Hilflos in der Westbank

Mit massiven Vergeltungsaktionen gegen die Hamas und die palästinensische Zivilbevölkerung provoziert Israel eine neue Eskalation in den Autonomiegebieten. Der Einsatz der Armee ist der größte im Westjordanland seit dem Ende der zweiten Intifada im Jahr 2005. Ein Kommentar von René Wildangel

Von René Wildangel

Am 12. Juni 2014 wurden in der Nähe der Siedlung Gush Etzion drei israelische Jugendliche mutmaßlich entführt. Mutmaßlich, denn es gibt es noch immer kein Bekennerschreiben. Auch die Hintergründe ihres Verschwindens sind unklar. Sollte es sich um eine Entführung handeln, ist diese scharf zu verurteilen; Terrorismus und Gewalt sind kein Mittel für die Erreichung politischer Ziele.

Belege für die Position des israelischen Ministerpräsidenten Netanjahu, der die Hamas verantwortlich macht, gibt es aber bisher nicht. Was als Suchoperation der israelischen Armee nach den vermissten Jugendlichen beginnen sollte, ist mittlerweile zu einem groß angelegten Armeeeinsatz in der Westbank geworden, der an die Tage der zweiten Intifada erinnert.

Die Auswirkungen der Militäreinsätze auf die palästinensische Zivilbevölkerung sind schockierend: Mindestens 361 Menschen wurden nach Angaben der israelischen Armee bereits festgenommen, darunter viele Hamas-Mitglieder und über 50 ehemalige Gefangene, die 2011 im Rahmen des Gefangenenaustausches mit dem israelischen Soldaten Gilad Shalit freigelassen wurden.

Rundumschlag gegen Palästinenser

Die Haftbedingungen für Hamas-Angehörige in israelischen Gefängnissen wurden vom israelischen Kabinett verschärft. Über 1.000 Privathäuser wurden durchsucht, in viele Haushalte drang die israelische Armee in den Nachtstunden ein. Selbst in Gebiete, die seit den Oslo-Vereinbarungen unter Verwaltung der palästinensischen Autonomiebehörde stehen, rückt die Armee verstärkt vor.

Israelische Armee-Einheiten im Westjordanland; Foto: Reuters/Mussa Qawasma
Auf Konfrontationskurs: Der Fall der drei entführten israelischen Jugendlichen eröffnet neue Fronten zwischen Israel und den Palästinensern. Israel hat im Zusammenhang mit der mutmaßlichen Entführung inzwischen 361 Menschen festgenommen. Bei Zusammenstößen während der Razzien wurden nach Angaben von Ärzten vier Palästinenser getötet.

In Ramallah, dem Sitz der Autonomiebehörde, und in Birzeit, der größten palästinensischen Universität, gab es Vorstöße und Verhaftungen, die Ausschreitungen und Proteste zur Folge haben. Auch Büros von lokalen und internationalen Nichtregierungsorganisationen (z.B. das lokale Büro der international tätigen Hilfsorganisation "Islamic Relief") und Medien (neben palästinensischen Medienorganisationen das Büro des englischsprachigen Monatsmagazins "This week in Palestine" und des russischsprachigen "Russia Today") wurden von der Armee durchsucht und teils verwüstet. Große Städte wie Hebron und Nablus sind abgeriegelt. Mittlerweile wurden fünf Palästinenser, darunter mehrere Jugendliche, bei den Armeeaktionen und den Ausschreitungen als Reaktion darauf bereits getötet; ein weiterer Palästinenser starb an einem Herzinfarkt, als die Armee in sein Haus eindrang.

Die israelische Regierung macht derweil massiv Stimmung gegen "Terroristen", mit der sie nicht nur bewaffnete Kämpfer, sondern die gesamte Hamas und ihre politischen Vertreter und Sympathisanten meint. Das öffnet die Tür für willkürliche Verhaftungen, unter anderem wurden auch Parlamentspräsident Aziz Dweik und weitere Parlamentarier erneut in Haft genommen.

Menschenrechte und Unschuldsvermutung müssen auch für Mitglieder der Hamas gelten, selbst wenn diese ihrerseits in der Vergangenheit für schwere Menschenrechtsverletzungen verantwortlich war.

Unter dem Banner der Terrorismusbekämpfung

Unter dem Banner der Terrorismusbekämpfung rechtfertigt die israelische Regierung ihr Vorgehen. Dass dies in Teilen der israelischen Bevölkerung auf Verständnis stößt, zeigt eine Facebook-Seite auf Hebräisch mit dem zynischen Titel "Bis die Jugendlichen zurückkommen, erschießen wir jede Stunde einen Terroristen", die bereits über 20.000 "Likes" sammeln konnte. Mittlerweile protestierten aber auch 250 besorgte Israelis in Tel Aviv gegen die Armeeeinsätze in der Westbank.

Die politische Führung der Hamas weist die Verantwortung für die Entführung von sich. Gerade hatte man sich mit der Fatah auf eine Einheitsregierung geeinigt, um aus der seit 2007 bestehenden Isolation im Gazastreifen auszubrechen. Die neue Regierung hat auch die Bedingungen des Nahostquartetts akzeptiert, die unter anderem einen Gewaltverzicht einschließen. Eine geplante Entführung wäre daher ein kalkuliertes Ende der Einheitsregierung, das derzeit kaum im Interesse der Hamas-Führung liegen dürfte.

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu; Foto: dpa
Massives militärisches Vorgehen aus politischem Kalkül: "Mit den groß angelegten israelischen Militäraktionen will der israelische Ministerpräsident offensichtlich die palästinensische Einheitsregierung torpedieren. Seit Wochen fordert Netanjahu vom palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas, den Versöhnungsprozess mit der Hamas aufzukündigen", schreibt Wildangel.

Nicht auszuschließen wäre eine Entführung durch Einzeltäter, ob der Hamas zugehörig oder nicht, möglicherweise mit dem Ziel, palästinensische Gefangene in israelischen Gefängnissen freizupressen – allerdings wurden seit dem Verschwinden bis heute noch keine derartigen Forderungen gestellt. Derzeit befinden sich rund 5.000 palästinensische Häftlinge in israelischen Gefängnissen, über 120 demonstrieren seit Wochen mit einem Hungerstreik gegen die Praxis der "Administrativhaft", mit der Israel politische Gefangene ohne Anklage und Verfahren mitunter jahrelang festhält.

Netanjahus Albtraum

Mit den groß angelegten israelischen Militäraktionen will der israelische Ministerpräsident offensichtlich die palästinensische Einheitsregierung torpedieren. Seit Wochen fordert Netanjahu vom palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas, den Versöhnungsprozess mit der Hamas aufzukündigen. Eine starke und geeinte palästinensische Führung, die nach dem Scheitern der jüngsten Verhandlungen eine neue politische Strategie entwickeln und dafür sogar noch internationale Unterstützung bekommen würde, wäre Netanjahus Albtraum.

Abbas wirkt derweil hilfloser denn je. Während er Netanjahu zusicherte, alles zu tun, um die Entführten zu finden und die Täter zur Rechenschaft zu ziehen, kann er den Schutz der eigenen Bevölkerung nicht gewährleisten. 80 Prozent der Westbank sind für seine Sicherheitskräfte nicht zugänglich, in die wenigen quasi-autonomen Gebiete stößt jetzt ebenfalls die israelische Armee vor.

Dass Abbas die Sicherheitszusammenarbeit mit Israel als "heilig" bezeichnete, bringt ihm viel Spott ein. Das Vertrauen in die palästinensische Führung geht so weiter verloren, in Ramallah hat eine Kampagne begonnen mit dem Titel "Ich bin Palästinenser – Mahmud Abbas repräsentiert mich nicht".

Die Qualität von Kollektivstrafen

Die israelische Strategie der militärischen Eskalation setzt die Sicherheit und Unversehrtheit der palästinensischen Zivilbevölkerung aufs Spiel. Das Vorgehen der israelischen Armee gegen Zivilisten ist unverhältnismäßig und hat die Qualität von Kollektivstrafen, die nicht mit der Suche nach den Entführten gerechtfertigt werden können. Sie sind ein schwerer völkerrechtlicher Verstoß gegen die Genfer Konventionen und drohen, einen neuen Flächenbrand zu provozieren.

Israelische Soldaten während einer Hausdurchsuchung in Hebron; Foto: Reuters/Ammar Awad
"Die israelische Strategie der militärischen Eskalation setzt die Sicherheit und Unversehrtheit der palästinensischen Zivilbevölkerung aufs Spiel. Das Vorgehen der israelischen Armee gegen Zivilisten ist unverhältnismäßig und hat die Qualität von Kollektivstrafen, die nicht mit der Suche nach den Entführten gerechtfertigt werden können", schreibt Wildangel.

Der Schutz der palästinensischen Zivilbevölkerung muss dringend in den Mittelpunkt der internationalen Aufmerksamkeit gestellt werden. Schon seit Monaten beschleunigt Israel den Ausbau von Siedlungen in der Westbank; Zerstörungen von palästinensischen Häusern haben ebenso zugenommen wie gewaltsame Attacken seitens der Siedler. Elf palästinensische Zivilisten waren nach UN-Angaben bereits vor Beginn der aktuellen Krise im Verlauf dieses Jahres durch die israelische Armee getötet worden, über 1.000 wurden verletzt.

Zuletzt wurden im Mai 2014 zwei unbewaffnete palästinensische Teenager erschossen, die brutalen Bilder wurden von einer Sicherheitskamera aufgezeichnet. "Human Rights Watch" bezeichnete den Vorfall als Kriegsverbrechen. Ein internationaler Aufschrei blieb jedoch aus; viele Palästinenser fühlen sich hilflos angesichts vieler aktueller internationaler Reaktionen, die die Unversehrtheit der drei Entführten einfordern, aber die Sicherheit von Millionen Zivilisten in der Westbank und im Gazastreifen vernachlässigen.

Schutzlose Zivilbevölkerung

Die palästinensische Bevölkerung ist den Attacken von Armee und israelischen Siedlern schutzlos ausgeliefert. Zuletzt berichtete die palästinensische Nachrichtenagentur "Maan" von einem bewaffneten Angriff durch Siedler in Al-Bireh, einem Stadtteil von Ramallah.

Dass Siedler aus Psagot Trauernde angreifen, die einen zuvor erschossenen Palästinener beerdigen wollten, zeigt die Absurdität der Situation. Denn erklärtes Ziel des israelischen Verteidigungsministeriums ist es, die Jugendlichen zu finden und die Sicherheit der "Einwohner von Judäa und Samaria" zu gewährleisten – gemeint sind die israelischen Siedler in der Westbank.

Den drei Jugendlichen ist zuallererst zu wünschen, dass sie rasch und unversehrt in Freiheit gelangen. Die Art und Weise, wie ihr Schicksal allerdings derzeit für politische Ziele missbraucht wird, ist zynisch.

Dass der massive Ausbau von völkerrechtswidrigen Siedlungen in der Westbank und Ost-Jerusalem nicht nur die Sicherheit der palästinensischen Bevölkerung, sondern letztlich auch der israelischen Staatsbürger die dort leben gefährdet, fehlt in der öffentlichen Diskussion.

Keine noch so drastischen militärischen Maßnahmen werden die Sicherheit von Hunderttausenden Siedlern in der Westbank gewährleistet können, solange keine politische Lösung zur Beendigung der Besatzung gefunden wird.

René Wildangel

© Qantara.de 2014

René Wildangel ist der Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Ramallah.

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de