"Es ist eine moralische Pflicht zu differenzieren"

16 May 2021, Amsterdam, Niederlande, eine schwarze Frau hält bei einer Demonstration  ein Plakat gegen Kolonialismus hoch. In Amsterdam haben sich Tausende am Dam Platz versammelt, um israelische Angriffe und Zwangsenteignungen von Palästinensern in Sheikh Jarrah im besetzten Ost-Jerusalem zu verurteilen: Foto: Ana Fernandez/Zumo Wire/imago images
16 May 2021, Amsterdam, Niederlande, eine schwarze Frau hält bei einer Demonstration ein Plakat gegen Kolonialismus hoch. In Amsterdam haben sich Tausende am Dam Platz versammelt, um israelische Angriffe und Zwangsenteignungen von Palästinensern in Sheikh Jarrah im besetzten Ost-Jerusalem zu verurteilen: Foto: Ana Fernandez/Zumo Wire/imago images

Der israelische Lehrer und Reiseleiter Noam Yatsiv plädiert dafür, sich die Geschichte Israels und Palästinas möglichst differenziert anzuschauen, anstatt gängige Schlagworte zu übernehmen. Insbesondere für europäische Beobachter sei dies eine "moralische Pflicht“, schreibt er in seinem Essay.

Von Noam Yatsiv

Der jüngste Gewaltausbruch in Israel und Palästina wurde in den sozialen Medien von den bekannten Reflexen begleitet. Als israelischer Reiseleiter, der hauptsächlich mit Touristen aus Europa zu tun hat, stehe ich international in regem Kontakt, wenn auch derzeit wegen der Pandemie hauptsächlich digital. Ein Großteil der Reaktionen auf den Konflikt zeigt mehr als je zuvor, wie wenig viele Menschen tatsächlich über die neuere Geschichte der betroffenen Region wissen.

Derzeit liegen die Nerven blank, und die skandalöse Politik sowohl Israels als auch der Hamas erregt mehr Aufmerksamkeit als alles, was momentan in Europa zu anderen Themen gesagt oder gedacht wird. Trotzdem möchte ich mich zu Wort melden, denn in der aktuellen Situation könnten die Menschen bereit sein, sich ernsthaft mit dem Thema Israel und Palästina auseinanderzusetzen.

Auffällig ist eine besorgniserregende Korrelation zwischen der Verwendung bestimmter Phrasen und einem sehr oberflächlichen Verständnis des Konflikts. Ich denke dabei auch an einen Artikel, an einen offenen Brief von Intellektuellen und an eine Stellungnahme, die von einigen meiner deutschen Facebook-Kontakte geteilt wurde. Allen gemeinsam war ein exzessiver Gebrauch des Begriffs "kolonial“, um den Hintergrund des Konflikts zu beschreiben. Diese drei Beispiele sind symptomatisch für eine Grundhaltung gegenüber Israel, die in einflussreichen Aktivisten- und Intellektuellenkreisen zunehmend selbstverständlich wird.

Besonnener Umgang mit dem Etikett "kolonial“

Ein Vokabular, das früher fast ausschließlich auf akademische Debatten begrenzt war, wird  zum festen Bestandteil im Mainstream-Diskurs über Israel und Palästina. Immer mehr Menschen stellen sich im Rahmen eines globalen antikolonialen Kampfes hinter die Palästinenser. Dieser Kampf zielt darauf ab, Marginalisierte und Progressive hinter der Idee zu versammeln, Israel sei der Inbegriff aller historischen Übel, die infolge europäischer Hegemonialansprüche verursacht wurden – eine ebenso gefährliche wie absolut ahistorische Vorstellung.

Jüdische Siedler in Palästina in den 1880er Jahren (Quelle: https://orientxxi.info)
Welcher jüdischen Regierung gehörten die Juden eigentlich an, die sich ab den 1870er Jahren im osmanischen Palästina ansiedelten? Kamen sie mehrere Dutzend Jahre vor der Balfour-Deklaration als Schachfiguren einer souveränen Macht, die Menschen oder natürliche Ressourcen in diesem Teil des Osmanischen Reiches ausbeuten wollte? Waren die Siedler, die bis zur Gründung Israels – und zu einem großen Teil auch danach – hier ankamen, nach heutigem Verständnis nicht eher Geflüchtete oder Asylbewerber?

Dabei lehne ich eine differenzierte Verwendung dieser Begriffe keineswegs ab. Viele frühe Zionisten aus Europa waren durchaus Kinder ihrer Zeit und der damaligen Verhältnisse. Sie betrachteten Palästina durchaus als Gegenstand einer gewissen "Zivilisierungsmission“. Der "koloniale“ Deutungsrahmen kann insofern verschiedene Aspekte der jüdischen Besiedlung, der historischen Dynamik zwischen Juden und Arabern in Palästina und evtl. auch einige, wenn auch nicht alle Ursachen des Rassismus in Israel erklären.

Dieser "koloniale“ Deutungsrahmen kann uns viel über die israelische Politik in den besetzten Gebieten seit 1967 lehren. Doch es gibt unzählige Ebenen im Kontext dieser Geschichte, die aus dem Blick geraten, wenn mit dem Begriff "kolonial“ grob hantiert wird. Anders gesagt: Wenn man das Wort "kolonial“ als Synonym für Israel schlechthin verwendet, dann verhindert das ein tieferes Verständnis der Lage.

Die Stanford Encyclopaedia of Philosophy definiert die Praxis des "Kolonialismus“ als "die Entsendung von Menschen in ein neues Gebiet, wo die Ankommenden dauerhaft siedeln, während sie ihre politische Zugehörigkeit zu ihrem Herkunftsland beibehielten“. Geht man von dieser Definition aus, sollten Menschen, die mit diesem Begriff hantieren, einige Fragen beantworten, bevor sie Israel in jedem zweiten Satz als "kolonial“ bezeichnen:

Welcher jüdischen Regierung gehörten die Juden eigentlich an, die sich ab den 1870er Jahren im osmanischen Palästina ansiedelten? Kamen sie mehrere Dutzend Jahre vor der Balfour-Deklaration als Schachfiguren einer souveränen Macht, die Menschen oder natürliche Ressourcen in diesem Teil des Osmanischen Reiches ausbeuten wollte? Waren die Siedler, die bis zur Gründung Israels – und zu einem großen Teil auch danach – hier ankamen, nach heutigem Verständnis nicht eher Geflüchtete oder Asylbewerber?

Tatsache ist, dass diese Siedler einer Emanzipationsbewegung angehörten, die von den imperialen Mächten (zunächst von den Osmanen und später vom Britischen Empire) zunächst hofiert wurde, sich später aber gewaltsam der britischen Herrschaft widersetzte. Zahlreiche zionistische Vordenker, so auch Hannah Arendt, dachten damals eher an eine binationale Heimstätte als an einen ausschließlich "jüdischen Staat“ – zumindest aber an einen Staat mit voller Gleichberechtigung für beide Seiten. Diese Vision wurde ab 1920 durch nationalistische Gewalt von beiden Seiten getrübt, die schließlich im Krieg von 1948 gipfelte. Aber sie schwingt noch immer bei vielen mit, die sich als "Zionisten“ verstehen.



Wer ist eigentlich ein Einheimischer?

Zudem stellt sich die Frage, wer als Einheimischer gelten darf. Kann man die jüdischen Siedler wirklich auf eine gleiche Ebene mit den Franzosen in Algerien oder den Niederländern in Südafrika stellen? Die jüdische Zivilisation ist ein einzigartiges Phänomen. Sie ist mehr als „eine Religion“ und versteht sich seit Jahrtausenden als ein Volk. Und bereits Jahrhunderte vor dem Zionismus definierte dieses Kollektiv das Land Israel als sein Heimatland. Juden in allen Teilen der Welt beten seit jeher für die "Rückkehr nach Zion“. Sogar antizionistische ultraorthodoxe Juden benutzen in ihren Gebeten bis heute dieselben Worten.

Der Times Square in New York (Foto: picture-alliance/photoshot)
In welcher Region der Erde gelten Juden als „Einheimische“? Sind sie „Einheimische“ in Europa, wo sie wiederholt verfolgt und letztlich vernichtet wurden? Oder in zahlreichen anderen Ländern der Welt, wo sie oft als „fremd“ galten und drangsaliert wurden – so auch im Nahen Osten? Die eingereisten Siedler waren Teil desselben Kollektivs, das in den Todeslagern Europas ermordet wurde. Das ist kein unwesentliches Detail und es sollte nicht zynisch beiseite gewischt werden.

Man denke an die kolonialen Ursprünge von Ortsnamen in Nordamerika wie "New York“, "Nova Scotia“, "New Brunswick“ und anderen. Nicht von ungefähr gibt es in Israel keine Städte mit den Namen "Neuvilnius“, "Neuberlin“ oder "Neubagdad“. Hebräische Namen wie "Galil“ ("Jalil“ auf Arabisch, "Galiläa“ auf Deutsch) oder "Yehuda“ ("Yehuda“ auf Arabisch, "Judäa“ auf Deutsch) sind seit jeher fest im jüdischen Bewusstsein verwurzelt. Zu allen Zeiten gab es eine jüdische Präsenz in dieser Region, ganz zu schweigen von dokumentierten Pilgerreisen und einer von Rabbinern und wohlhabenden Juden gepflegten Bestattungstradition.

Die zionistische Einwanderung in der Neuzeit war in der Tat organisiert und fand in breitem Umfang statt. Aber Juden waren seinerzeit nicht die einzigen, die nach Palästina einwanderten. Warum wird ein Araber, der 1910 aus dem Irak oder dem Libanon nach Haifa einwanderte, per Definition als Einheimischer betrachtet, während ein Jude, der zur gleichen Zeit aus der Türkei oder Rumänien einreiste, per Definition als Kolonialist gilt?

Diese Frage lässt sich auch anders stellen. Wenn wir anerkennen, dass die palästinensischen Araber in diesem Land heimisch sind – was ich definitiv tue –, in welcher Region der Erde sind dann Juden Einheimische? Sind sie "Einheimische“ in Europa, wo sie wiederholt verfolgt und letztlich vernichtet wurden? Oder in zahlreichen anderen Ländern der Welt, wo sie oft als "fremd“ galten und drangsaliert wurden – so auch im Nahen Osten? Die eingereisten Siedler waren Teil desselben Kollektivs, das in den Todeslagern Europas ermordet wurde. Das ist kein unwesentliches Detail und es sollte nicht zynisch beiseite gewischt werden.

Es stimmt wohl, dass palästinensische Araber viele moderne jüdische Einwanderer als "Europäer“ wahrgenommen haben. Aber ist dieses "Europäertum“ oder „jüdisches Weißsein“ – eine heutzutage populäre Vorstellung – tatsächlich ein "Privileg“? Schützte dieses vermeintliche Privileg Juden dort vor Pogromen, von wo sie flohen? Was bedeutet es eigentlich, "weiß“ oder "europäisch“ zu sein, wenn es um die jüdische Existenz in Europa geht? Und wie passt die Vorstellung von Juden als "Weißen" zu der Tatsache, dass sie vorrangiges Ziel des Terrors von Neonazis und den Anhängern von "weißen“ Überlegenheitsfantasien sind?

Wachsende Kritik an Israel hat viele gute Gründe

Ich stelle diese Fragen nicht, weil ich irgendein Fehlverhalten Israels rechtfertigen will. Es sind Verbrechen begangen worden und Ungerechtigkeiten bestehen auch weiterhin. Die Kritik an Israel nimmt aus vielen guten Gründen zu. Netanjahus Israel war ultranationalistisch, zuweilen offen rassistisch und zeigte keinerlei Interesse an einer Lösung des Konflikts. Ganz im Gegenteil: Netanjahus Israel profitierte von der Spaltung zwischen Fatah und Hamas und vertiefte diese nach Kräften.

[embed:render:embedded:node:37575]

Israel unter Netanjahu hat seinen Zugriff auf das besetzte Westjordanland verstärkt, während es mit Annektierung drohte und weiter Öl ins Feuer goss. Es hat die brutale Belagerung der Bevölkerung im Gazastreifen verlängert und begründete das schon längst nicht mehr mit dem Ziel, die Herrschaft der Hamas zu brechen. Israels Regierung Netanjahu hat mit rechtsradikalen Organisationen kollaboriert und mit der Verabschiedung des Nationalstaatsgesetzes 2018 alle nicht-jüdischen Bürger des Landes gedemütigt.

Ich verstehe den Wunsch, sich hinter die Unterdrückten zu stellen und ihnen Gehör zu verschaffen, denn, ja, die Palästinenser werden unterdrückt. Jeder darf konkrete Forderungen an Israel stellen. Aber Juden darüber zu belehren, wo sie Einheimische sind (und wo nicht), oder sie aufzufordern, ihre eigene Identität zu "dekolonisieren“, ist keine konkrete Forderung. Außerdem entbehrt diese Forderung jeder moralischen Grundlage, wenn sie von Angehörigen derjenigen Gesellschaften stammt, die die Juden einst vertrieben oder ermordet haben, wie etwa Deutsche oder Österreicher. So einfach ist das.



Andere Wege zu finden, sich mit Palästina empathisch auseinanderzusetzen, ist weder unmöglich, noch zu viel verlangt. Historisches und gegenwärtiges Verständnis, sowie ein Anerkennen der Komplexität des Konfliktes, sind ein Anfang. Projektionen, Vereinfachungen und Vorurteile sind jedoch hinderlich.



Palästinenser müssen kein Verständnis für Zionismus aufbringen



Es ist verständlich, dass die meisten Palästinenser kein Verständnis für den Zionismus haben. Insbesondere da seine Verwirklichung schlussendlich zu einem großen Teil auf ihre Kosten geschah. Ihr nationaler Widersacher war und ist tatsächlich ein jüdischer.



Diejenigen, die nicht Palästinenser sind, haben jedoch eine moralische Pflicht sich mit diesen Fragen zu beschäftigen bevor sie Israel als "kolonialistisch" diffamieren. Das meint nicht, dass Solidarität mit Palästina mundtot gemacht oder auch nur ihre Ausdrucksweise diskreditiert werden soll. Es soll jedoch ein Plädoyer dafür sein, die Situation kritisch zu betrachten, anstatt Phrasen zu dreschen. Genauso sollte es selbstverständlich sein, die Vorstellung zu hinterfragen, dass Israels Aktionen im Gazastreifen rein der "Selbstverteidigung" dienen würden. Der kritische Anspruch sollte hier nicht anders lauten.



Aktivisten sollten ihrerseits begreifen, dass es sie von den meisten Juden entfremdet, wenn sie sich "Israel ist Kolonialismus“ auf ihre Fahnen schreiben. In Europa werden auch dadurch die kleinen Gemeinschaften der Nachkommen, die den Genozid überlebt haben, einem wachsenden Antisemitismus ausgesetzt. Aktivisten schaffen mit solchen Zuschreibungen eine Atmosphäre, in der die Juden – einschließlich der friedliebenden Gemäßigten unter ihnen – dafür verurteilt werden, dass sie sich dem "antikolonialen“ Jargon gegenüber Israel nicht anschließen.

Mit der Kennzeichnung Israels als "kolonial“ schaffen sie eine Art Lackmus-Test, den es zu bestehen gilt, um einen Platz in der "Gemeinschaft der Guten“ zu verdienen. Es macht mich sprachlos, dass es lautstarke Teile der Linken gibt, die sich einerseits viel auf ihre Sensibilität gegenüber Minderheiten zugutehalten, auf diesem Auge aber blind zu sein scheinen. Die Politik von Jeremy Corbyn und anderen "antiimperialistischen“ Bewegungen ist beispielhaft für dieses Phänomen.





Eine letzte Anmerkung: Nein, die Situation ist nicht symmetrisch. Israel ist ein souveräner Staat und eine militärische Supermacht. Beides muss einhergehen mit Verantwortung und einer Pflicht dazu, für die eigenen Taten Rechenschaft abzulegen. Ein Ende der Besatzung würde aber nicht unbedingt Frieden garantieren. Ein Konflikt zwischen zwei Staaten oder ein Bürgerkrieg innerhalb eines Staates könnten folgen. Es gibt aber auch ein symmetrisches Element im Konflikt: Echte, dauerhafte Versöhnung muss darauf beruhen, die legitime Existenz des anderen Kollektivs anzuerkennen.

Beide Völker haben sehr gute Gründe, sich an keinen anderen Ort der Welt als an eben dieses Land gebunden zu fühlen. Die israelischen Juden werden niemals fortgehen, noch werden sie sich jemals davon überzeugen lassen, ihre selbstbestimmte Präsenz in der Region sei "brutaler Kolonialismus“. Ganz gleich, wie viele "offene Briefe“ von Intellektuellen veröffentlicht werden. Und auch die Palästinenser werden niemals fortgehen, noch werden sie jemals eine Zukunft als zweitklassige "Gäste“ auf ausschließlich jüdischem Boden akzeptieren. Beide haben recht. Sofern Ihnen die Zukunft der Menschen hier am Herzen liegt, sollten Sie deshalb aufhören, solche Illusionen zu schüren.

Noam Yatsiv

© Qantara.de 2021

Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers

Noam Yatsiv ist Lehrer und Reiseleiter in Haifa. Er arbeitet mit Pädagogen, Akademikern und anderen, die Israel besuchen. Yatsiv absolvierte den Studiengang „Regional Studies“ an der Universität Haifa.  Außerdem hat er einen Abschluss in Musikkomposition an der Jerusalemer Akademie für Musik und Tanz.