Das Rassismus-Problem des Westens

Der Mob in Chemnitz hatte viel mit den Neonazis, Ku-Klux-Klan-Anhängern und anderen Extremisten gemeinsam, die vor einem Jahr in Charlottesville, im amerikanischen Bundesstaat Virginia, für Chaos sorgten, schreibt Ian Buruma in seinem Essay.

Essay von Ian Buruma

Der Anblick eines deutschen Mobs, der in den Straßen Jagd auf Ausländer macht und die Arme zum Hitlergruß erhebt, ist aus offensichtlichen Gründen überaus verstörend. Genau das war kürzlich in Chemnitz zu sehen, einer trostlosen Industriestadt in Sachsen, die in der ehemaligen DDR als sozialistische Modellstadt gepriesen wurde (und die zwischen 1953 und 1990 Karl-Marx-Stadt hieß).

Die Polizei schien machtlos, den Ausschreitungen ein Ende zu setzen, die durch den Tod eines Deutsch-Kubaners im Zuge einer Messerstecherei mit zwei Männern aus dem Nahen Osten ausgelöst wurden.

Allerdings handelt es sich bei diesen Entwicklungen nicht um ein spezifisch deutsches Problem. Später versammelten sich in Chemnitz zehntausende Deutsche zu einem Rockkonzert, um gegen die Gewalt gegen Einwanderer zu protestieren.

Der Mob in Chemnitz hatte viel mit den Neonazis, Ku-Klux-Klan-Anhängern und anderen Extremisten gemeinsam, die vor einem Jahr in Charlottesville, im amerikanischen Bundesstaat Virginia, für Chaos sorgten. Beide Städte sind geschichtlich belastet: Diktatur der Nazis und der Kommunisten in Chemnitz, Sklaverei in Charlottesville. Und obwohl es für den gewalttätigen Extremismus in beiden Städten vielfältige Gründe gab, gehörte Rassismus mit Sicherheit dazu.

Viele weiße Amerikaner, insbesondere im ländlichen Süden, haben ein schweres Leben - schlechte Schulen, prekäre Jobs, relative Armut. Doch ihr Gefühl der Überlegenheit gegenüber Schwarzen war der eine Anker, an den sie sich klammern konnten. Aus diesem Grund war auch die Präsidentschaft Barack Obamas ein Schlag für ihr Selbstwertgefühl. Sie sahen ihren gesellschaftlichen Status schwinden. Donald Trump nutzte ihre Angst und ihren Groll aus.

Zuwanderer als Sündenböcke

Viele Ostdeutsche, vom Autoritarismus entwöhnt und entweder nicht in der Lage oder nicht willens, von den Bildungs- und Berufschancen in einem vereinten Deutschland zu profitieren, wenden sich rechtsextremen Demagogen zu, die die Schuld an all ihren Problemen Einwanderern und Flüchtlingen, insbesondere jenen aus muslimischen Ländern, in die Schuhe schieben.

Verschärft werden diese Abstiegsängste, von denen Menschen im gesamten Westen erfasst werden, wahrscheinlich durch die Ausweitung der Macht Chinas und das Gefühl, Europa und die Vereinigten Staaten würden ihre globale Vorherrschaft einbüßen. Das meinte Trump vermutlich auch, als er letztes Jahr in Warschau erklärte: "Die grundlegende Frage unserer Zeit lautet, ob der Westen den Willen hat zu überleben".

"Pro Chemnitz"-Demonstration in der Innenstadt von Chemnitz; Foto: Reuters/M. Rietschel
Ian Buruma: Ich bezweifle, dass sich die Massen in Chemnitz, die alles jagten, was nur entfernt nicht-europäisch aussah, speziell mit Fragen des muslimischen Glaubens oder der Kultur befassten. Die Parole des johlenden Pöbels lautete: "Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!"

Diese Frage wirft eine weitere auf: was er nämlich mit "Westen" meinte und ob die Verteidigung des Westens zwangsläufig rassistisch sein muss. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es eine Zeit, als der Westen von seinen Feinden (viele davon in Deutschland) als anglo-französisch-amerikanischer Liberalismus definiert wurde. Rechtsgerichtete Nationalisten – viele davon auch wieder Deutsche – beschrieben London und New York gerne als "judifiziert".

Der Krieg der Nazis gegen westliche Demokratien

Liberale Demokratien standen - dieser Ansicht zufolge - unter der Herrschaft des Geldes anstatt des Blut-und-Boden-Gedankenguts. Der ungarisch-britische Philosoph Aurel Kolnai schrieb in den 1930er Jahren ein berühmtes Buch unter dem Titel Der Krieg gegen den Westen, womit er den Krieg der Nazis gegen westliche Demokratien meinte.

Aber ebenso wie niederländische und skandinavische Populisten heute Schwulenrechte und Feminismus als symbolische Keulen für Angriffe gegen den Islam benutzen, thematisieren rechtsgerichtete Anführer "den Westen" als etwas, das vor den muslimischen Horden beschützt werden muss. Sie beziehen sich dabei oftmals auf den "jüdisch-christlichen Westen". In Kombination mit ihrer Begeisterung für rechte Regierungen in Israel schützt sie das vor Anschuldigungen des Antisemitismus, die traditionell in Zusammenhang mit der extremen Rechten geäußert werden.

Es ist nicht immer leicht, im Falle der Fremdenfeindlichkeit rassistische von kulturellen oder religiösen Argumenten zu trennen. Politiker äußern Rassismus selten so offen wie der aufstrebende niederländische Jung-Politiker Thierry Baudet, der vor der Wahl im letzten Jahr vor der "homöopathischen Verwässerung des niederländischen Volkes" durch Ausländer warnte. Oder die republikanische Parteisekretärin in Pennsylvania, die schwarze Football-Spieler kürzlich als "Paviane" bezeichnete.

Bis zum späten 19. Jahrhundert wurde Antisemitismus religiös begründet. Die Juden hätten den Erlöser Jesus Christus getötet. Die Juden hätten mit dem Blut christlicher Kinder die Matzen für ihr Pessach-Fest gebacken und so weiter. Das änderte sich, als pseudowissenschaftliche Rassentheorien um sich griffen. Als biologische Unterschiede zwischen Juden und "Ariern" ausgemacht wurden, gab es keinen Ausweg mehr aus der rassistischen Falle.

Silhouette Donald Trumps; Foto: picture-alliance/abaca
Als Trump erklärte, dem Mob in Charlottesville würden auch „einige sehr ordentliche Menschen” angehören und als er mexikanische Einwanderer als „Vergewaltiger“ bezeichnete, rückte er den Rassismus in den politischen Mainstream. Wenn die mächtigste Person in der westlichen Welt die Gewalt des Mobs heraufbeschwört, ist klar, dass der Westen in ernsthaften Schwierigkeiten steckt.

Islamfeindlichkeit als eine Form von Rassismus

Eine Gemeinsamkeit derjenigen, die der Meinung sind, Muslime seien eine Bedrohung für die westliche Zivilisation, besteht in der Weigerung, den Islam als religiösen Glauben anzuerkennen. Es handle sich um eine Kultur, sagen sie, die nicht mit "westlichen Werten" vereinbar sei. Genau dasselbe wurde in der Vergangenheit oftmals auch von der jüdischen "Kultur" gesagt.

Obwohl der Hintergrund muslimischer Menschen vielfältig ist und sie (ebenso wie Juden) aus zahlreichen Ländern kommen, kann die Feindseligkeit gegenüber dem Islam dennoch eine Form von Rassismus sein. Menschen, die aufgrund von Gepflogenheiten oder ihrer Geburt damit in Zusammenhang gebracht werden, sind Fremde, die es auszustoßen gilt.

Und diese Art bigotter Borniertheit beschränkt sich selten nur auf Muslime. Ich bezweifle, dass sich die Massen in Chemnitz, die alles jagten, was nur entfernt nicht-europäisch aussah, speziell mit Fragen des Glaubens oder der Kultur befassten.  Die Parole des johlenden Pöbels lautete: "Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!"

Die Neonazis in Charlottesville feierten die Kultur der Südstaaten durch die Zurschaustellung von Symbolen der alten Konföderation und durch Angriffe auf Schwarze; der ganze Sinn der Konföderation bestand ja darin, die weiße Vorherrschaft zu schützen. Darum ging es auch bei den Demonstrationen. Allerdings riefen die Teilnehmer auch: "Die Juden werden nicht an unsere Stelle treten!"

Eine derartige Geisteshaltung lauerte stets an den Rändern westlicher Gesellschaften, insbesondere in den USA, wo die weiße Vorherrschaft eine lange und unruhige Geschichte zurückblickt. In der Hoffnung auf einen Zugewinn an Stimmen ließen rechte Politiker oftmals durchblicken, dass sie diese Vorurteile möglicherweise teilen.

Als Trump jedoch erklärte, dem Mob in Charlottesville würden auch "einige sehr ordentliche Menschen" angehören und als er mexikanische Einwanderer als "Vergewaltiger" bezeichnete, rückte er den Rassismus in den politischen Mainstream. Wenn die mächtigste Person in der westlichen Welt die Gewalt des Mobs heraufbeschwört, ist klar, dass der Westen, wie auch immer man ihn definiert, in ernsthaften Schwierigkeiten steckt.

Ian Buruma

© Project Syndicate 2018

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier