Cancel Culture: Streit um Meinungsfreiheit in Frankreich

Eine Demonstration 2019 gegen Islamfeindlichkeit in Frankreich.
Eine Demonstration 2019 gegen Islamfeindlichkeit in Frankreich.

Im französischen Grenoble stehen zwei Professoren am Pranger, weil ein Streit um den Begriff Islamophobie eskalierte. Ist die Meinungsfreiheit in Gefahr? Ein Bericht von Stefan Dege und Heike Mund

Von Stefan Dege & Heike Mund

"Faschisten in unseren Hörsälen! Entlasst Professor Kinzler! Islamophobie tötet", haben Studierende in großen Lettern an das Gebäude der Universität in Grenoble gepinselt. Zeitgleich entfachten Aktivisten, sekundiert von der Studentengewerkschaft Unef (Union Nationale des étudiants de France), einen Shitstorm in den sozialen Medien, Tenor: "Islamophobie – ca suffit!" (dt. "Islamophobie - es reicht!"). Fünf Monate nach der brutalen Ermordung des Geschichtslehrers Samuel Paty ist Frankreich alarmiert. Zwei Professoren erhalten nun Polizeischutz, während die Affäre immer weitere Kreise zieht.

Was war passiert? Vor dreieinhalb Monaten diskutierten Studierende und Lehrkräfte an der Universität Grenoble über den Titel eines geplanten Seminars zum Thema Gleichheit. Sollte im Titel "Islamophobie" gleichrangig mit "Antisemitismus" und "Rassismus" genannt werden? Nein, urteilte Professor Klaus Kinzler, der deutsche Sprache und Kultur lehrt. Denn hinter Islamophobie verberge sich nur allzuoft Rassismus und nicht zwingend Verachtung für die Religion. Auf seinen Rat hin, das Wort "Islamophobie" daher nicht in den Titel aufzunehmen, schloss ihn die Runde aus der E-Mail-Debatte aus.

Ein Teil der intellektuellen extremen Linken, so berichtete Kinzler, wolle jetzt in jedem Muslim ein Opfer sehen, das es zu verteidigen gelte – "auch wenn man damit natürlich Islamisten Argumente liefert". Eine Rolle bei der jetzigen Debatte habe auch das Buch von Caroline Fourest,"Generation beleidigt",  gespielt. Fourest beklagt eine politische Hypersensibilisierung, die den öffentlichen Diskurs erschwert.

Klaus Kinzler, Professor am Institut für politische Studien in Grenoble. Foto: privat
Persona non grata: Für viele seiner Kolleginnen und Kollegen sei er jetzt der "reaktionäre rechtsradikale Nestbeschmutzer", der dem Ruf seines Instituts zutiefst geschadet habe, sagt Klaus Kinzler, Professor für deutsche Sprache und Kultur am Institut für Politische Studien in Grenoble. "Aber damit kann ich leben. Ich habe nichts anderes getan, als die Demokratie zu verteidigen. Ich habe mich, meinen Kollegen und die akademische Freiheit verteidigt".

So hätten sich einige muslimische Studierende über ihn beschwert; sie wollen nicht mehr mit ihn zusammenarbeiten, weil er sie mit seinen Argumenten verletzt habe. "Sie können also nicht mit jemandem diskutieren, der nicht ihre Meinungen teilt", so der Professor.

Offenbar hatte sich noch nicht herumgesprochen, dass der aus Stuttgart stammende Wahlfranzose Kinzler mit einer Muslima verheiratet ist. Als sich ein weiterer Professor mit Kinzler solidarisierte, rückte auch dieser ins Visier der Studentengewerkschaft Unef.

Daraufhin reagierte Marlène Schiappa, im Innenministerium in Paris zuständig für Staatsbürgerschaftsfragen. Nach der Enthauptung des Lehrers Samuel Paty sei die aktuelle Kampagne gegen die Lehrkräfte "besonders widerlich", sagte Schiappa in einem TV-Interview, "denn Paty war genauso den sozialen Netzwerken zum Fraß vorgeworfen worden". Die Unef habe es "in Kauf genommen, die beiden Professoren in Lebensgefahr zu bringen".

Diskussion zeigt Frankreichs Integrationsproblem

Aus Sicht des deutschen Historikers und Autors Philipp Blom spiegelt der französische Streit um Islamophobie das gesellschaftliche Klima in der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich wider, wo ein ausgeprägter "funktionaler Rassismus" herrsche.

Die Integration der Einwanderer aus Nordafrika sei eklatant gescheitert, sagte Blom im Interview. "In den Banlieues in der Peripherie von Paris lebt man nicht in Frankreich. Man hat nicht die gleichen Chancen wie andere Menschen."

Dort sei eine wütende und gedemütigte Generation herangewachsen, die aus Milieus stammt, in denen Kleinkriminelle und radikale Islamisten um die Vorherrschaft buhlen. "Dass das Wut erzeugt, auch mörderische Wut, das kann ich verstehen", sagt Blom.

Der deutsche Historiker und Autor Philipp Blom. Foto: Helmut Fohringer/APA/picture-alliance
Funktionaler Rassismus: Die Integration der Einwanderer aus Nordafrika in die französische Gesellschaft sei eklatant gescheitert. "In den Banlieues in der Peripherie von Paris hat man nicht die gleichen Chancen wie andere Menschen," erklärt der Historiker und Autor Philipp Blom. Da sei eine wütende und gedemütigte Generation herangewachsen. Sie stamme aus Milieus, in denen Kleinkriminelle und radikale Islamisten um die Vorherrschaft buhlen. "Dass das Wut erzeugt, auch mörderische Wut, das kann ich verstehen", sagt Blom. Die Erfahrung von Demütigung ist "eine sehr wichtige politische Kraft".

Aber das sei kein speziell französisches Problem, so Blom, der Mitglied im Stiftungsrat des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels ist. Doch sei die Erfahrung von Demütigung "eine sehr wichtige politische Kraft".

Identitätspolitik und Cancel Culture

Der Politikwissenschaftler Claus Leggewie spricht von einer "kulturellen Gefechtslage" in Frankreich, in der Toleranz, Meinungsfreiheit und Diskussionskultur auf der Strecke blieben. In Frankreich, so hatte es auch Klaus Kinzler zuvor in einem Interview mit der deutschen Tageszeitung "Die Welt" beklagt, gebe es einen politischen Aktivismus, der sich als Wissenschaft verkleide.

Jene Aktivisten kämpften nicht gegen die Mächtigen, das Establishment, die Rechte, die echten Faschisten, so Leggewie, sondern gegen Leute, die nicht genug pro-islamisch seien. Es gehe darum, jemanden zu "canceln", zum Schweigen zu bringen, also "um Sprech- und Denkverbote".

Zunehmend würden Gruppenidentitäten konstruiert, die sich immer weiter aufspalten und andere ausgrenzen. Die sozialen Medien wirkten dabei wie verrohende Echo-Kammern. "Man inszeniert Shitstorms und ist sich des medialen Beifalls der Anderen sicher. Genau das ist jetzt in Grenoble und im Grunde genommen auch schon bei Samuel Paty passiert, wo es tödlich ausging", erläutert Leggewie.

Islamophobie versus Antisemitismus

Seit mittlerweile 25 Jahren unterrichtet Professor Klaus Kinzler am Institut für Politische Studien in Grenoble. Von den Parolen am Uni-Gebäude sei er "nicht überrascht" gewesen, da ihn die Studentengewerkschaft Unef schon in den sozialen Netzwerken als "Rechtsextremen" und "Islamophoben" gebrandmarkt habe. 

Politikwissenschaftler Claus Leggewie. Foto: picture-alliance/dpa
Frankreichs kulturelle Gefechtslage: Toleranz, Meinungsfreiheit und Diskussionskultur seien auf der Strecke geblieben, während sich politischer Aktivismus als Wissenschaft tarne, meint der Politikwissenschaftler Claus Leggewie. Jene Aktivisten kämpften nicht gegen die Mächtigen, das Establishment, die Rechte, die echten Faschisten, so Leggewie, sondern gegen Menschen, die nicht genug pro-islamisch seien. Es gehe darum, jemanden zu "canceln", zum Schweigen zu bringen, also "um Sprech- und Denkverbote".

Rassismus und Antisemitismus – beides Strafttatbestände im laizistischen Frankreich – hätten jedoch nichts mit Islamophobie zu tun, so Kinzler in einem Interview der Tageszeitung "Die Welt". "Antisemitismus hat Millionen Tote zur Folge gehabt, Genozide ohne Ende. Dann gibt's Rassismus, Sklaverei. Auch das hat in der Geschichte zu zig Millionen Toten geführt. Aber wo sind die Millionen Toten der Islamophobie?", fragt Kinzler und stellt klar: "Ich bestreite nicht, dass Menschen muslimischen Glaubens diskriminiert werden. Ich weigere mich nur, das auf die gleiche Stufe mit Antisemitismus und Rassismus zu stellen. Ich halte das für ein absurdes Täuschungsmanöver."

Er sei ein "ganz normaler Deutschprofessor an einem Provinzinstitut" und habe stets viel Freude an seiner Arbeit gehabt, sagte Kinzler unlängst gegenüber der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Seine Studentinnen und Studenten hätten an ihm geschätzt, dass er freiheitliche, liberale Positionen verteidige. "Der Austausch war immer bereichernd", so Kinzler.

Den Studierenden nehme er die Hasskampagne weniger übel als vielen der Forscherinnen, Forscher und Lehrkräften, die sich von ihm distanziert hätten.

"Das ist mir in 30 Jahren Universitätskarriere nie passiert", sagte er im Interview. "Ich durfte immer sagen, was ich wollte, auch wenn ich damit angeeckt bin. Es ist etwas Neues, mit dem ich konfrontiert bin, dass Widerrede im akademischen Betrieb mehr oder weniger nicht mehr genehm ist, sondern als eine Form von Delikt gilt."

Für viele seiner Kollege sei er jetzt der "reaktionäre rechtsradikale Nestbeschmutzer", der dem Ruf seines Instituts zutiefst geschadet habe." Ihm sei klar, sagt Kinzler, dass er in den nächsten Jahren als "persona non grata" gelte – vielleicht sogar bis zur Rente.

"Aber damit kann ich leben. Ich habe nichts anderes getan, als die Demokratie zu verteidigen. Ich habe mich, meinen Kollegen und die akademische Freiheit verteidigt."

Stefan Dege & Heike Mund

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