Demokratie als islamisches Konzept

Islamisten und Säkularisten in der Türkei unterscheiden sich bezüglich ihrer politischen Kultur kaum voneinander. Sie haben im Gegenteil in ihrer politischen Rhetorik, der politischen Praxis und ihren Vorstellungen von Nation, Staat und Gesellschaft viele Gemeinsamkeiten. Von Günter Seufert

Islamisten und Säkularisten in der Türkei unterscheiden sich bezüglich ihrer politischen Kultur kaum voneinander. Sie haben im Gegenteil in ihrer politischen Rhetorik, der politischen Praxis und ihren Vorstellungen von Nation, Staat und Gesellschaft viele Gemeinsamkeiten. Von Günter Seufert

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​​Wenn der Islam Thema ist, werden in der Türkei zwei Narrative erzählt, die sich konträr gegenüberstehen:

Säkularisten, die glauben, dass die Ausgrenzung der Religion Voraussetzung für jeden Fortschritt ist, tragen eine Geschichte vor, in der auf einen glorreichen Beginn ein allmählicher Verfall folgt.

Die Reformen der frühen Republik (1923-1946), von der Abschaffung des Sultanats und Kalifats über die staatliche Zurückdrängung und Kontrolle der Religion und die entschlossene Hinwendung der kemalistischen Elite nach Europa, hätten den Grundstein für alle Rechte und Freiheiten gelegt und letztendlich auch Demokratie ermöglicht.

Gefährdet werde das Projekt einer modernen Türkei jedoch seit jeher von reaktionären religiösen Kräften, die seit Einführung des Mehrparteiensystems im Jahre 1946 das Rad zurückdrehen und erneut eine islamische Ordnung errichten wollten. Bis Mitte der neunziger Jahre genoss diese Version im westlichen Ausland, in Europa und den USA, so etwas wie ein Monopol.

Die andere Seite, von frommen Muslimen bis hin zu Islamisten, erzählt eine genau gegenteilige Geschichte. Danach gehe in der Türkei die Sichtbarkeit der Religion mit einem Zuwachs an Demokratie einher. So sei es nicht nur beim Übergang vom Einparteien- zum Mehrparteienstaat gewesen.

Auch jeder Wahlerfolg, den religiös-konservative Parteien nach den drei Staatsstreichen des Militärs errungen hätten, habe mehr Demokratie und mehr Religion zugleich mit sich gebracht. Man könne deshalb sagen, dass die Religiös-Konservativen die eigentlichen Demokraten seien.

Gemeinsamkeiten von Islamisten und Säkularisten

Seit Recep Tayyip Erdogan, der heutige Ministerpräsident, im Jahre 2002 mit seiner Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) die Regierung übernahm und demokratische Reformen anging, findet diese Version auch in Europa und den USA Anhänger.

Beide Versionen haben gemeinsam, dass sie fromme Muslime, Islam und Islamisten scharf vom "Rest" der türkischen Gesellschaft, ihrer politischen Kultur und ihrem Staat trennen und das "Islamische" gewissermaßen dem "Säkularen" gegenüberstellen. Nur die Bewertung fällt unterschiedlich, ja gegensätzlich aus.

Wer jedoch näher hinschaut, stellt fest, dass sich "Muslime" und "Säkulare", Islamisten und Säkularisten bezüglich der politischen Kultur so sehr nicht voneinander unterscheiden, sondern in ihrer politischen Rhetorik, ihrer politischen Praxis und ihren Vorstellungen von Nation, Staat und Gesellschaft viele Gemeinsamkeiten haben.

Die ersten Islamisten

In der letzten Hälfte des 19. Jahrhunderts, im ausgehenden Osmanischen Reich, kamen moderne politische Begriffe und Islam erstmals zusammen, die ersten "islamistischen" Diskussionen wurden geführt. Das Ziel der Jungosmanen waren politische Reformen und die konstitutionelle Monarchie.

Die ersten Islamisten oder islamischen Reformisten folgten dem Trend der Zeit, argumentierten für dieselben Ziele, begründeten sie jedoch islamisch. Ihre prominentesten Vertreter, Ali Suavi und Namik Kemal, bemühten sich zu zeigen, dass Konstitution und Demokratie, die Wahl der Regierung und die Gewaltenteilung originär islamische Konzepte sind.

"Demokratie" wurde als Methode der Beratung [in Regierungsgeschäften] - usul-u mesveret - präsentiert, zu der Gott den Propheten Mohammed im Koran verpflichtet habe. Moderne Wahlen entsprächen der Akklamation des Herrschers im frühen muslimischen Staat.

Und selbst die politische Gleichheit von Muslimen und Nichtmuslimen, welche die Jungosmanen für die Schaffung einer osmanischen Nation für unabdingbar hielten, wurde mit Verweis auf das islamische Recht legitimiert, das im Streitfall keinen Unterschied zwischen Muslimen und Nichtmuslimen mache.

Islamismus im Untergrund

Die Einparteienherrschaft der frühen Republik verbot jedoch nicht nur jede Form politischer Opposition, sondern auch einen politischen Islam. Der Staat stellte auch religiöses Alltagsleben unter Strafe: Korankurse für Kinder, Koran-Studien-Kreise für Erwachsene und rituelle Treffen islamischer Bruderschaften.

Der Islamismus jener Zeit erschöpfte sich deshalb in passivem Widerstand und einer Untergrundbildungsoffensive, die religiöses Wissen von einer Generation zur nächsten weitergeben wollte.

In den fünfziger und sechziger Jahren, den ersten Jahrzehnten der Mehrparteienordnung, strafte die Bevölkerung bei allen freien Wahlen die kemalistische Volkspartei der Republik (CHP) ab.

In diesen Jahren war die Religion noch kein politisches Programm, sondern der gemeinsame Nenner all derer, die von der CHP und ihrem Elitismus, ihrer Planwirtschaft, ihrem manchmal rassistischem Türkismus und ihrer Religionsfeindschaft schon lange genug hatten: die Bauern Anatoliens, die Händler und Handwerker der Städte und die Kurden.

Die erste islamistische Partei, die wirklich Erfolg hatte, entstand erst 1970, als sich die rechte Mitte ideologisch ausdifferenzierte und in eine konservative, eine nationalistische und eine proislamische Partei zerfiel.

Die Erbakan-Bewegung

Dreißig Jahre lang, von 1970 bis 2000, war die islamische Bewegung der Türkei geprägt von einem Mann: Necmettin Erbakan. Er stand allen islamischen Parteien dieser Zeit vor, die der Reihe nach verboten und neu gegründet wurden.

Obwohl jedoch nun wieder in islamisch-politischen Kategorien gedacht und argumentiert wurde, war der politische Islam erneut Kind seiner Zeit und erneut dazu verdammt, die gängigen politischen Begriffe in ein islamisches Idiom zu übersetzen und zu repetieren. Die Erbakan-Bewegung propagierte den "materiellen und geistigen Aufschwung" zur Schaffung einer "großen Türkei".

Dossier: Islamismus

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Dahinter verbargen sich Ideen von einer staatszentrierten Entwicklung, von einem staatlichen Aufbau der Schwerindustrie und einem rigiden Wirtschaftsdirigismus. Geistiger Aufschwung bedeutete religiöse Erziehung für alle, eine pädagogische Offensive des Staates zur ideologisch einheitlichen Ausrichtung der Bevölkerung.

Erbakans Programmatik erinnerte deshalb fatal an die Jahre der frühen Republik, in welcher der Staat ebenfalls das wirtschaftliche und kulturelle Leben vollkommen bestimmte. Der Islamismus Erbakans wiederholte den Kemalismus und kleidete ihn islamisch ein.

Neuausrichtung der islamischen Bewegung

Bei dieser Parallelität der Entwicklung von säkularem und islamischem Diskurs ist es kein Wunder, dass auch die innerislamische Abrechnung mit den politischen Vorstellungen Necmettin Erbakans auf Begriffen und Vorstellungen beruht, die erst vom säkularen Teil der türkischen Gesellschaft rezipiert wurden und dann in einer islamischen "Übersetzung" Eingang in die Diskussion der Islamisten fanden.

Begriffe wie kulturelle Pluralität und individuelle Freiheit sowie die Analyse des totalitären Charakters eines modernen Nationalstaats bestimmten Anfang bis Mitte der neunziger Jahre die säkulare Diskussion um "Neo-Osmanismus" und eine "Zweite Republik", die demokratisch sein sollte.

Die muslimische Diskussion um die erste Verfassung des Islam, die so genannte Gemeindeordnung von Medina, nahm diese Konzepte auf, integrierte sie in einen islamischen Kontext und legitimierte sie religiös.

Mit ihrer Hilfe erfolgte die Kritik an Erbakans totalitärem Islamismus und die Neuausrichtung islamischer politischer Aktivitäten auf die liberalere und begrenzt pluralistische Politik der AKP unter Recep Tayyip Erdogan.

Der Islamismus entwickelte sich somit parallel zur politischen Kultur in der Türkei. Er ist nicht nur eine politische Ideologie, sondern das Idiom, in dem die Frommen gesellschaftliche Veränderungen und die dazugehörige Diskussion in den ihr eigenen symbolischen Kontexten nachvollziehen.

Günter Seufert

© Qantara.de 2007

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