Mehr als Sklaverei

Die Rolle muslimischer Akteure beim mittelalterlichen wie neuzeitlichen Sklavenhandel ist in der Forschung sehr präsent. Aber die Vielfalt islamischer Lebensformen in Afrika ist damit noch nicht verstanden. Hintergründe von Andreas Eckert

​​In seiner im vergangenen Jahr erschienenen provokanten "Weltgeschichte der Sklaverei" deutet Egon Flaig die Welt des Islam als das "größte und langlebigste sklavistische System" der Geschichte. Allerdings neigt der Rostocker Althistoriker dazu, die Komplexität der islamischen Sklaverei zu ignorieren, wohl um sich nicht über Gebühr von seiner Grundthese vom erobernden Islam abbringen zu lassen. In Bezug auf den Islam in Afrika etwa hätte Flaig auf eine lange Forschungstradition zurückgreifen können.

Gegenwärtig gehören Roman Loimeier (Göttingen) oder Stefan Reichmuth (Bochum) zu den auch international wahrgenommenen Vertretern in diesem Bereich. Ihre und zahlreiche weitere Studien konnten zeigen, dass sich auf dem afrikanischen Kontinent lokale Spielarten von Gemeinschaft und Gesellschaft entwickelten, die sich zwar allesamt am Islam orientierten, diesen aber sehr unterschiedlich deuteten. Vielfalt und Komplexität islamischer Gesellschaften charakterisieren nicht nur ihre historische Entwicklung, sondern sind auch prägend für ihr heutiges Erscheinungsbild.

Die Globalisierung des Islam fördert keineswegs ausschließlich die Verbreitung radikaler, islamistischer Interpretationen in Afrika, sondern öffnet zugleich Muslimen in diesem Teil der Welt den Zugang zu einer Vielzahl von Diskussionen und Traditionslinien.

Sklaven und Ungläubige

Quelle. Google Books
Quantensprung für die historische Forschung zum Islam in Afrika: David Robinsons "Muslim Societies in African History" von 2004

​​Muslime spielten in Afrika eine zentrale Rolle in Sklavenhandel und Sklaverei. Es wäre jedoch falsch, sie ausschließlich auf diesen Bereich zu reduzieren. Im Übrigen ist es schwer, ein allgemeines Bild über die Haltung von Muslimen zu Unfreiheit und Handel mit Menschen zu zeichnen. Alle Deutungen der Scharia untersagen bekanntlich dem Gläubigen, andere Muslime zu versklaven. Die Gefangennahme und der Besitz von "Ungläubigen" war hingegen erlaubt.

Mit der Zunahme des Sklavenhandels wirkte der Schutz, den eine muslimische Identität bot, als Anreiz zur Konversion, insbesondere in den Regionen, in denen muslimische Händler Sklaven an die Europäer oder deren Zwischenhändler verkauften. Gelegentlich wurden auch muslimische Sklavenhändler Opfer der in vielen Teilen Afrikas eskalierenden Gewalt, ihrerseits an Europäer verkauft und über den Atlantik zwangsverschifft.

Die mit Abstand beste Überblicksdarstellung, eine ebenso differenzierte wie kompakte Einführung in die Geschichte des Islam in Afrika hat vor einigen Jahren der amerikanische Historiker David Robinson veröffentlicht ("Muslim Societies in African History", Cambridge University Press, New York 2004) – ein Buch, das auch eine Übersetzung ins Deutsche verdienen würde. Mit diesem Werk habe, wie das "Journal of African History" konstatierte, "die historische Forschung zum Islam in Afrika ihre volle Reife erlangt".

Quelle: Wikipedia
"Islamisierung Afrikas, Afrikanisierung des Islam": Diese persische Miniatur zeigt Bilal, einen äthiopischen Sklaven und frühen Getreuen Mohammeds. Mit ihm wird der afrikanische Einfluss auf den Islam verehrt.

​​Robinson sieht in seiner Geschichte zwei sich überlappende Prozesse am Werk: die Islamisierung Afrikas und die Afrikanisierung des Islam. In diesem Zusammenhang lehnt er jedoch die in Teilen der Literatur verbreitete essentialistische Vorstellung von einem "afrikanischen Islam" ab, welcher vermeintlich weniger orthodox als der Islam in der arabischen Welt sei, dafür aber mit religiösen Praktiken verbunden, die durch afrikanische kommunalistische religiöse Konzepte geprägt sind.

"Die meisten afrikanischen Muslime", schreibt Robinson, "haben sich immer als gottesfürchtig und korrekt in ihren Praktiken angesehen. Sie haben ihre eigenen 'Orthodoxien' herausgebildet. Ihre Geschichten sind wichtig für ein Verständnis der Vielfalt, aber auch des Strebens nach Einheit in der islamischen Welt. Sie stehen überdies für kulturelle Traditionen, die bei allen Unterschieden viel mit denen europäischer Gesellschaften gemein haben."

Die Rolle des Sufismus

Robinsons Darstellung erstreckt sich über einen Zeitraum von nicht weniger als 1400 Jahren. Das achtzehnte Jahrhundert markierte einen wichtigen Moment in dieser langen Geschichte. In dieser Zeit entwickelte sich, wie Robinson darlegt, der Sufismus zu einer dynamischen Kraft im subsaharischen Afrika.

Die Sufi-Bewegungen, die eine Gefolgschaft in den meisten Teilen Afrikas fanden, wurden von Sheiks angeführt, die ihre Organisation mit sozialen und spirituellen Anliegen verknüpften. Die Praxis, dass Studenten ihrem Lehrer ein Geschenk überreichten, transformierte sich zunehmend in ein System der Akkumulation und Redistribution von Reichtum durch den Führer der Bewegung.

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Der senegalesische Sufi-Führer Ahmadu Bamba um 1920. Seine Sufi-Bruderschaft Muridiyya trieb die Islamisierung Westafrikas voran.

​​Sidi al-Mukhtar al-Kunti etwa, der im achtzehnten Jahrhundert die Sufi-Bruderschaft der Qadiriyya in der Sahara-Region neu belebte, war ebenso sehr Manager eines Handelsunternehmens wie spiritueller Kopf. Nach seinem Vorbild fanden in den folgenden Jahrzehnten seine und andere Bruderschaften in ganz Westafrika Verbreitung. Unter der Führerschaft zahlreicher arabischer und Swahili-Sheiks expandierte der Sufismus auch entlang der ostafrikanischen Küste.

Sufi-Sheiks mobilisierten wiederholt ihre Gefolgschaft für politische Bewegungen und gehörten im späteren neunzehnten Jahrhundert vielerorts zu den erbittertsten Gegnern der europäischen kolonialen Expansion. Vorher schon erklärten Sheiks in den Savannengebieten Westafrikas militärische Dschihads gegen afrikanische Herrscher und läuteten ein Jahrhundert religiöser Kriege ein.

Viele dieser Dschihads nahmen die Gestalt interner Revolten an, in denen lokale Muslime die Autorität traditioneller Herrscher in Frage stellten. Dies war in einem der bekanntesten Heiligen Kriege in der afrikanischen Geschichte der Fall: Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts rief Usman dan Fodio zum Widerstand gegen die herrschende Willkür und Ausbeutung in den Hausa-Staaten Nordnigerias auf.

Er fand zahlreiche Anhänger, die sich ihm aus Unzufriedenheit mit den Verhältnissen und aus Angst vor Versklavung anschlossen. Am Ende des Dschihad stand binnen weniger Jahre das Kalifat Sokoto, das zu einem der wichtigsten Reiche Westafrikas im neunzehnten Jahrhundert und zu einer der größten Sklavengesellschaften der Geschichte werden sollte.

Europäischer Kolonialismus und islamische Expansion

Viele Studien verweisen auf die ironische Tatsache, dass der Islam in der Kolonialperiode noch expandierte. Sufi-Bruderschaften waren unter kolonialer Herrschaft wichtige Vehikel für die Verbreitung des Glaubens und belegen, dass die Islamisierung nicht von Dschihads oder einem islamischen Staat abhängen musste.

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Geschichte und Gegenwart: Die Globalisierung des Islam fördert keineswegs ausschließlich die Verbreitung radikaler Interpretationen, sondern öffnet auch den Zugang zu einer Vielzahl von Diskussionen und Traditionslinien. Im Bild: Die Große Moschee von Djenné in Mali

​​In seiner faszinierenden Fallstudie einer Sufi-Gemeinschaft in Französisch-Westafrika betont Sean Hanretta die große Bedeutung lokaler ökonomischer Kontexte und der ebenso intensiv wie kontrovers geführten Debatten über den richtigen Weg frommer Menschen, sozialer Ungerechtigkeit zu begegnen, für die Ausprägung islamischer Praktiken ("Islam and Social Change in French West Africa. History of an Emancipatory Community", Cambridge University Press, New York 2009).

Gelegentlich kam es im frühen zwanzigsten Jahrhundert zu Koalitionen zwischen Muslimen und dem kolonialen Staat, etwa im Ersten Weltkrieg bei der Rekrutierung von Soldaten für die französische Armee. Mussolini, der sich als "Freund des Islam" inszenierte, nutzte die Enttäuschung von Muslimen am Horn von Afrika, um sein kurzlebiges Regime in Äthiopien zu stützen.

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"Ich komme als Freund": Der Faschist Benito Mussolini nutzte die Enttäuschung von Muslimen am Horn von Afrika, um sein kurzlebiges Regime in Äthiopien zu stützen.

​​Zugleich lehnten sich vielerorts radikale muslimische Denker und Praktiker vehement gegen koloniale Regimes auf und kritisierten gemäßigte Glaubensbrüder scharf. Sie plädierten für die (Wieder-)Einführung der Scharia und lehnten, was sie als "westliche Werte" ansahen, vehement ab. Dies setzte sich in der Zeit nach der Unabhängigkeit fort, zu beobachten etwa in Nigeria. Dort führten, wie Johannes Harnischfeger dargelegt hat ("Demokratisierung und islamisches Recht. Der Scharia-Konflikt in Nigeria", Campus, Frankfurt am Main 2006), zahlreiche Bundesstaaten das islamische Recht wieder ein.

Scharia-Politiker eignen sich die Machtmittel des Staates an, um sich im Namen göttlicher Gebote über alle weltlichen Gesetze hinwegzusetzen. Sie zwingen den Gläubigen eine orthodoxe Lebensweise auf und nehmen das Bekenntnis zu kultureller Vielfalt nicht besonders ernst.

Islam in Ostafrika

Nicht zuletzt die Länder Ostafrikas, darunter Tansania, sind in den Verdacht geraten, vermehrt radikale Muslime hervorzubringen. Doch warum und auf welche Weise konvertieren Menschen in dieser Region überhaupt zum Islam? Darauf versucht Felicitas Becker in ihrer historisch weit ausgreifenden Arbeit Antworten zu finden ("Becoming Muslim in Mainland Tanzania 1890–2000", Oxford University Press 2008).

Sie glaubt, dass während der Kolonialzeit Menschen aus den ländlichen Gebieten in der Regel aus freien Stücken Muslime wurden. In vielen Regionen Tansanias bedeutete, Muslim zu werden, was sich andernorts mit der Konversion zum Christentum verband: "ein Akt der Emanzipation, das Bestreben, den Anspruch geltend zu machen, an der Aushandlung lokaler Machtbeziehungen teilzuhaben".

Viele Muslime sahen sich später als Teil der nationalistischen Bewegung, beklagen inzwischen jedoch heftig ihre systematische Ausgrenzung nach der Unabhängigkeit durch den ersten (christlichen) Präsidenten Tansanias, Julius Nyerere. Die gegenwärtige Situation im Land ist stark durch Konflikte zwischen verschiedenen muslimischen Strömungen gekennzeichnet, die zugleich Auseinandersetzungen um Ressourcen sowie zwischen Generationen und Geschlechtern markieren.

Beckers Buch macht einmal mehr deutlich, dass pauschale Ansichten über "den" Islam nichts erklären. Man muss sich die Mühe machen, sorgfältig zu differenzieren und zu kontextualisieren. Im Falle Afrikas ist die Literatur, die bei dieser Anstrengung helfen kann, durchaus vorhanden.

Andreas Eckert

© Frankfurter Allgemeine Zeitung 2010

Redaktion: Lewis Gropp/Qantara.de

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