die eines einzelnen Unternehmens. Und es bleibt dabei: Wenn es Frieden im Jemen gibt, kommen auch keine Waffen mehr zum Einsatz, deswegen muss dies das oberste Ziel sein.

Was muss die Bundesregierung in so einem Fall tun?

Zentel: Die Bundesregierung sollte tun, worauf sie sich im Koalitionsvertrag verständigt und wozu sie sich verpflichtet hat: kein Export von Rüstungsmaterialien an aktive Konfliktparteien im Jemen. Für uns sind das ziemlich eindeutige Worte - und die Ausflüchte, dass jede Neugenehmigung ganz genau geprüft würde, widersprechen diesen klaren Worten.

Hat sich die Weltgemeinschaft von dem Konflikt entkoppelt und wird die dortige Katastrophe nicht genug wahrgenommen?

Zentel: Es ist wohl eher ein Problem der Bereitschaft. Die Vereinten Nationen haben mit drastischen Worten immer wieder betont, dass Jemen die derzeit größte humanitäre Katastrophe der Welt ist. Das Bild vom verhungernden Mädchen in der New York Times ging kürzlich um die Welt. Heute wurde ein aktueller Bericht veröffentlicht, der feststellt, dass 65.000 Menschen im Land so akut Hunger leiden, dass es den Kriterien einer Hungersnot entspricht. Dazu kommen unfassbare 20 Millionen Menschen, die kurz davor stehen. Man fragt sich schon, worauf die internationale Gemeinschaft wartet und was noch passieren muss, damit mehr Druck ausgeübt wird. Es flieht allerdings niemand aus dem Jemen nach Europa, die meisten Menschen suchen im eigenen Land Sicherheit. Das könnte ein Stückweit das Desinteresse bei uns erklären, das muss man vielleicht so klar feststellen.

Muss der Druck auf Saudi-Arabien und den Iran nicht erhöht werden und wie könnte so etwas aussehen?

Zentel: Es geht hier nicht um einzelne Akteure, die Lage im Jemen ist komplex und je länger der Konflikt andauert, desto mehr zersplittern die Fronten. Es gilt also schnell und konsequent zu handeln. Der Jemen braucht einen inklusiven und umfassenden Friedensprozess, der alle einbindet, sonst wird ein Übereinkommen - egal wie schwierig es zu erreichen war, nicht halten. Um eine Bevölkerung nach so einem Konflikt wieder zu vereinen, müssen alle mit am Tisch sitzen, angefangen mit den Frauen, die die Hälfte der Bevölkerung sind und zwingend repräsentiert sein müssen.

Warum ist bei Naturkatastrophen die Spendenbereitschaft höher als bei Konflikten wie dem im Jemen?

Zentel: Wir beobachten das immer wieder. Zum einen haben Naturkatastrophen gerade in den ersten Tagen eine hohe Aufmerksamkeit in den Medien. Menschen werden von Naturgewalten schuldlos mitgerissen und verlieren alles. Da ist die Empathie zunächst einfach sehr hoch. Bei Kriegen stellen sich Menschen eher die Frage: Wer ist schuld? Und kommt meine Spende auch wirklich an? Bei komplexen, auch innerstaatlichen Konflikten, Kriegen und Fluchtsituationen müssen Hilfsorganisationen immer wieder darum kämpfen, dass das Leid der Zivilbevölkerung Beachtung findet. Und darum, dass ihr humanitäres Mandat geachtet wird: Denn wir helfen unabhängig vom Frontverlauf und von Zugehörigkeiten denen, die Überlebenshilfe brauchen.

Das Interview führte Carsten Grün.

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