Blockdenken

Auf der ganzen Welt, insbesondere aber in Europa, wurde der Begriff "Multikulturalismus" zu einer suspekten Vokabel. Man hört Dinge wie: "Ich war immer für Offenheit und Toleranz gegenüber dem Andersartigen, aber jetzt sehe ich, wohin das führt." Wohin führt es denn? fragt Charles Taylor.

Auf der ganzen Welt, insbesondere aber in Europa, wurde der Begriff "Multikulturalismus" zu einer suspekten Vokabel. Man hört Dinge wie: "Ich war immer für Offenheit und Toleranz gegenüber dem Andersartigen, aber jetzt sehe ich, wohin das führt." Wohin führt es denn? fragt Charles Taylor

Besucherinnen des Kirchentags in Köln; Foto: AP
Besucherinnen des Kirchentags in Köln im Jahr 2007

​​Beinahe jede Begründung dafür, warum diese Toleranz in Verruf geriet, hat mit dem Islam zu tun. Selbst simple Anliegen, wie jene von Schulmädchen, während des Unterrichts ein Kopftuch tragen zu dürfen, werden plötzlich mit immenser politischer Bedeutung befrachtet und zu Fragen stilisiert, die in obersten Regierungskreisen zu lösen sind.

Die Menschen – und auch ihre gewählten politischen Vertreter – haben oftmals das Gefühl, dass solche scheinbar harmlosen Anliegen in Wahrheit Teil eines unheilvollen "verdeckten Programms" wären.

Dieses Programm heißt "Islam", und viele glauben, darin steckt alles Schreckliche, worüber wir jeden Tag in der Zeitung lesen: die Steinigung von Ehebrecherinnen gemäß der Scharia im Norden Nigerias, die Bestrafung von Dieben durch Abhacken der Hände in Saudi-Arabien, Ehrenmorde an Frauen in Pakistan (oder sogar in nordenglischen Städten wie Bradford und Manchester), die sich arrangierten Eheschließungen widersetzen sowie die Bereitschaft, Selbstmordattentate zu rechtfertigen.

Wenn man nun entgegnet, dass die Mädchen, die in der Schule ein Kopftuch tragen wollen, nicht in Nigeria oder Saudi-Arabien leben und fast sicher nichts mit den in diesen Ländern herrschenden extremen wahhabitischen Ansichten zu tun haben, erntet man beinahe mitleidige Blicke der Art, wie man sie den heillos Naiven zuwirft.

Oder man bekommt Geschichten zu hören, wonach in Saudi-Arabien ausgebildete Imame die Mädchen unter Druck setzen und sie zu unfreiwilligen Wegbereitern des "Islam" machen.

Es zählt nur die Bedrohung durch den Islam

Tatsächlich ist es heutzutage praktisch unmöglich, über Kopftücher als eigenständiges Thema zu sprechen. Sämtliche Belege aus der Soziologie über die Beweggründe der Mädchen, die in Wahrheit sehr unterschiedlich sind, werden als irrelevant beiseite geschoben. Es zählt lediglich die Bedrohung durch den Islam.

Das ist ein klassisches Beispiel für das von mir so bezeichnete "Blockdenken", das in Europa in den letzten Jahren offenbar enorm um sich gegriffen hat. In John Bowens kürzlich erschienenem Buch Why the French Don't Like Headscarves wird diese Entwicklung dokumentiert.

Beim Blockdenken wird eine vielgestaltige Realität auf zwei Arten zu einer unauflöslichen Einheit verschmolzen.

Erstens werden unterschiedliche Ausprägungen der Frömmigkeit oder Kultur des Islam lediglich als alternative Möglichkeiten gesehen, ein und dieselbe zentrale Botschaft auszudrücken. Zweitens wird angenommen, dass alle Muslime hinter dieser zentralen Botschaft stünden.

Die Möglichkeit, dass ein Mädchen mit einem Kopftuch in Wahrheit gegen ihre Eltern und deren Auslegung des Islam rebelliert und dass andere, obwohl aufgrund von Geschlechterdiskriminierung und Gewalt empört, sehr wohl streng gläubig sein können, wird nicht in Betracht gezogen.

Explosives Potenzial

Blockdenken ist ein altes Phänomen, und bis zu einem gewissen Grad machen wir es alle. Während wir uns allerdings zu anderen Zeiten über dessen Folgen keine großen Gedanken zu machen brauchten, birgt Blockdenken heute ein durchaus explosives Potenzial, denn Menschen mit dieser Denkweise sind die ersten, die die Welt im Sinne von Samuel Huntingtons Theorie vom "Kampf der Kulturen" sehen.

Noch schlimmer ist, dass die Art, wie diese Menschen agieren, uns dem Albtraum-Szenario Huntingtons näher bringt. Indem man die verschiedenen Bereiche des Islam so behandelt, als wären sie nichts weiter als Teile einer geschlossenen Bedrohung des Westens, erschwert man es Muslimen, sich von der Masse abzuheben und die Blockdenker in ihren eigenen Reihen zu kritisieren – nämlich Personen wie Osama bin Laden, die ihren eigenen Einheitsfeind aufbauen, der aus "Christen und Juden" besteht.

Blockdenker auf der einen Seite unterstützen und ermutigen Blockdenker auf der anderen Seite, und mit jedem Austausch bringen sie uns näher an den Abgrund. Wie können wir diesen Wahnsinn stoppen?

Wo sind die Brückenbauer

Blockdenken hält sich teilweise deshalb so hartnäckig, weil Kritiker dieser Denkweise auf der einen Seite die Kritiker auf der anderen Seite nicht kennen. Wie oft, beispielsweise, hört ein Kritiker des europäischen Blockdenkens folgende Antwort: "Aber wo sind denn die Muslime, die den extremistischen Islam kritisieren?"

In den Salons der Pariser Journalisten oder der breiteren politischen Klasse in Europa wird man sie natürlich nicht treffen. Aber dies einem Blockdenker zu erklären, hat niemals die gleiche Wirkung wie die Herstellung einer realen Verbindung zum vielfältigen Diskurs, der auf der anderen Seite tatsächlich stattfindet.

Die wahre Frage ist also: Wo sind die Brückenbauer, die diese dringend benötigte Verbindung herstellen können?

Charles Taylor

Aus dem Englischen von Helga Klinger

Copyright: Project Syndicate/Institut für die Wissenschaften vom Menschen, 2007.

Charles Taylor ist emeritierter Professor für Philosophie an der McGill University in Montreal. Von ihm jüngst erschienen ist The Secular Age.

Qantara.de

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