Globalisierte Wohlfahrtsorganisationen

Das Beispiel von "Islamic Relief" - einer karitativen Organisation mit bescheidenen Anfängen im britischen Birmingham - lässt erahnen, welche Veränderungen in der Landschaft internationaler NGOs noch zu erwarten sind. Ehsan Masood berichtet

Zeltlager im pakistanischen Teil des Kaschmir, Foto: &coyp Islamic Relief Website
"Islamic Relief" ist eine Hilfsorganisation, die heute international aktiv ist, wie z.B. in den pakistanischen Erdbebengebieten 2005

​​Im August 2002 sprach mich ein junger, in Anzug und Krawatte gekleideter, Mann an und gab mir seine Visitenkarte. Ich stand im Presseraum der Weltkonferenz für nachhaltige Entwicklung in Johannesburg, wo sich die "Großen" trafen, um das zehnjährige Jubiläum des "Earth Summit" von Rio de Janeiro zu begehen.

Die vorgesehene Rede eines der vielen ehrenwerten Umweltminister war verschoben worden, was mir Zeit gab, mich ein wenig bei den Ständen von NGOs herumzutreiben, um interessantere Gesellschaft zu suchen.

Auf der Visitenkarte stand "Islamic Relief Worldwide". Etwas nervös fragte ich, ob es sich bei dieser "weltweiten" Organisation um die gleiche handele, die einst ihr Hauptquartier in einem kleinen Büro in Birmingham hatte. Der Mann bejahte dies und verriet mir, dass sie inzwischen mehr als 100 Mitarbeiter beschäftigten und Büros in weiteren Ländern hätten.

Auf der Johannesburger Konferenz sei Islamic Relief, um die Verhandlungen zu beobachten, Lobbyarbeit bei Politikern zu machen und sich mit anderen NGOs auszutauschen.

Hilfsaktionen in Pakistan

An diese Geschichte musste ich denken, als ich die Bilder vom Erdbeben in Kaschmir sah, die im Oktober 2005 die Fernsehnachrichten beherrschten. Auch dort sah ich Islamic Relief, gleich neben Oxfam, Unicef und anderen internationalen Organisationen, wie sie den Hilfegesuchen nachkamen, die auf das schreckliche Unglück folgten, das mehr als 79000 Leben gefordert hat.

Die Hilfsorganisation sprach von Sofortspenden in Höhe von umgerechnet fast 1,5 Millionen Euro. Diese Summe hat sich inzwischen noch einmal fast verdoppelt. Welten scheinen zwischen den Anfängen im Jahr 1984 und heute zu liegen. 20 Pence betrug damals die erste Spende. Warum aber sollte uns das überraschen?

Einerseits muss es uns gar nicht überraschen. Islamic Relief operiert heute wie viele andere karitativen Unternehmungen in Großbritannien: Es sammelt Spenden aus verschiedenen Quellen, die von privaten Einzelspenden über Zuwendungen von Firmen bis zu finanziellen Unterstützungen von staatlicher Seite reichen.

Es verfügt über ein Netzwerk weltweiter "Field Offices". Die leitenden Angestellten der Organisation, also nicht nur ihr Gründer, Hany El Banna, haben Kontakte zu Regierungschefs, Ministern, hohen Staatsbeamten und den Medien der Länder, in denen sie tätig ist. Zudem ist die Organisation aktiv an der Ausformulierung der Agenda für internationale Hilfspolitik beteiligt.

Wenn all dies für sich genommen für eine moderne, internationale Non-profit-Organisation nichts Innovatives ist, stellt es dennoch so etwas wie einen Meilenstein dar. Wir sehen nichts weniger als die wohl erste internationale NGO, die ihre Wurzeln im Islam hat.

Was die Geschichte noch interessanter macht, ist zweifellos der Umstand, dass sich ihr Hauptquartier eben nicht in Riad oder Kairo befindet, sondern in London. Mag Islamic Relief auch die größte Organisation ihrer Art sein, ist es keineswegs die einzige: Mit Muslim Aid und Muslim Hands gibt es zwei weitere Anwärter auf einen Platz im Netzwerk internationaler NGOs. Die Botschaft ist klar: Hier passiert etwas ganz Entscheidendes.

Ein neuer Horizont

Die lange Entwicklung der Hilfsorganisationen ist von Kontinuität genauso geprägt wie von Wandel. Wie andere, rein britische Wohltätigkeitsorganisationen begannen Islamic Relief, Muslim Aid (1985) und Muslim Hands (1993) als kleine Unternehmungen, die sich mit großer Hingabe der praktischen Seite ihrer Religion widmeten und sich hilfsbedürftigen Glaubensbrüdern und -schwestern annahmen.

Heute sind sie größer, doch ihre Aktivität ist dadurch nicht kleiner geworden. Schon lange geht es bei ihnen nicht mehr darum, nur Menschen zu helfen, die ihren Glauben teilen.

Sie scheinen reif geworden zu sein und sie haben sich modernisiert. Das "islamische" Element im Namen Islamic Relief bezieht sich jetzt weniger auf die Religion als solche, sondern um die islamische Tradition des Gebens. Das "muslimische" Element in Muslim Aid entspricht recht genau dem Begriff "Christian" in Christian Aid: Die Hilfsempfänger müssen keineswegs Muslime sein, um einen Anspruch auf Hilfe zu haben, nicht einmal religiös müssen sie sein.

Sicher ist ein Großteil der Mitarbeiter dieser Hilfsorganisationen in Großbritannien noch immer muslimischen Glaubens, doch scheint es nur eine Frage der Zeit, wann auch dies der Vergangenheit angehört.

Modernisierung und internationale Ausweitung der Aktivitäten brachten selbstverständlich auch Spannungen mit sich. Doch bieten auch diese Trends etwas Neues und möglicherweise sehr Spannendes: Die Aussicht auf einen grundsätzlichen Wandel in der Welt der NGOs, die bis heute noch immer von sehr großen und mächtigen Organisationen dominiert wird, die ihren Sitz in den reichen Ländern der Nordhalbkugel haben.

Die wichtigste Aufgabe, die sich solchen Organisationen wie Islamic Relief vor diesem Hintergrund stellt, ist es, trotz der Ausweitung ihrer Aktivitäten ihre traditionelle Spendenklientel nicht zu verlieren.

Gleichzeitig müssen sie lernen, mit den zahlreichen und unvermeidlichen Annäherungen von Seiten der Regierung umzugehen. Insbesondere gilt dies natürlich für Regierungen in den Teilen der Welt, wo die britische Regierung nicht wohlgelitten ist.

Schließlich werden die engen Kontakte, die Islamic Relief zur britischen Regierung unterhält, auch denen nicht entgangen sein, die der Unterstützung des Irak-Krieges durch Tony Blair und der Teilnahme an der Invasion des Landes kritisch gegenüberstehen.

Das zweite Problemfeld besteht darin, dass die meisten britischen Muslime nicht an eine solch moderne, professionell arbeitende Wohltätigkeitsorganisation gewöhnt sind, deren Mitarbeiter Laptops benutzen und E-Mails schreiben.

Die Vorstellung, dass die Spenden auch von Menschen mit geringem Einkommen dazu genutzt werden, um Lobbyisten, Kampagnenmanager, Wissenschaftler und PR-Leute zu rekrutieren (anstatt das Geld direkt an die Armen in anderen Ländern zu geben), wird für viele nur schwer nachzuvollziehen sein.

Deshalb wird es auch in der Zukunft einen Platz für die traditionelle Wohlfahrtsarbeit geben — Kuchenverkauf, Kaffeeklatsch, Benefiz-Auktionen genauso wie für die Sammelbüchse, die von den Gläubigen beim Freitagsgebet herumgereicht wird.

Diese Veranstaltungen leben gerade von ihrer Intimität und der damit verbundenen Fähigkeit, spontan auf Ereignisse zu reagieren. Und tatsächlich spielten viele von ihnen auch nach dem Erdbeben in Kaschmir eine große Rolle.

Teams von jungen Ärzte bildeten sich, die sich zusammen auf den Weg nach Pakistan machten, um medizinische Soforthilfe zu leisten, andere sammelten Geld für die Lieferung von Nahrung, Kleidung und Zelten. Viele mieteten auch große Container-Trucks, die sie selbst dorthin fuhren, nur um sicherzugehen, dass die gesammelten Spenden auch wirklich ihr Ziel erreichen.

Von Norden nach Süden

Die Entwicklung, die die Islamic Relief in den letzten Jahren nahm lässt zwar eine spannende Entwicklung in der Zukunft erahnen. Die Frage ist jedoch, ob auch die größeren Hilfsorganisationen des Südens, die sich das Beispiel von Islamic Relief anschauen, sich wirklich zutrauen, das Spendensammeln großen Stils zu organisieren - und das mit allem, was dazugehört an Lobbyismus, Networking und Pressearbeit. Kurz: Werden auch sie es schaffen, in den Kreis der international tätigen NGOs aufgenommen zu werden?

In absehbarer Zeit ist damit nicht zu rechnen. Insbesondere in den islamisch geprägten Ländern, wo die Zivilgesellschaften traditionell schwach ausgebildet sind und wo diejenigen Gruppen, die von den allmächtigen Regierungen zugelassen werden, meist auch die sind, die am wenigsten willens und in der Lage sind, die staatliche Allmacht herauszufordern.

Anders aber sieht es in Lateinamerika aus, in Süd- und Südostasien, aber auch im südlichen Afrika. Viele der großen NGOs in diesen Ländern sind fast so einflussreich wie die großen international organisierten, wie z.B. Greenpeace oder andere. Dennoch bleibt ihr Einfluss auf den nationalen Kontext beschränkt.

Eine der bekannten Merkwürdigkeiten im Bereich der NGOs, die sich dem Aufbau funktionierender Zivilgesellschaften in der Welt verschrieben haben, ist, dass es meist die großen NGOs aus dem Norden sind, die hier das Sagen haben. Gruppen wie Action Aid und International Council for Science seien hier genannt.

Im ernsthaften Bemühen, das Label der "1. Welt" loszuwerden und die Belange des Südens ernst zu nehmen, tun sie viel, um Büros in den Entwicklungsländern einzurichten und einheimische Mitarbeiter einzustellen.

Andere, eher forschungsorientierte NGOs, wie das International Institute for Environment and Development in London und Leadership for Environment and Development bildeten enge Netzwerke mit Partnerorganisationen im Süden.

So gelangen auch die lokalen NGOs an Geldmittel und Zugang zu den wichtigen Politikern der nördlichen Hemisphäre und gleichzeitig bekommen die großen NGOs des Nordens einen viel besseren und "authentischeren" Einblick in die Entwicklungsprobleme in den Entwicklungsländern.

Was aber nach wie vor ansteht, ist die Ausbildung einer wirklich global handelnden NGO, die ihre Wurzeln in einem Entwicklungsland hat: eine, die nicht nur eine internationale Vision hat, sondern auch das Selbstvertrauen und die Fähigkeit, diese Vision umzusetzen.

Die Interessen des Südens werden mittlerweile auf internationalen Konferenzen von vielen national operierenden NGOs vertreten – wie etwa das Third World Network (mit Sitz in Penang, Malaysia) oder das Centre for Science and Environment (New Delhi). Diese Organisationen verfügen über keinerlei Einfluss auf die Politik der entwickelten Länder, deren NGOs sich heute in Islamabad und New Delhi engagieren.

"Noch" verfügen sie über keinen Einfluss, sollte man vielleicht sagen. Denn wenn eine noch so junge Organisation wie Islamic Relief die Kraft besitzt, in der relativ kurzen Zeit von zwanzig Jahren einen solch globalen Status zu erlangen, sollte es auch für die großen, nationalen NGOs des Südens ein Ansporn sein, in größeren Dimensionen zu denken und die Chancen, die sich ihnen bieten, zu nutzen.

Ehsan Masood

© OpenDemocracy 2006

Übersetzung aus dem Englischen: Daniel Kiecol

Qantara.de

Tsunami-Spendensammlungen
"Die islamischen Länder müssten mehr leisten"
Mehr als 300 Millionen Euro haben die Deutschen für die Flutopfer in Asien bisher gespendet. Auch die Muslime in Deutschland sammeln in vielen Moscheen engagiert für die Opfer der Katastrophe. Vedat Acikgöz berichtet.

Hilfsaktionen nach dem Erdbeben in Pakistan
"Die einen haben zu viel, die anderen gar nichts!"
Wochen nach dem Erdbeben in Pakistan mehrt sich die Kritik von Hilfsorganisationen an Präsident Musharraf. Dieser habe zu spät gehandelt. Hilfsgüter seien nicht schnell genug und ungleichmäßig verteilt in die Katastrophengebiete gebracht worden. Von Nadia Riaz

www

  • Webseite Islamic Relief
  • Webseite Muslim Hands (engl.)