Jan Böhmermanns neuer Song "BE DEUTSCH"
Ernsthaftigkeit kann gefährlich sein

Jan Böhmermann, das "Enfant Terrible" der deutschen Satiriker, hat seit jeher den Finger am Puls der Zeit. Sein kürzlich ausgestrahltes Video enthüllt eine Menge. Möglicherweise mehr, als ihm selbst klar ist. Von William Glucroft

Haben Sie sich Jan Böhmermanns Werk angeschaut? Ich meine nicht das "Schmähgedicht", das die Gefühle des türkischen Präsidenten verletzte und in Deutschland wegen eines altertümlichen Gesetzesparagraphen rechtswidrig ist (aber vermutlich schon bald nicht mehr sein wird).

Was ich meine, ist sein Video "BE DEUTSCH" mit bislang knapp 3,5 Millionen Aufrufen auf YouTube. Sie haben es noch nicht angeklickt? Das sollten Sie nachholen. Es ist einfach großartig. Ein garantierter Publikumserfolg über die ganze Bandbreite der deutschen Befindlichkeit hinweg. Angefangen bei denen, die bloß abgedroschene Nazi-Witze nachplappern, bis hin zu denen, die schon lange genug hier leben, um in die deutsche Seele zu blicken.

Socken und Sandalen? Dosenpfand? Immanuel Kant in Outdoor-Jacken von Jack Wolfskin? Reinste Volksfeststimmung. Sie werden sich "wegschmeißen" vor Lachen. Böhmermanns Video sagt so viel. Viel mehr, als es auf den ersten Blick scheint.

Satire ist nicht ernst

Das beste zeitgenössische Gegenargument Deutschlands zu der kaum widerlegbaren Verallgemeinerung, dass Deutsche einfach nicht lustig sind (wie der verstorbene Robin Williams bemerkte), verfehlt immer noch einen wichtigen Aspekt der Satire: Satire ist nicht ernst.

Zumindest nimmt sie sich selbst nicht ernst. Internationale Stars der politischen Satire, wie Jon Stewart, Stephen Colbert und John Oliver, sind sich bewusst, dass sie lediglich Boten sind. Sie achten peinlich darauf, sich nicht von einem Zeitgeist vereinnahmen zu lassen, der sie vergöttern will. Im Unterschied dazu präsentiert sich Böhmermann als Jesus aus der Bergpredigt. (Und tatsächlich war Jesus ein ernsthafter Mensch.)

Sie denken vermutlich: "Das ist doch lustig. Und progressiv. Mach dich mal locker!"

Bitte schauen Sie sich das Video mehrmals an. Wenn das Lachen verstummt, bleibt ein beunruhigendes Gefühl zurück, das aus einer kognitiven Dissonanz und unangenehmen historischen Vergleichen resultiert.

Das Video wurde im Endspurt der letzten Landtagswahlen produziert, aus denen die Rechte unter dem Eindruck der "Flüchtlingskrise" (wenig überraschend) gestärkt hervorging. Seine Botschaft an die Deutschen ist: Seid stolz. Seid freundlich. Seid deutsch.

Aber anders deutsch.

Wir sehen eine Gruppe "guter" Menschen – fröhlich, individuell und sympathisch in Szene gesetzt. Sie steht einer anderen Gruppe „schlechter“ Menschen gegenüber. Einer grauen und öden Masse. Das Video endet im Ansturm der Guten gegen die Schlechten. Der Betrachter fragt sich: Wie gehen die Tätlichkeiten eigentlich weiter?

Denken wir kurz nach. Das letzte Mal, dass Deutsche gegen einen durchtriebenen (Volks-)Schädling aufgewiegelt wurden, der angeblich das Gemeinwohl bedrohte, war 1938. Wir alle wissen, wie das ausging. Das Gleiche ist im Jahr 2016 offenbar in Ordnung, weil die Schlechten jetzt tatsächlich schlecht sind: Ausgemachte Rassisten, die übrigens die gleichen Pauschalurteile gegen Schwule, Geflüchtete oder Muslime haben.

Oder – vor 80 Jahren – gegen die Juden. Hitler trat 1933 nicht mit dem Slogan an: "Wählt mich, denn ich werde den Untermenschen ausrotten." Vielmehr versprach er einem gedemütigten, hungrigen und arbeitslosen Volk eine Zukunft, die es wieder groß machen würde (einige Dinge ändern sich eben nie, Herr Trump). Und er hielt sein Versprechen. Was mit der ernsthaften Überzeugung der guten Deutschen begann, das Richtige für ihr Vaterland zu tun, endete darin, dass eben diese guten Deutschen nicht wahrhaben wollten, welche Rolle sie bei der Entsendung von elf Millionen Menschen in Gaskammern und Massengräber spielten, und dabei sich selbst und den gesamten Kontinent ins Elend stürzten.

Ernsthaftigkeit ist Arroganz

Das macht Ernsthaftigkeit so gefährlich: Man ist von den eigenen Überzeugungen und der Richtigkeit des eigenen Standpunkts so felsenfest überzeugt, dass einem der kritische Blick auf sich selbst und auf die Angst – und die vermeintliche Überlegenheit – gegenüber dem Anderen abhandenkommt. Wer immer das auch sein mag. Ernsthaftigkeit ist Arroganz.

Right-wing populists bearing anti-mosque banners in Cologne
Intoleranz, Rechtspopulismus und Islamfeindlichkeit auf dem Vormarsch: "Faschismus schleicht sich dort ein, wo eine Demokratie bestimmt, wer dazugehört und wer nicht", schreibt William Noah Glucroft.

Wenn mich heute in Berlin die Frau auf der anderen Straßenseite anschreit, weil ich bei Rot über die Straße gehe, obwohl weit und breit kein Verkehr in Sicht ist, ist das nicht nur irgendwie komisch, sondern auch besorgniserregend: Die strenge Einhaltung von Regeln auch dann, wenn sie keinen Sinn ergeben, kommt dem Verzicht auf ein selbstständiges und kritisches Denken gleich. Hier liegen die Wurzeln der menschlichen Torheit.

Denn es scheint sozial irgendwie akzeptabel zu sein, seinen Mitbürger anzuschreien.

Das moderne Deutschland kämpft mit zwei Herausforderungen seines demokratischen Charakters. Eine betrifft alle freiheitlichen Demokratien. Die andere ist die Folge der eigenen Geschichte: "BE DEUTSCH" projiziert beides sehr schön; vielleicht sogar unbedacht.

Inklusion und Toleranz fallen leicht, wenn diejenigen, die es zu inkludieren und zu tolerieren gilt, der eigenen Wahrnehmung von "gut" entsprechen. Freiheitliche Demokratien stellen das allerdings nicht zur Wahl. Denn das macht sie ja per Definition aus: Freiheit und Demokratie. Mit dem Ruf "WIR sind das Volk" auf der anderen Seite, die dasselbe Recht für sich einfordert, unterbieten sich die Protagonisten beim Wettlauf in eine surreale Welt.

Faschismus schleicht sich dort ein, wo eine Demokratie bestimmt, wer dazugehört und wer nicht. Die Anhänger von AfD und PEGIDA gehören für Böhmermann wegen ihrer intoleranten und xenophoben Haltung nicht dazu. Wohl aber ein ultraorthodoxer Jude und ein traditionell gekleideter Muslim. Vermutlich ist Böhmermann – wie viele Deutsche – weder dem einen noch dem anderen je begegnet (ich lasse mich gerne eines Besseren belehren). Die beiden werden als niedliche Karikaturen eines säkular-liberalen Geistes dargestellt. Am Ende umarmen sie sich! Das entspricht so gar nicht ihrem wahrscheinlichen Verhalten in der Realität: intolerant und xenophob.

Muss Böhmermann eine dritte Gruppe zusammentrommeln, die den Ultras unter den Juden oder Muslimen nachstellt, wenn diese antijüdische oder islamfeindliche Parolen rufen? Oder wäre dies politisch nicht korrekt, da sie selbst Angehörige viktimisierter Gruppen sind? Hier wird deutlich, wie dünn das Eis ist.

William Noah Glucroft; Foto: privat
William Noah Glucroft ist Fotograf, Journalist und Übersetzer in Berlin. Er zählt zu den Gründungsmitgliedern der "Freunde der Synagoge Fraenkelufer".

Warum muss der Jude einen schwarzen Hut und Schläfenlocken tragen? Und warum der Muslim einen knöchellangen Thawb mit Kufiyah? Was will man uns sagen, wenn sich die Frau unter der Burka als Weiße entpuppt? Die Ernsthaftigkeit, etwas von Bedeutung sagen zu wollen, lässt jeglichen Anschein einer progressiven, geschweige denn kohärenten Bedeutung schwinden.

Zunehmende Islamophobie, bleibender Antisemitismus

Jede Gesellschaft drückt ihre Ängste und ihre Engstirnigkeit anders aus. Für Deutschland geht es stets um die Juden. Araber und Muslime – die Geflüchteten unter ihnen – werden angegriffen. Doch die Juden werden gefragt, ob sie sich sicher fühlen. Die Islamophobie nimmt zu, doch der Antisemitismus bleibt das Problem.

Hier finden wir erneut die besagte Ernsthaftigkeit. Deutschland bemüht sich aus edlen Motiven heraus etwas gutzumachen, was es wohlwissend niemals ganz gutmachen kann. Das wohlmeinende Bekenntnis "niemals wieder" verfängt sich im Kontext der Endlösung. Wie kann eine Gesellschaft, die ständig daran erinnert wird, Auschwitz erbaut zu haben, rassistisch sein? Wenn genau das die Vorstellung von Rassismus ist.

Die aktuellen Gefahren sind weit tückischer und diffuser. Gruppen, die andere ins Visier nehmen, sind nicht rundum schuldig. Und Gruppen, die ins Visier genommen werden, sind nicht rundum unschuldig.

Eine progressive Politik ist das Privileg derjenigen, die meinen, von der Liberalisierung, Demokratisierung und digitalen Globalisierung unserer Gesellschaften und Ökonomien profitiert zu haben. Allerdings gibt es eine Vielzahl von Menschen, die meinen, dies sei nicht der Fall. Wie gehen wir mit ihrem zulässigen Unmut um? Wir beleidigen sie und grenzen sie pauschal als "dumme Rassisten" aus. Auf eigene Gefahr.

Doch jeder hat das Recht, "das Volk" für sich in Anspruch zu nehmen. Eine gesunde Demokratie lässt ihren Bürgern die Freiheit, für sich selbst zu denken, hat Vertrauen darin, dass jene diese Freiheit umsichtig wahrnehmen und schreitet nur dann ein, wenn dies nicht der Fall ist. Man kann Tugend nicht regulieren.

Hier greift die Satire von Jan Böhmermann in ihrer Ernsthaftigkeit zu kurz. Sie ist lustig. Aber was sagt sie uns eigentlich? Möglicherweise mehr über Jan Böhmermanns Karriere als über Deutschlands Zukunft. Ein Video, das die Deutschen auffordert, deutsch zu sein, ist – merkwürdigerweise – komplett auf Englisch.

William Glucroft

© Qantara.de 2016

Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers

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Leserkommentare zum Artikel: Ernsthaftigkeit kann gefährlich sein

der Satz,"Ernsthaftigkeit ist Arroganz", beinhaltet selbst die Ueberheblichkeit in sich!!!

Anonymous21.05.2016 | 18:44 Uhr

Eine überfällige Kritik der Dogmatisierung zeitgeistiger Fortschrittsvorstellungen in den intellektuellen "Eliten".
Danke, Qantara. Danke Herr Clucroft.

Diese kann übrigens auch in der "Schmähgedicht"-Affäre ausgemacht werden. Herr Böhmermann scheint der Ansicht zu sein, dass Erdogans zunehmend autoritärer Stil (egal wie, immer gerechtfertigt) kritisiert werden MUSS, und Rücksichtnahme auf die deutsch-türkische Zusammenarbeit, die im deutschen Interesse ist, dabei zurückstehen MUSS.
Herr Böhmermann hat die Arbeit Frau Merkels, die ohnehin schwierig genug ist, zusätzlich erschwert - unnötig erschwert, denn seine dogmatischen Fortschrittsvorstellungen werden Hern Erdogan kaum beeindrucken, dienen also mehr der Selbstdarstellung des Autoren in seinem Milieu.
Die schmähenden Parolen dagegen werden (ungeachtet der literarischen Einbettung) bei denjenigen, die Herr Böhmermann kritisieren möchte, hängenbleiben, die Einen bestätigen und die Anderen beleidigen.

Die Vorstellung war vor allem deshalb nicht wirklich witzig: Sie war für NICHTS gut.

benita schneider23.05.2016 | 11:28 Uhr

Sie beginnen mit "Herr Böhmermann scheint der Ansicht zu sein ..." um sich des Weiteren in Mutmaßungen zu ergehen. Wieso sollte er der Meinung sein, daß er etwas Bestimmtes veröffentlichen MUSS? Er zeigte dem mit deutschem Recht unvertrauten Herrn Erdogan, was nach deutschem Recht in Deutschland erlaubt und was nicht erlaubt ist. Die Probleme, die sich für Frau Merkel und die gesamte EU aus Erdogans Verhalten ergeben (Presseunterdrückung, Rechtsbeugung durch Festsetzung von gegen Erdogan ermittelnden Beamten, Krieg in den Kurdengebieten um jeden Nicht-Untertstützer Terroristen nennen zu können usw.) diese Probleme wären auch ohne Böhmermanns Satire akut.
Zudem war der Text ein erläuterndes Beispiel und nicht als an Erdogan gerichtete Beleidigung zu nehmen - das ergab sich aus dem Kontext, Böhmermanns umfangreichen einleitenden Text. Die Grenze der Satire sollte nicht gezogen bzw. diktiert werden durch die Unfähigkeit bzw. die simulierte Unfähigkeit, diesen Sachverhalt intellektuell zu bewältigen. Wer sich beleidigt fühlte bzw. beleidigt gab, war nicht wirklich beleidigt, sondern wollte sich beleidigt geben. Diese Simuliererei aus durchsichtigen Gründen sollte man nicht auch noch unterstützen.

Bernhard Baum24.05.2016 | 19:29 Uhr

Und ich meine: man sollte der Simuliererei nicht auch noch in den öffentlich-rechtlichen Medien Steilvorlagen geben.
Satire, die sich (durch unflätige Begrifflichkeit) dazu anbietet, vom Rezipienten/Adressaten beleidigend aufgefasst zu werden, hat im öffentlich-rechtlichen Fernsehen nichts zu suchen.
Unter intellektueller Bewältigung eines komplexen Sachverhalts verstehe ich nicht den Verzicht auf Satire und Kritik, sondern intelligente und auf Wirkung bedachte Äußerung/Formulierung/Ausgestaltung derselben.
War es für etwas gut, das Böhmermann Schmähgedicht?

Das (bierernste) Beharren Böhmermanns darauf, auf der Seite des Rechts und des Rechthabens zu stehen, und sich nicht von den (negativen) Auswirkungen (auf die deutsche Politik) korrigieren zu lassen, würde ich schlicht als Rechthaberei bezeichnen
und es ist das, was der Autor Clucroft -unglücklich nach meiner Ansicht- mit dem Begriff "Ernsthaftigkeit" versieht.

benita schneider29.05.2016 | 09:57 Uhr