Wie lebt es sich in einer zerrissenen Stadt? 

Christiane Schlötzers 24 Porträts von Istanbulern fügen sich zu einem türkischen Kelim zusammen, dessen Buntheit nicht zuletzt die Augen dafür öffnet, dass die Türkei mehr ist als die Fixierung auf ihren Präsidenten.
Christiane Schlötzers 24 Porträts von Istanbulern fügen sich zu einem türkischen Kelim zusammen, dessen Buntheit nicht zuletzt die Augen dafür öffnet, dass die Türkei mehr ist als die Fixierung auf ihren Präsidenten.

Die Türkei ist viel mehr als ihr Präsident: Christiane Schlötzer porträtiert Menschen aus Istanbul und erörtert dabei Ereignisse der türkischen Geschichte. Von Rainer Hermann  

Von Rainer Hermann

Aus Istanbuls sechzehn Millionen Einwohnern hat Christiane Schlötzer vierundzwanzig herausgegriffen und mit ihren Lebensgeschichten ein Porträt der Metropole am Bosporus gezeichnet. Jede Person steht für eine Stunde des Tages. So ist das Stundenbuch einer Stadt entstanden, von der es heißt, dass sie niemals schläft. 

Die Autorin ist eine gute Beobachterin und eine ebenso gute Zuhörerin. In jedem der vierundzwanzig Stücke beschreibt sie den Alltag der porträtierten Person, lässt sie ihre Lebensgeschichte erzählen und führt die Leser damit immer tiefer in die Stadt hinein. Man erfährt, wie zerrissen die Stadt und die türkische Gesellschaft sind. Die einen trifft die Autorin vor der zauberhaften Landschaft des Bosporus, andere führen sie nach Silivri mit dem Hochsicherheitsgefängnis vor den Toren der Stadt, das vor allem für die vielen politischen Gefangenen gebaut wurde. 

Kampf um Selbstbestimmung 

Zu Wort kommen einfache Istanbuler, etwa die Frau eines Imams aus der Nachbarschaft, und mächtige wie ein Berater von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan. Die helle Seite des Istanbuler Lebensgefühls zeigen ein Architekt und ein kreativer Koch, auch ein Nachkomme der osmanischen Aristokratie, die dunkle Seite ein Menschenrechtsanwalt, der gegen die Ungerechtigkeit kämpft, ein Psychotherapeut, der die Doppelmoral in der Gesellschaft offenlegt, und politische Opfer wie Osman Kavala

Ein Stadtteil von Istanbul; Foto: picture-alliance/Chromorange/E. Perc
Straßenszene in Istanbul: Heute ist kaum noch sichtbar, dass Istanbul lange Zeit eine kosmopolitische Stadt war. In einem der Porträts von Christiane Schlötzer sagt Ethel Rizo über ihre Familie: "Ich hatte eine Mutter, die Deutsch sprach, einen Vater, der mit meiner Mutter Französisch sprach, eine Großmutter, die Italienisch, und einen Großvater, der mit mir Griechisch sprach.“ Und wenig später: "Ich bin deutsch, griechisch, italienisch, jüdisch, aber ich fühle mich als Istanbulerin. Ich liebe diese Stadt. Es gibt Plätze am Bosporus, wenn ich die sehe, habe ich immer wieder Tränen in den Augen.“ 



Der Frustration eines Arztes, der die Türkei verlassen will, steht die Energie einer jungen Gezi-Aktivistin entgegen. Mehrere Porträts führen in die lebendige Kunstszene. Biographien von Nachkommen der einst zahlreichen nichtmuslimischen Minderheiten sind so atemraubend, wie sie nur das Leben geschrieben haben kann. Das gilt ebenso für verzweifelte Jugendliche, die für individuelle Selbstbestimmung kämpfen. 

Tränen in den Augen 

Schlötzer führt die Leser in das Istanbuler Universitätsviertel, wo sich ein erfolgreicher Unternehmer noch Jahrzehnte nach dem Studium mit Kommilitonen und Freunden in einem einfachen Studentencafé auf Plastikstühlen zu einem wöchentlichen Lese- und Diskussionskreis trifft. Dabei erfährt man viel über die türkische Gesellschaft.  

Tief in das kurdische Anatolien führt die Geschichte einer jungen Frau, die die Tochter einer Zweitfrau ist und erzählt, wie sie es geschafft hat, aus der Enge des in jeder Hinsicht rückständigen kurdischen Dorfes zu entkommen. 

Wie kosmopolitisch Istanbul einst war, lässt Ethel Rizo erahnen, die über ihre Familie sagt: "Ich hatte eine Mutter, die Deutsch sprach, einen Vater, der mit meiner Mutter Französisch sprach, eine Großmutter, die Italienisch, und einen Großvater, der mit mir Griechisch sprach.“

Cover von Christiane Schlötzers "Istanbul – ein Tag und eine Nacht“. Ein Porträt der Stadt in 24 Begegnungen, Berenberg Verlag, Berlin 2021; Quelle: Verlag.
Eine Metropole in 24 Porträts: Christiane Schlötzer, insgesamt zehn Jahre Korrespondentin der "Süddeutschen Zeitung“ in Istanbul, hat für ihr Buch ganz unterschiedliche Menschen aus der türkischen Metropole porträtiert und gibt so einen guten Einblick in die vielfältige, aber auch zerrissene türkische Gesellschaft. "Die Porträts fügen sich zu einem türkischen Kelim zusammen, dessen Buntheit nicht zuletzt die Augen dafür öffnet, dass die Türkei mehr ist als die Fixierung auf ihren Präsidenten,“ schreibt Rainer Hermann. "Christiane Schlötzer hat mehrere lesenswerte Bücher über die Türkei und Istanbul geschrieben, dieses ist vielleicht das schönste. Wer künftig nach Istanbul reist, sollte es im Gepäck haben."

Und wenig später: "Ich bin deutsch, griechisch, italienisch, jüdisch, aber ich fühle mich als Istanbulerin. Ich liebe diese Stadt. Es gibt Plätze am Bosporus, wenn ich die sehe, habe ich immer wieder Tränen in den Augen.“ 

Der Bezug zu Deutschland 

Die Autorin hat viele ihrer Heldinnen und Helden während der zehn Jahre kennengelernt, in denen sie als Korrespondentin der "Süddeutschen Zeitung“ in Istanbul gearbeitet hat.

Geschrieben hat sie das Buch aber in ihrer Zeit als Stipendiatin der Kulturakademie in Tarabya.

Die Kulturakademie bietet in den historischen Gebäuden der Residenz des deutschen Botschafters in Istanbul Künstlern und Schriftstellern die Gelegenheit, vier bis acht Monate an Projekten zu arbeiten, die einen Bezug zur Türkei haben.

Die Akademie untersteht der deutschen Botschaft, die kuratorische Verantwortung liegt beim Goethe-Institut.

Die Leser erfahren viel mehr über die Stadt als bloß über einzelne Schicksale. Jedes Porträt erläutert aus einer individuellen Mikroperspektive heraus auch die großen Entwicklungen der Türkei.

Mehrere rote Fäden ziehen sich durch das Buch.

Ein Faden ist die gesellschaftliche Entwicklung, die die Landflucht nach dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst hat und die Istanbul erst zu einer Stadt dieser Größe hat anwachsen lassen.

Die meisten Einwohner Istanbuls haben eine innertürkische Migrationsgeschichte, bei der sie die Armut des anatolischen Dorfes hinter sich gelassen haben. 

Jedes Porträt schildert aus der Perspektive von Betroffenen zudem wichtige Ereignisse der Türkei, etwa den Bevölkerungsaustausch zwischen der Türkei und Griechenland 1923, die Ausschreitungen gegen die in Istanbul lebenden Griechen 1955 und 1964, den Beginn der Herrschaft von Erdogans AKP 2002, die Gezi-Proteste von 2013, den gescheiterten Putschversuch von 2016 und die Kommunalwahl von 2019.

Ein weiterer roter Faden ist der Bezug vieler der Porträtierten zu Deutschland. Daran erkennt man, wie wichtig Deutschland für die Türkei ist. 

Die Porträts fügen sich zu einem türkischen Kelim zusammen, dessen Buntheit nicht zuletzt die Augen dafür öffnet, dass die Türkei mehr ist als die Fixierung auf ihren Präsidenten.

Christiane Schlötzer hat mehrere lesenswerte Bücher über die Türkei und Istanbul geschrieben, dieses ist vielleicht das schönste. Wer künftig nach Istanbul reist, sollte es im Gepäck haben. 

Rainer Hermann 

© Frankfurter Allgemeine Zeitung 2022 

Christiane Schlötzer: "Istanbul – ein Tag und eine Nacht“. Ein Porträt der Stadt in 24 Begegnungen.Berenberg Verlag, Berlin 2021. 280 S.

 

 

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