Hemingway könnte neidisch werden

Der letzte Roman des kuwaitischen Schriftstellers Ismail Fahd Ismail (1940-2018) nimmt seine Leser mit in die Zeit des Iran-Irak-Krieges und lässt uns die Dinge aus Sicht einer lebensklugen Frau betrachten. Von Marcia Lynx Qualey

Von Marcia Lynx Qualey

Der Roman von Ismail Fahd Ismail stand bereits 2014 auf der Longlist und schaffte es 2018 auf die Shortlist des International Prize of Arabic Fiction. Der Jury gehörte damals Sophia Vasalou an. Sie war es auch, die den Roman später ins Englische übersetzte. Anfang Oktober ist er auch in deutscher Übersetzung von Christine Battermann erschienen.

Schauplatz des Romans ist Sabiliyat, ein Dorf an der iranisch-irakischen Grenze. Der Autor selbst wurde hier 1940 geboren. Er nimmt uns mit ins Jahr 1980, als die Bewohner des Dorfes mit Beginn der Feindseligkeiten zwischen den beiden Nachbarländern vertrieben werden.

Umm Qasem macht sich gemeinsam mit ihrer großen Familie auf den Weg ins Ungewisse: mit Ehemann, fünf erwachsenen Kindern, deren Ehepartnern, ihren Enkelkindern und neun Eseln. Sie ziehen in die Stadt Nadschaf. Laut Google Maps liegt die bedeutende Pilgerstadt etwa 85 Stunden Fußweg entfernt. Auf der Reise dorthin stirbt unerwartet Um Qasems Ehemann Abu. Die Familie begräbt ihn am Straßenrand zwischen zwei Palmen.

Tieftraurig zieht Umm Qasem weiter. Selbstverständlich liebt sie ihre Kinder und Enkelkinder. Und auch mit ihren Schwiegerkindern kommt sie offenbar gut aus. An ihrem neuen Zufluchtsort muss die Familie zunächst in einfachen Hütten leben. Die Not macht erfinderisch: Sie vermieten ihre Esel und können sich mit dem Verdienst ein neues Leben in der heiligen Stadt aufbauen. Die erwachsenen Kinder stehen wieder auf eigenen Füßen.

Die Dinge laufen recht gut. Nicht jedoch für Umm Qasem, die sich in der ihr fremden Umgebung fehl am Platz fühlt. Ohne ihren Garten, ihren Lebensgefährten, ihr Dorf. Wofür lebt sie überhaupt....?

Umm Qasem als Don Quixote

Ismail Fahd Ismail: "Die alte Frau und der Fluss" im Verlag Hans Schiler
Ein Roman, der voller Anmut und Empathie endet: "Die alte Frau und der Fluss" von Ismail Fahd Ismail setzt zudem einen magischen Schlusspunkt unter das Leben des überaus produktiven und profilierten Schriftstellers.

Also beschließt Umm Qasem, noch vor Tagesanbruch mit ihrem Esel Good Omen loszuziehen. Dabei ist Good Omen sowohl ihr treues Ross als auch ihr Sancho Panza. Sie reitet auf Good Omen, weicht Militärpatrouillen und kritischen Blicken aus und gelangt schließlich an den Ort, wo ihr Mann Abu begraben liegt.

Just dort wird sie von ihren erwachsenen Kindern eingeholt. Aber anstatt notgedrungen die Rückreise anzutreten, erklärt Umm Qasem, ihr Mann sei ihr im Traum erschienen und habe sich gewünscht, exhumiert und in seinem Geburtsort Sabiliyat begraben zu werden.

Bald sitzt sie wieder auf Good Omen und reitet auf ihr Heimatdorf zu. Im Gepäck die Knochen ihres Mannes, eingehüllt in sein Leichentuch. Man mag kaum glauben, dass ihre Kinder sie gehen lassen. Später wird uns klar, dass ihre Kinder ihre Mutter besser kennen als wir: Sie wissen offenbar, dass es vergebens wäre, Umm Qasem aufhalten zu wollen.

Zusammen schaffen es Umm Qasem und Good Omen zurück ins Dorf. Dort verstößt sie mit ihrem Aufenthalt zwar gegen die strengen militärischen Vorschriften, aber Umm Qasem hat mit Leutnant Abdel Kareem leichtes Spiel: Er erlaubt ihr, über das persische Neujahrs- und Frühlingsfest Nouruz im Dorf zu bleiben, zumal wegen der Feiertage die Waffen gerade ruhen.

Noch weiß sie nicht recht, was sie tun soll, wenn das Fest vorbei ist, aber Umm Qasem ist keine, die sich übermäßige Sorgen um die Zukunft macht. Stattdessen schaut sie sich um und überlegt, was zu tun ist. Der Fluss wurde als Vorsichtsmaßnahme gegen bewaffnete Taucher aufgestaut. Die Pflanzen verdorren, die Bäume sterben ab und die Frösche sitzen auf dem Trockenen.

Immer wenn Umm Qasem um eine Eingebung fleht, tritt im Traum ihr verstorbener Mann an sie heran und sagt ihr, was zu tun ist. Wie bei solchen Geschichten üblich, können wir nie ganz sicher sein, ob Umm Qasem selbst an die vermeintlichen Botschaften aus dem Jenseits glaubt oder diese nur erfindet, um getrost das tun zu dürfen, wonach ihr der Sinn steht.

Umm Qasem als Robinson Crusoe

Umm Qasem muss sich wie eine Gestrandete ihr Leben völlig neu aufbauen. Wahrscheinlich steckte in ihr schon immer eine Art Philosophin. Die neue Einsamkeit um sie herum veranlasst Umm Qasem, die Art vermeintlich törichter aber eigentlich kluger Fragen zu stellen, die sie sich in Gegenwart anderer Dorfbewohner vielleicht verkneifen würde.

Da sie schon so eine "alte" Frau ist (in Wahrheit ist sie erst in den 50ern), trauen ihr die in der Nähe stationierten Soldaten nicht zu, dass sie die vom Militär gebauten Dämme mit einer Axt einreißen und so die nahegelegenen Bäume und Frösche retten könnte. In der Zwischenzeit besorgt sie den Soldaten Essen, kocht für sie, pflanzt Rosenstecklinge und richtet die von Kugeln beschädigten Häuser wieder her.

Als das Neujahrsfest vorüber ist, flammen die Feindseligkeiten wieder auf und Umm Qasem wird angewiesen, zu gehen. Good Omen und sie haben zwar große Angst vor den Angriffen, aber was würde in Nadschaf auf sie warten?

Auch wenn die wehrpflichtigen Soldaten, mit denen Umm Qasem zu tun hat, durchweg als freundlich dargestellt werden, schlägt sich der Roman auf keine Seite der Kriegsgegner. Die Soldaten wissen, dass sie nicht die "Good Guys" sind. Einer sagt ihr hinter vorgehaltener Hand, dass auch sie eine ganze Reihe von Städten an der Grenze zerstört hätten. Unter dem gütigen Einfluss von Umm Qasem befolgen diese Soldaten nicht nur Befehle. Sie setzen Pflanzen, reparieren Häuser und kochen selbst Dattelsirup.

Umm Qasem scheint über sich herauszuwachsen. Da verliert ein junger Soldat namens Jasem – der sie mittlerweile Mutter nennt – bei einem Angriff seine Hand. Wie in allen schwierigen Momenten kommt ihr Mann im Traum zu ihr. Er erzählt ihr, Jasem werde an die Front zurückkehren.

Als Umm Qasem Leutnant Abdel Kareem von ihren Träumen erzählt, ist dieser alles andere als begeistert. Die Lage wird schwierig. Ohne den Schluss vorwegnehmen zu wollen: Der Roman endet voller Anmut und Empathie. Gleichzeitig setzt er einen magischen Schlusspunkt unter das Leben des überaus produktiven und profilierten Schriftstellers Ismail Fahd Ismail: Dieser verstarb Ende September letzten Jahres im Alter von 78 Jahren in Kuwait. Mögen seine Bücher weiterleben wie Abu Qasem.

Marcia Lynx Qualey

© Qantara.de 2019

Aus dem Englischen von Peter Lammers

Ismail Fahd Ismail: "Die alte Frau und der Fluss", Aus dem Arabischen von Christine Battermann, Verlag Hans Schiler 2019, 205 Seiten, ISBN 9783899302172