Wie man Frieden schafft 

 "Ich stelle mich auf keine Seite", sagt der Dirigent Zubin Mehta. "Es sind die Menschen in der Mitte, die leiden. Lasst uns dieses Leiden beenden." 
"Ich stelle mich auf keine Seite", sagt der Dirigent Zubin Mehta. "Es sind die Menschen in der Mitte, die leiden. Lasst uns dieses Leiden beenden." 

Der Dirigent Zubin Mehta ist 86 Jahre alt und setzt sich für Versöhnung zwischen Arabern und Juden in Israel ein. Mit Projekten, die Menschen einander näherbringen. Aus Tel Aviv informiert Peter Münch 

Von Peter Münch

Der Maestro sitzt in der ersten Reihe und betrachtet sich selbst vorne auf der Leinwand, lächelnd. Keinen Dirigentenstab hält er dort in der Hand, sondern ein fein verschnürtes Geschenkpaket. Er steht nicht befrackt im Konzertsaal, sondern in Freizeitkleidung an einem staubigen Checkpoint zwischen Israel und dem Westjordanland. Zubin Mehta wartet auf ein sechsjähriges palästinensisches Mädchen namens Hamsa. 

Als sie erscheint, nimmt er die Kleine bei der Hand, setzt sich mit ihr ins Auto, fährt zum Tel-Hashomer-Krankenhaus in der Nähe von Tel Aviv, führt sie durch die Klinikgänge, begleitet sie zu ihrer Krebsbehandlung. Hamsa wirft ihm Handküsse zu, zeigt beim Lächeln die Zahnlücken. "Sie ist so süß", sagt Zubin Mehta, "und das, was wir hier machen, wird dabei helfen, dass es eines Tages Frieden gibt zwischen Arabern und Juden." 

Mehr als eine Million Kilometer legen die Freiwilligen jedes Jahr zurück 

Was Zubin Mehta da macht - in diesem vor sechs Jahren gedrehten Video und nun hier als Stargast in einer Lounge des Tel Aviver Charles-Bronfman-Auditoriums - ist Freiwilligenarbeit für eine Organisation namens "Road to Recovery". Er unterstützt damit die Arbeit von rund tausend ehrenamtlich aktiven Israelis, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Tag für Tag schwer kranke Palästinenser aus den besetzten Gebieten in israelische Krankenhäuser zu bringen. 20 000 Patienten chauffieren sie im Jahr, die meisten davon Kinder. Mehr als eine Million Kilometer legen sie dabei zurück.

Patienten werden von der Organisation "Road to Recovery" aus den besetzten Gebieten nach Israel zur Behandlung gebracht  (Quelle: Road to Recovery, Facebook)
Heilung und Hoffnung: Darum geht es auf diesem "Weg zur Genesung", es geht um Lebensrettung im Feindesland, und vor allem geht es darum, über die nahöstliche Dauerfront hinweg von Mensch zu Mensch direkte Hilfe zu leisten. Das Motto lautet: "Für Frieden und Versöhnung - Menschlichkeit vor Politik". Und dieses Motto hat sich Zubin Mehta zu eigen gemacht. "Ich stelle mich auf keine Seite", sagt er. "Es sind die Menschen in der Mitte, die leiden. Lasst uns dieses Leiden beenden." 

Um Heilung und Hoffnung geht es auf diesem "Weg zur Genesung", es geht um Lebensrettung im Feindesland, und vor allem geht es darum, über die nahöstliche Dauerfront hinweg von Mensch zu Mensch direkte Hilfe zu leisten. Das Motto lautet: "Für Frieden und Versöhnung - Menschlichkeit vor Politik". Und dieses Motto hat sich Zubin Mehta zu eigen gemacht. "Ich stelle mich auf keine Seite", sagt er. "Es sind die Menschen in der Mitte, die leiden. Lasst uns dieses Leiden beenden." 

In diesen Tagen ist der 86-Jährige nach drei Jahren Abwesenheit erstmals wieder in Israel. Eine Krebserkrankung galt es zu überwinden und dann auch noch die Corona-Pandemie. Doch nahtlos knüpft er nun daran an, was er hier schon seit mehr als 60 Jahren macht: Er gibt Konzerte mit seinem Israel Philharmonic Orchestra, das er anno 1961 erstmals dirigierte und das ihn 1981 zum Musikdirektor auf Lebenszeit ernannt hatte. Und er mischt sich, ganz so wie sein Freund und Kollege Daniel Barenboim, in den israelisch-palästinensischen Konflikt ein, den er für eine "Tragödie" hält. "Dies ist ein Ort für zwei Völker", sagt er. "Sie müssen lernen, miteinander zu leben." 

Wenn es in Israel brenzlig wurde, war der Maestro zur Stelle 

Wenn Zubin Mehta von Israel spricht, dann sagt er immer nur "Wir". Das Land ist ihm zur Heimat geworden - neben Indien, wo er geboren wurde, neben Kalifornien, wo er die meiste Zeit lebt. Unzählige Geschichten gibt es darüber, wie er sich verbunden und verantwortlich fühlt für diese Heimat. 1967 zum Beispiel flog er mitten im Sechstagekrieg zum Dirigieren nach Israel, mit einer Frachtmaschine, auf einer Munitionskiste sitzend. Auch 1991 während des Golfkriegs war er da, als der irakische Diktator Saddam Hussein seine Scud-Raketen auf Tel Aviv feuerte und die Besucher mit Gasmasken zum Konzert kamen. 

Er ist ein Maestro mit Mission, und in Israel lieben sie ihn dafür. Nicht alle, aber die, auf die es ihm ankommt. Mit einer eigenen Stiftung sorgt Zubin Mehta dafür, dass Kinder aus arabischen Familien im Norden Israels Musikunterricht bekommen. "Man darf die Macht der Musik nicht unterschätzen", sagt er. "Musik bringt die Menschen zusammen, und ich hoffe, dass auch wir Musiker einen positiven Wandel bringen können."

Palästinenser aus den besetzten Gebieten warten am Grenzübergang nach Israel, um zur Arbeit fahren zu können (Foto: Reuters)
Sicherheitskontrolle an der Betonmauer, die Israel von den besetzten Gebieten trennt: Tausende Palästinenser, die eine Arbeitsgenehmigung für Israel besitzen, stehen hier täglich an zur Sicherheitskontrolle. Mit hochgeschlagenem Jackenkragen oder Kapuze strömen sie anschließend zu den Minibussen, die sie auf irgendwelche Baustellen in Israel bringen. "Beim ersten Mal haben die alle für mich wie Terroristen ausgesehen", sagt Shelly Davis, während sie ihren Toyota-Kleinwagen durchs Gewühl steuert. "Dabei gehen sie nur zur Arbeit, so wie ich." 



Ein paar von Zubin Mehtas Musikern aus dem Israel Philharmonic Orchestra haben den Maestro beim Wort genommen und übernehmen in ihrer Freizeit Krankentransporte für Road to Recovery. Shelly Davis, die Klarinettistin, ist dabei, und auch Uzi Shalev, der Fagottist.



Einmal pro Woche sind sie im Einsatz, und wer sie begleitet, muss früh aufstehen. Um 5.30 Uhr startet Shelly Davis an einem kühlen Morgen in Holon bei Tel Aviv, zur gleichen Zeit fährt auch Uzi Shalev zu Hause los. Treffpunkt ist ein Checkpoint nahe der palästinensischen Stadt Kalkilija. 

Im Schatten der Betonmauer werden die Kranken früh morgens aufgelesen 

Im Morgengrauen herrscht hier schon Chaos. Tausende Palästinenser, die eine Arbeitsgenehmigung für Israel besitzen, stehen täglich an zur Sicherheitskontrolle. Mit hochgeschlagenem Jackenkragen oder Kapuze strömen sie anschließend zu den Minibussen, die sie auf irgendwelche Baustellen in Israel bringen. "Beim ersten Mal haben die alle für mich wie Terroristen ausgesehen", sagt Shelly Davis, während sie ihren Toyota-Kleinwagen durchs Gewühl steuert. "Dabei gehen sie nur zur Arbeit, so wie ich." 

Auf einem Parkplatz im Schatten des Betonwalls, der Israelis und Palästinenser trennt, warten bereits die palästinensischen Patienten. Ins Auto von Shelly Davis steigt die elfjährige Rahaf Shouhane, die nach einer Knochenmarktransplantation vor drei Jahren regelmäßig zur Kontrolle ins Tel-Hashomer-Krankenhaus muss. Uzi Shalev nimmt Narjis Bahlak auf, die an akuter Leukämie erkrankt ist. Die 22-Jährige wird von ihrem Vater Ahmed begleitet. 

 

 

"Ich rede niemals über Politik", sagt Uzi Shalev bei der Fahrt in Richtung Krankenhaus. "Aber klar ist, dass wir keine Feinde mehr sein können, wenn wir zusammen im Auto sitzen." Bald schon ist Narjis Bahlak auf der Rückbank eingeschlafen, ihr Vater erzählt von seiner Arbeit als Installateur und davon, wie dankbar er ist für diese Hilfe, für den Fahrdienst ebenso wie für die Behandlung. "Die Politiker sind die, die die großen Konflikte machen", sagt er. "Wenn du die Leute nur lassen würdest, dann würden sie in fünf Minuten Frieden schließen."

So sind die Gespräche auf der Road to Recovery, dem Weg zur Genesung, und ein ewiger Optimist wie Zubin Mehta hat daran seine Freude. "Diese Arbeit ist inspirierend", sagt er zu Shelly Davis, Uzi Shalev und den anderen Freiwilligen, die an diesem Morgen ins Tel Aviver Charles-Bronfman-Auditorium gekommen sind. "Wenn ihr Gutes tut, wird alles besser werden." 

Zum Schluss will Zubin Mehta noch wissen, wie es Hamsa geht, der kleinen Patientin, die er auf der Fahrt ins Krankenhaus begleitet hatte. "Es geht ihr gut", sagt Yuval Roth, der Gründer von Road to Recovery. "Sie ist inzwischen vollständig genesen." 

Peter Münch 

© Süddeutsche Zeitung 2022/ Qantara.de 2022