Ein Akt islamistischer Selbstjustiz

Der Dschihadismus ist die Hydra des Terrors. Ist eine Terrorgruppe besiegt, folgt die nächste. Das macht den Kampf gegen den Terror immer schwerer. Von Rainer Hermann

Von Rainer Hermann

Noch in diesem Jahr wird der „Islamische Staat“ aufhören, physisch als Staat zu existieren. Sein Kalifat wird Geschichte sein, denn einen Kalifen nur im Untergrund kann es nicht geben. Die Verluste in Syrien und im Irak sind groß: Das Territorium schrumpft, und die Einkünfte des IS schwinden.

Heute kann er nur noch mit einem Bruchteil seiner früheren Einnahmen aus dem Ölgeschäft und den Steuern rechnen. Als bloße Terrorgruppe hat der IS aber trotz – oder gerade wegen – dieser Verluste eine neue Schlagkraft erreicht.

Die Anschläge in Spanien weisen auf zweierlei hin: Zum einen zeigt der IS abermals, dass er zu jeder Zeit nahezu jedes Ziel angreifen kann.

Zum anderen ist seit diesem Doppelanschlag klar, dass er für seinen Terror nicht auf „einsame Wölfe“ angewiesen ist, die auf eigene Faust handeln. An den Anschlägen in Barcelona und Cambrils waren mindestens acht Personen beteiligt; zudem hob die Polizei eine Stätte des IS zur Herstellung von Sprengstoff aus. Der IS kann offenbar in Spanien, und wohl nicht nur dort, auf ein Netz von Zellen zurückgreifen.

Propaganda nutzt die Geschichte des Islam für sich

Die Propagandamaschine des IS hat seine Anhänger frühzeitig auf den Niedergang des Kalifats eingestimmt. Die militärischen Erfolge der Anti-IS-Koalition ließen die Häufigkeit der IS-Propaganda in den „sozialen Medien“ stark zurückgehen. Es werden nicht länger neue Rekruten angeworben, vielmehr geht es um die Aufrechterhaltung der Moral der Kämpfer und Sympathisanten.

Dabei greift die Propagandamaschine auf die islamische Frühgeschichte zurück. An ihm, so der IS, wiederhole sich die Verfolgung, wie sie bereits der Prophet vor seinem Triumph erlitten habe; es wird suggeriert, dass die derzeitige Phase eine „Zeit der Prüfung“ sei. Heute seien die Muslime wieder Opfer fremder Mächte, und der IS begehre dagegen auf.

Die große Moschee in Madrid. Foto: Picture Alliance
Im Kampf gegen Radikalisierung besteht die staatliche Aufgabe darin, „Moscheen zuzulassen, die im Rahmen unserer Gesetze agieren, die aber nicht staatlich gesteuert sind und einen Wunschislam hervorbringen sollen. Denn der erreicht keine Gefährder“, konstatiert Rainer Herrmann.

Gescheiterte Integration macht empfänglich

Das verfängt bei nicht wenigen jungen Muslimen in Europa. Sie gehören der zweiten und dritten Generation muslimischer Einwanderer an. Weil ihre Integration gescheitert ist, sind sie für die Propaganda des IS empfänglich. Die strategische Tiefe, die der IS auf diese Weise bekommt, macht ihn gefährlicher, als al Qaida es je war. Die Bereitschaft, Anschläge zu verüben und sich an diesem Westen zu rächen, ist der zweite Schritt.

Zuerst machen sie den Westen für ihre verkrachten Existenzen verantwortlich: Der Großvater wurde beispielsweise im Unabhängigkeitskrieg gegen Frankreich getötet, der Vater arbeitete in Frankreich bei der Müllabfuhr, der Sohn, der keine Schule abschloss, wurde Kleinkrimineller. Einem jungen Mann mit dieser Biographie gibt der IS ein Instrument in die Hand, Rache zu üben. Genugtuung sind für ihn die Fernsehbilder, auf denen nach Terroranschlägen die Panik der Menschen zu sehen ist.Zellen und „Provinzen“ werden wichtiger

Die zentrale Organisation des IS ist massiv geschwächt. Mossul ist befreit (und zerstört), in Raqqa kontrolliert der IS noch ein Drittel der Stadt. Die Führung hat sich in die Wüste parallel zum Mittellauf des Euphrat zurückgezogen. Offenbar gibt es noch Kontakte zwischen ihr und einzelnen Zellen in Europa. Die Führung rückt mehr und mehr in den Hintergrund. Immer wichtiger sind für den Fortbestand des IS die „Provinzen“ in Teilen der islamischen Welt und Zellen wie die in Barcelona.

Selbst wenn der Schlange IS der Kopf abgeschlagen ist, es wachsen viele neue Köpfe nach. Als in den vergangenen Jahrzehnten Terrorgruppen besiegt wurden, folgten ihnen immer neue. Der Dschihadismus ist die moderne Hydra des Terrors und ein Akt der islamistischen Selbstjustiz gegen jene, die angeblich den Islam bekämpfen.[embed:render:embedded:node:28699]

Geheimdienste und Moscheen müssen Gefährder erkennen

Früher hatte der Islam zwischen dem „Haus des Islams“ (Dar al-Islam) und dem „Haus des Kriegs“ (Dar al-Harb) unterschieden. Eine klare Grenze trennte beide Häuser. Kriege durften nicht gegen Länder geführt werden, die Verträge mit einem islamischen Herrscher abschlossen. Der Dschihadismus des IS hebt das alles auf. Er postuliert nun ein allgemeines „Kriegsgebiet“ (Dar Harb), in dem der Krieg keinen Beschränkungen mehr unterliegt.

Das erschwert unseren Kampf gegen den Terror erheblich. Die entscheidende Frage ist, wie man an junge Muslime herankommt, die anfällig und potentielle Gefährder sind.

Um dem Terror beizukommen, braucht man die Sicherheitsdienste. Eingeschleuste oder angeworbene Informanten müssen als „human intelligence“ frühzeitig verdächtige Pläne mithören und melden. Das allein reicht aber nicht. Wie soll etwa verhindert werden, dass junge Nordafrikaner, die in vielen Gefängnissen eine große Gruppe bilden, nach ihrer Entlassung direkt dem IS in die Arme laufen?

Ein weiterer Schlüssel sind die Moscheen. Für einen Muslim bedeuten sie mehr als für einen Christen die Kirchen. Eine „Dschami“ ist der Ort, der die Muslime „zusammenbringt“ und „eint“. Das ist der einzige Ort, an dem potentielle Gefährder von Predigern, auf die sie hören, ideologisch zurückgeholt werden können.

Darin liegt die Aufgabe: Moscheen zuzulassen, die im Rahmen unserer Gesetze agieren, die aber nicht staatlich gesteuert sind und einen Wunschislam hervorbringen sollen. Denn der erreicht keine Gefährder. Deren Zahl wächst. Der Krieg gegen den islamistischen Terror hat in Europa erst begonnen.

Rainer Hermann

© Frankfurter Allgemeine Zeitung 2017