Der Rabbi von Essaouira

Essaouira in Marokko ist wesentlich von jüdischen Händlern geprägt worden. Das jüdische Erbe ist bis heute in der Hafenstadt präsent. Juden aus aller Welt treffen sich hier jedes Jahr zur Wallfahrt und halten die Erinnerung an den jüdischen Charakter der Stadt wach. Ein Bericht von Claudia Mende.

Von Claudia Mende

Es ist still auf dem alten jüdischen Friedhof. Nur eine leise Melodie mischt sich mit dem Wind. Im Mausoleum in der Mitte des Gräberfelds betet eine kleine Gruppe Gläubiger, ein Mann singt. Eine alte Dame, ganz in Schwarz gekleidet, erklärt, es handele sich um das Grab von Rabbi Pinto. Jedes Jahr komme sie extra aus Paris hierher, um im Mausoleum des verehrten Rabbiners zu beten. Und treffe andere Juden aus aller Welt.

Der jüdische Friedhof liegt direkt am Meer, außerhalb der historischen Altstadt. Nur fünf Minuten Gehzeit vom christlichen Friedhof entfernt. Ein Wächter steht am Eingang, aber keine Polizei. Die Grabsteine liegen verstreut, dazwischen sprießt Unkraut. Die hebräischen Inschriften sind stark verwittert, weil immer wieder Salzwasser die letzte Ruhestätte überschwemmt.

Ein Transparent an der Friedhofsmauer heißt die Gläubigen willkommen zur Hilloula, zur Wallfahrt für Rabbi Haim Pinto, der hier 1845 begraben wurde. Der Rabbi wird bis heute als ein Gerechter verehrt, dessen Gebete in besonderer Weise von Gott erhört werden. An sein Grab pilgern jedes Jahr vor allem Juden, die ursprünglich aus Marokko stammen und das Land ihrer Jugend nach der Gründung des Staates Israel 1948 verlassen mussten.

Jährliche Wallfahrten in Essaouira

Essaouira liegt an der marokkanischen Atlantikküste und wirbt mit seinem jüdisches Erbe. In den Prospekten des Fremdenverkehrsamtes sind Friedhof, Wallfahrt und Synagogen erwähnt. Es gibt spezielle Touren auf den Spuren jüdischen Lebens in der Stadt. Händler im Souk weisen Reisende darauf hin, doch die Synagogen anzuschauen.

In großen Teilen der arabischen Welt mag eine jüdische Wallfahrt ungewöhnlich, ja unmöglich sein. In Essaouira nicht. "Die Wallfahrt findet jedes Jahr statt", sagt Samir El Harrouf vom Touristenbüro der Stadt. "Für uns ist sie ganz normal. Die Wallfahrt gehört zu unserem kulturellen Erbe." Bis zu 2.000 Gläubige kommen im September zu den Haupttagen der Wallfahrt.  Dann fügt er noch hinzu: "Essaouira ist die einzige arabische Stadt, die einmal mehrheitlich von Juden bewohnt war."

Blick auf die Medina in der Nähe des "Bab Sbaa"-Tors in Essaouira; Foto: Claudia Mende
Mogador, ein florierendes Wirtschaftszentrum: Sultan Sidi Mohammed Ben Abdullah lud jüdische Händler ein, sich im 18. Jahrhundert in Essaouira niederzulassen, um Kontakte zu europäischen Händlern zu knüpfen. Er beteiligte sich auch an einigen großen Bauarbeiten und errichtete den größten Teil der Altstadt und der Hafenbefestigung. Im 19. Jahrhundert machten Juden etwa 40 Prozent der Bevölkerung der Stadt aus.

Ob das im Detail so stimmt, ist nicht ganz klar. Auf jeden Fall aber haben im 19. Jahrhundert sehr viele Juden hier gelebt, Historiker sprechen von etwa 40 Prozent der Gesamtbevölkerung. Es war Sultan Sidi Mohammed Ben Abdullah, der die jüdischen Händler im 18. Jahrhundert ansiedelte. Sie sollten ihm dabei helfen, Kontakte zu europäischen Geschäftsleuten zu knüpfen. Der Sultan ließ einen Großteil der Altstadt und die Befestigungsanlagen am Hafen bauen.

Die damals als Mogador bezeichnete Siedlung wurde zum bedeutendsten Hafen Nordafrikas. Als Knotenpunkt für den Handel zwischen Timbuktu und Europa kam sie zu Wohlstand. In der Mellah, dem jüdischen Viertel, lebten vor allem ärmere Juden. Begüterte Familien hatten ihre Häuser mitten unter den Muslimen. In der Stadt soll es damals mehr Synagogen als Moscheen gegeben haben.

Kein Magnet für den Massentourismus

Heute ist Essaouira in erster Linie als Paradies für Kiter und Surfer bekannt. Ende März fand an den Stränden außerhalb der Stadt erstmals der Worldcup im Windsurfing statt. Die vollständig ummauerte Altstadt wurde 2001 von der Unesco als Weltkulturerbe anerkannt. Anders als das weiter südlich gelegene Agadir ist Essaouira wegen seiner heftigen Winde nie ein Ort des Massentourismus geworden.

Mit seinen weißen Fassaden und den schmalen Gassen der Handwerker ist Essaouira aber bei Individualtouristen und Aussteigern beliebt. Seitdem in den 1960er Jahren Jimmy Hendrix einmal hier war, zieht der Ort Hippies und Musiker an. Das jüdische Erbe ist weniger bekannt.

Einrichtung der Rabbi Haim Pinto-Synagoge in Essaouira; Foto: Claudia Mende
Offen für Pilger und Touristen: Einst eine von vielen Synagogen in Essaouira für die jüdische Bevölkerung vor Ort, beherbergt die Rabbiner-Synagoge Haim Pinto heute eine umfassende Ausstellung mit historischen Fotografien, die das jüdische Leben in der Stadt vor 1948 dokumentieren. Viele marokkanische Juden verließen das Land nach der Gründung Israels, einige zur Unterstützung des noch jungen Staates, die meisten aus Angst vor arabischen Vergeltungsmaßnahmen.

Marokko hatte einst die größte jüdische Gemeinde der arabischen Welt. Die ersten Juden kamen bereits in der Antike nach der Zerstörung des jüdischen Tempels und vermischten sich mit der einheimischen Berberbevölkerung. Viele Juden flüchteten nach der Reconquista Ende des 15. Jahrhunderts aus Spanien und fanden Sicherheit vor Verfolgung.

Aufgrund der verschiedenen Einwanderungswellen ist die jüdische Bevölkerung Marokkos kulturell besonders vielfältig. Bei der Gründung des Staates Israel 1948 lebten rund 250.000 Juden in Marokko, in den Jahren danach haben die meisten aber das Land verlassen. Heute sollen rund 5.000 Juden noch in Marokko leben, die größte Gemeinde mit rund tausend Mitgliedern existiert in Casablanca. Dort steht auch das einzige jüdische Museum der arabischen Welt. Offiziell hat Marokko keine diplomatischen Beziehungen mit Israel, aber rund 50.000 israelische Touristen bereisen das Land jedes Jahr.

Die meisten Juden von Essaouira haben die Stadt nach 1948 verlassen. Die Mellah, das alte jüdische Viertel, ist heruntergekommen, arme Marokkaner sind zugezogen, es gab wohl auch Plünderungen. Viele Gebäude sind verfallen und manche einsturzgefährdet. Schlechte Kanalisation und eindringendes Meerwasser zerfressen die Fundamente. Die Stadtverwaltung hat zwar beschlossen, dagegen etwas zu unternehmen, aber viel ist noch nicht passiert.

Erinnerung an das friedliche jüdisch-muslimische Zusammenleben

Heute können Besucher zwei Synagogen besichtigen, die in unmittelbarer Nachbarschaft liegen. Die Rabbi-Pinto-Synagoge ist bereits seit Längerem wieder zugänglich. In ihr ist eine Fülle historischer Fotografien vom jüdischen Leben in der Stadt vor 1948 ausgestellt. Im zweiten Stock befinden sich die Räume für die Frauen, die bei den orthodoxen Juden getrennt von den Männern beten.

Die zweite Synagoge, Slat Lkahal, liegt direkt dahinter. Sie wurde mit privaten Spendengeldern von Juden aus aller Welt, unterstützt von der Unesco, seit 2012 restauriert und Ende 2017 neu eröffnet. Schutt und Geröll wurden beseitigt, Mauerwerk erneuert. Haim Bitton, ein älterer Herr mit gleichem Vornamen wie der berühmte Rabbi, ist Vorsitzender der Organisation Slat Lkahal und einer von drei Juden, die wieder permanent in der Stadt leben. Er ist hier aufgewachsen, hat Marokko als junger Mann verlassen und ist nun, im Rentenalter, zurückgekehrt.

Bitton ist ein zurückhaltender Mann, der nicht gerne über sich selbst spricht. Allgemeine Fragen über Juden in Marokko möchte er nicht beantworten. Aber es ist in erster Linie sein Verdienst, dass Slat Lkahal restauriert und den Besuchern wieder zugänglich gemacht werden konnte. Eine Danktafel erinnert an die wichtigsten Spender.

Bitton ist unzufrieden mit dem Zustand vieler historischer Dokumente, die nicht angemessen aufbewahrt werden könnten. Er zeigt einige fleckige alte Schülerlisten der früheren jüdischen Schule, an der sein Vater damals Direktor war. Mit der Restaurierung will Haim Bitton an das friedliche jüdisch-muslimische Zusammenleben erinnern und es als einen Auftrag an die künftigen Generationen weitergeben.

Verlorene Tradition

Für viele Juden hat das aber einen Beigeschmack, denn die meisten Besucher der Synagogen sind Touristen, keine Gläubigen. Gottesdienste finden hier nur statt, wenn jüdische Pilgergruppen kommen. Ein jüdisches Gemeindeleben gibt es anders als in Marrakesch oder Casablanca nicht.

Besucher aber können einen Eindruck vom einst lebendigen jüdischen Leben in der Stadt bekommen.  Sie können durch die Altstadt schlendern und an manchen Türstürzen noch den Davidstern finden. Die Händler im Souk zeigen gerne den alten Silberschmuck jüdischer Berber, die einst diese Handwerkskunst einführten. Beliebt war in früheren Zeiten etwa die Hand der Fatima, ein Schutzsymbol im islamischen Volksglauben, kombiniert mit dem Davidstern. Im Haus aufgehängt, sollten das islamische und das jüdische Motiv gemeinsam alles Böse fernhalten.

Das muslimisch-jüdische Zusammenleben war nicht frei von Spannungen, sagt der amerikanische Historiker Daniel Schröter, ein Spezialist für jüdisches Leben in Nordafrika. Aber Juden haben einen wichtigen Beitrag zur arabischen Kultur geleistet, haben städtisches Leben, Literatur und vor allem Musik mitgeprägt. Diese Tradition ist zum großen Teil abgebrochen. Essaouira erinnert daran, welcher Reichtum hier verlorenging.

Claudia Mende

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