"Vielfalt als Teil des Alltags"

Warum deutsche Schulbücher mit den Themen Islam und Einwanderung noch immer wenig zeitgemäß umgehen, erläutert Diversity-Expertin Viola B. Georgi von der Universität Hildesheim im Gespräch mit Arnd Zickgraf.

Von Arnd Zickgraf

Frau Georgi, wie stellen Autoren deutscher Schulbücher den Islam typischerweise dar?

Viola B. Georgi: Dazu gibt es in der gegenwärtigen Schulbuchforschung drei zentrale Befunde. Erstens: Der Islam wird "entzeitlicht" dargestellt. Das heißt, die Schulbücher beziehen sich häufig nur auf die Glaubensrituale und das Mittelalter, die weitere Entwicklung des Islam sparen sie weitgehend aus. Schüler lernen unter diesen Voraussetzungen nicht, zwischen Setzungen durch religiöse Schriften und den kulturellen und politischen Vergangenheiten zu unterscheiden. So entsteht quasi eine Erzähllücke zwischen Mittelalter und Moderne, zwischen den Kreuzzügen und den terroristischen Anschlägen des 11. September 2001, die rasch Eingang in die schulischen Bildungsmedien gefunden haben. Mit der Lücke entsteht der Eindruck, die europäische Moderne habe sich unabhängig – wenn nicht gar im Gegensatz – zu islamisch geprägten Gesellschaften positiv entwickelt, während diese vormodern geblieben seien.

Zweitens lässt sich die Tendenz beobachten, islamisch geprägte Zivilisation und Kultur als einheitlich darzustellen. Innerislamische Unterschiede werden nur selten zum Thema gemacht. Drittens wird der Islam häufig als starre Gesetzesreligion dargestellt und mit Gewalt oder der Unterdrückung von Frauen in Verbindung gebracht.

Was bewirken solche Vorurteile bei Schülern?

Georgi: Ich spreche lieber von Darstellungen, die sich nur schwer von Stereotypen lösen können, als von Vorurteilen. Sie stellen Migranten selten als aktiv Handelnde, sondern eher als Bedürftige und oft als Opfer gesellschaftlicher Umstände dar. Häufig sind Arbeitsaufträge in Schulbüchern aus Perspektive einer Dominanzgesellschaft formuliert. Besonders augenfällig wird das bei Aufgaben, in denen die Lehrbücher Schülern ausdrücklich eine Herkunft zuschreiben, wie: "Fragt einen Schüler mit Migrationshintergrund in eurer Klasse, wie seine Familie zu uns nach Deutschland gekommen ist". Es gibt viele Beispiele dieser Art.

Viola B. Georgi von der Universität Hildesheim; Quelle: Isa Lange/Uni Hildesheim
Viola B. Georgi ist Professorin für Diversity Education an der Stiftung Universität Hildesheim und Direktorin des Zentrums für Bildungsintegration. Zu ihren Arbeits- und Forschungsschwerpunkten zählen unter anderem Diversity in Bildungsmedien, Interkulturelle Bildung und Professionalisierung, Diversity Education, Holocaust Education, Forschung zum Geschichtsbewusstsein, Demokratiepädagogik und Citizenship Education.

Für Schüler aus Einwandererfamilien bedeutet das, immer wieder auf die Herkunft verwiesen zu werden – das macht es schwer, ein Zugehörigkeitsgefühl zu entwickeln. Bezogen auf die Ergebnisse neuerer Studien zu Afrika-Bildern in deutschen Schulbüchern möchte ich hinzufügen, dass hier stereotype, hierarchisierende, koloniale und rassistische Klischees fortbestehen. Diese Klischees wirken sich negativ auf das Selbstbild von Kindern und Jugendlichen "of color" in Deutschland aus.

Wie lässt es sich erklären, dass Schulbuchautoren so über Afrika, den Islam und Migranten schreiben?

Georgi: Schulbuchautoren sind häufig Lehrkräfte, die sich im Studium in einem bestimmten Fach, etwa in Geschichte, qualifiziert haben. Sie erhalten von Verlagen beispielsweise den Auftrag, in Kooperation mit den Fachredaktionen einzelne Schulbuchkapitel neu zu entwickeln oder schon existierende für eine Neuauflage zu überarbeiten. Letztlich spiegeln sie in ihren Einschätzungen auch nur bestimmte dominante gesellschaftliche Diskurse wider – wie die sich hartnäckig behauptende Position, dass Migration in erster Linie Probleme verursacht und mit Konflikten beladen sei. Zum Teil hinken die Autoren neueren Entwicklungen und Erkenntnissen der Wissenschaft hinterher: So fällt es ihnen schwer, die demografische Realität der deutschen Einwanderungsgesellschaft zeitgemäß in Bild und Text zu fassen. Es gelingt ihnen bisher noch nicht, die migrationsbedingte Vielfalt als normal zu begreifen – und auch die Potenziale von Migration und Diversität zu erkennen und zu vermitteln.

Ist denn Besserung in Sicht?

Georgi: Ich erhoffe mir einen Paradigmenwechsel. Zumindest kündigt sich dieser in den jüngsten Empfehlungen der Kultusminister zur interkulturellen Bildung in Erziehung und Schule von 2013 an. Hier heißt es beispielsweise: Schulbücher sollten daraufhin geprüft werden, ob die vielschichtige, auch herkunftsbezogene Heterogenität der Schülerinnen und Schüler berücksichtigt sei.

Ist der Diversity-Ansatz, der Schüler dazu bringen soll, sich aktiv mit Vielfalt und Heterogenität in der Gesellschaft auseinanderzusetzen, die Lösung?

Georgi: Er ist nicht die Lösung, aber eine wichtige Strategie auf dem Weg zu einem pluralen, demokratischen Verständnis der Gesellschaft. In einem solchen Selbstverständnis ist Diversität der Normalfall. Es ist, schlicht gesagt, normal, verschieden zu sein. Die Auseinandersetzung mit Vielfalt ist Teil unseres Alltags. Differenz, etwa die Migrationserfahrung, ist dann nicht als Abweichung zu definieren, sondern stellt lediglich einen Aspekt menschlicher Identität dar. Die vielfältigen individuellen und kollektiven Unterschiede werden als selbstverständlich begriffen und zum Ausgangspunkt von Lernprozessen gemacht – das gilt für Kita, Schule und Hochschule gleichermaßen.

Was bedeutet das für Autoren zukünftiger Lehrwerke?

Georgi: Meines Erachtens wäre es sehr sinnvoll, Autoren regelmäßig thematisch weiterzubilden und darüber hinaus auch Schulbuchautoren mit Migrationshintergrund zu rekrutieren. Aber auch dann wäre ein zusätzliches kritisches Lektorat durch eine Gruppe von Fachwissenschaftlern und Fachdidaktikern ratsam.

Das Gespräch führte Arnd Zickgraf.

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