Die Beschleunigung der Geschichte

Anders als in Europa kam in der islamischen Welt die Säkularisierung vor der Reformation – mit schwerwiegenden Folgen für die gesellschaftliche Entwicklung. Ein Essay von Nader Hashemi

Ein von Auguste Couder 1840 gemaltes Portrait von Muhammad Ali ; Foto: Wikipedia
Weitreichende Modernisierung statt Reformation: Muhammad Ali gilt als Vater des modernen Ägypten.

​​Einer der hellsichtigsten Intellektuellen, die derzeit über das Verhältnis des Islam zur Demokratie schreiben, ist Abdou Filali-Ansary. In einer Veröffentlichung über die Spannungen zwischen dem Islam und der Säkularisierung hielt er vor nunmehr über zehn Jahren fest:

"In der muslimischen Welt ist die Säkularisierung einer Reformation des Glaubens vorausgegangen – anders als in Europa, wo sie eher eine Folge der Reformation war." Leider hat der Autor diesen Gedanken nicht weiterverfolgt. Denn für ein Verständnis der Probleme, mit denen muslimische Gesellschaften bei ihrer politischen Entwicklung derzeit zu kämpfen haben, könnte das sehr hilfreich sein.

In der Geschichte der westlichen Welt hat die Reformation die Säkularisierung nach sich gezogen. Deshalb kann ihre Entstehung und Verbreitung rückblickend kaum ohne Zusammenhang mit der Reformation und den Religionskriegen, von denen Europa in der Folge zerrissen wurde, gedacht werden.

Anders gesagt: Martin Luthers 95 Thesen von 1517 haben John Lockes Brief über Toleranz von 1689 erst möglich gemacht. Der Text gilt als eines der ältesten in der europäischen Geistesgeschichte bekannten Plädoyers für eine klare Trennung von Kirche und Staat.

Eine Umkehrung dieser Abfolge von Reformation und Säkularisierung scheint schon deshalb schwer vorstellbar, weil es für eine Trennung der religiösen Sphäre von der staatlichen zuvor in Europa kaum politische Sympathien gab.

Religion als Quelle moralischer Autorität

Tatsächlich traf jegliche religiöse Neuerungsbestrebung in Europa noch bis zur Aufklärung auf eine tief verwurzelte Skepsis, galt doch die Religion als Quelle moralischer Autorität schlechthin. Deshalb wurde etwa Thomas Hobbes so häufig als angeblicher Atheist angegriffen.

Zu Beginn seines Leviathan nimmt der Autor selbst dies vorweg: Seine schärfsten Kritiker, vermutet er, würden wohl hauptsächlich über seiner neuartigen religiösen Erörterungen aufgebracht sein, nicht so sehr über seine politische Freimütigkeit.

Auch John Locke war zunächst Reformator. Wie die Reformation der Säkularisierung voranging, so basieren die beiden wichtigsten Traktate von John Locke, die Zwei Abhandlungen über die Regierung sowie der Brief über die Toleranz – beide haben zur Säkularisierung in der westlichen Welt erheblich beigetragen – jeweils auf einer Neuinterpretation des christlichen Denkens.

&copy Wikimedia Commons
Eines der ersten Plädoyers für eine klare Trennung von Kirche und Staat, das die westliche Geistesgeschichte kennt: John Lockes "A Letter Concerning Toleration" (1689)

​​In den Zwei Abhandlungen verlagert sich die moralische Legitimation politischer Herrschaft vom "heiligen Recht" der Könige auf die "Zustimmung" der Regierten. Und in seinem Brief über die Toleranz stellt Lockes religiöse Reinterpretation des Christentums eine Vorrede zu den neuen Sichtweisen dar, die er über das Verhältnisses von Kirche und Staat entwickelt.

Er entfernt sich dabei von der vorherrschenden Hobbesianischen Auffassung, indem er argumentiert, religiöse Toleranz könne durchaus mit politischer Ordnung einhergehen, vorausgesetzt, man sei in der Lage, "zwischen dem Geschäfte der staatlichen Gewalt und dem der Religion genau zu unterscheiden und die rechten Grenzen festzusetzen." (Locke, John: Brief über die Toleranz. Englisch-deutsch. Übersetzt, eingeleitet und in Anm. erl. von Julius Ebbinghaus. Hamburg: Meiner Verlag 1996, S. 11.)

Mit anderen Worten: Das normative Verhältnis zwischen Religion und Staat wird von Locke zunächst im Rahmen einer divergierenden religiösen Auslegung erfasst, um es darauf aufbauend neu zu konzipieren. Hier zeigt sich ganz deutlich, dass die Säkularisierungs- und Demokratisierungstendenzen der Zeit eine im Glauben verwurzelte Reformation der Vorstellungen von Staat und Regierung zur Voraussetzung hatten.

Säkularisierung in der islamischen Welt

Buchcover: 'Islam, Secularism, and Liberal Democracy' von Nader Hashemi
Nader Hashemis Buch "Islam, Secularism, and Liberal Democracy" ist Charles Taylor zufolge eine "fundierte Erörterung", die zeigt, "wie hohl die Klischees sind, die den Islam schon von seinem Wesen her zum Hindernis für die Demokratie stilisieren wollen."

​​In der islamischen Welt hat sich der Prozess genau umgekehrt abgespielt, wie Filali-Ansary richtig feststellt: Die Säkularisierung ist der Reformation vorausgegangen. Dies hatte für die politische Entwicklung der muslimischen Gesellschaften weitreichende Folgen.

Die Säkularisierung erreichte sie zunächst durch die europäischen Kolonialmächte und dann durch deren postkoloniale Modernisierungs- und Repressionsbestrebungen. Sie war also ein staatlich oktroyierter Prozess und keine von der Basis ausgehende Entwicklung, die von zivilgesellschaftlichen Debatten befruchtet gewesen wäre.

Der renommierte Historiker Marshall Hodgson greift dies in einer Abhandlung auf, welche den Anbruch der Moderne in Europa mit parallelen Entwicklungen im Nahen Osten vergleicht. Er stößt dabei auf einen entscheidenden Unterschied mit für die jeweilige politische Entwicklung fundamentalen Folgen: Die Konfrontation mit Elementen der neuzeitlichen Moderne sei für die Muslime, anders als für die Europäer, eine Erfahrung der historischen Beschleunigung gewesen, die auf einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit hinausgelaufen sei.

Das größte Manko dieser Entwicklung habe darin bestanden, dass sie insgesamt nicht mit einem Wandel der religiösen, geistigen und politischen Werte in der Gesellschaft einhergegangen sei.

Umfassendes Modernisierungsprogramm für Ägypten

In den Wirren nach der Besatzung Ägyptens durch Napoloen (1798-1799) gelang es im Jahr 1805 einem Befehlshaber der albanischen Armee, Muhammad Ali (1769-1849), die Macht zu ergreifen, die Militärkaste der Mamelucken zu stürzen und die ägyptische Gesellschaft mit einem umfassenden Modernisierungsprogramm zu reformieren. Wegen dieser durchgreifenden Reformen gilt Muhammad Ali bis heute als Gründungsvater des modernen Ägypten.

Nader Hashemi; Foto: &copy privat
Nader Hashemi ist Assistant Professor für Politische Wissenschaft des Nahen Ostens und der islamischen Welt an der Josef Korbel School of International Studies, University of Denver.

​​Hodgson meint nun, es sei Ali zwar gelungen, in Ägypten die traditionelle Ordnung zu durchbrechen und das Land zu modernisieren, doch habe er auch feststellen müssen, dass "zwei Jahrhunderte ständigen sozialen und geistigen Wandels in Europa an Ägypten spurlos vorübergegangen waren. Dieses Defizit hatte zur Folge, dass Ali bestimmte enge Grenzen nicht seinen Absichten entsprechend einziehen konnte: Grenzen, die damals noch ungewohnt waren, bald aber schon ganz normal sein würden."

Dass Muhammad Ali Ägypten zu neuem geistigen Leben verhelfen wollte, lässt sich paradigmatisch an dem modernen Bildungssystem erkennen, das er einführte. Dieses war an westliche Vorbilder angelehnt, der Schwerpunkt lag auf technischer und naturwissenschaftlicher Ausbildung.

Doch den guten Absichten zum Trotz sei die Wirkung dieser Bemühungen bisweilen geradezu "destruktiv" gewesen, meint Hodgson. Die gesellschaftliche Kluft zwischen einer kleinen Elite, die eine westlich-säkulare Ausbildung genoss, und der breiten Masse, die davon ausgeschlossen blieb, wurde immer größer.

Die Schüler und Studierenden der Elite, so Hodgson, verfügten "kaum über fundierte Kenntnisse der islamischen Geschichte ihres Landes und trafen in ihrem sozialen Umfeld auf ebenso wenig Sympathie, wie sie diesem Umfeld entgegenbrachten." Die Wahrung der "kulturellen Kontinuität des Landes" blieb insofern der anderen Gruppe überlassen, also jenen, die eine traditionelle Ausbildung genossen.

Modernisierungsprozess mit Rückschlägen

Was bei den ägyptischen Reformen unter dem Strich herauskam, hat die Debatten, die in der muslimischen Welt bis heute über Religion, Säkularisierung und Demokratie geführt werden, nachhaltig geprägt, meint Marshall Hodgson:

"Die einen waren vom Lernen mit Hilfe moderner Bücher besessen, was zu einer gewissen Entfremdung von ihren Landsleuten führte, zumal sie über die eigene Religion fast nichts mehr wussten. Die anderen wurden zunehmend zu Hütern jener Religion, zu unberufenen allerdings, da sie von den geistigen Quellen der modernen Lebens abgeschnitten waren."

Was in Ägyptens vorgefallen sei, habe sich "in vielen Ländern der östlichen Hemisphäre, in denen eine städtische Bildungskultur vorherrscht", wiederholt, meint Hodgson, "wenn auch in anderer, meist weniger klar erkennbarer Form und unter verschiedenen Rahmenbedingungen."

Die muslimische Moderne sei von einem klaren Bruch durchzogen, sei geprägt von "drastischer Diskontinuität". Das ist wichtig, nämlich als Ergänzung zur Sichtweise von Filali-Ansary, demzufolge im muslimischen Kulturkreis die Säkularisierung der Reformation des Glaubens vorangegangen sei – "anders als in Europa, wo die Säkularisierung eher eine Folge der Reformation war."

Hodgsons Beobachtung, dass die muslimischen Gesellschaften keinen von ihrer Basis ausgehenden "stabilen sozialen und geistigen Wandel" erfahren haben, der der staatlich oktroyierten Modernisierung entsprochen hätte, zeigt, wie unterentwickelt die politische Kultur dieser Länder ist.

Anders gesagt: Weil das Verhältnis von Religion zu weltlicher Macht, wie es heutzutage in muslimischen Gesellschaften die Norm darstellt, keinerlei Beeinflussung seitens etwa einer Reformationsbewegung erfahren hat, konnten sich in der muslimischen Welt bislang auch kaum Säkularisierungstendenzen herausbilden.

Die Kluft zwischen staatlich verordneter Säkularisierung und nicht-säkularer politischer Basiskultur erklärt zum Teil auch, warum fundamentalistische Parteien mit ihrem Ruf nach einem "islamischen Staat" heutzutage oft erfolgreich sind.

Nur eine Minderheit der Bevölkerung hat Zugang zu Bildung nach westlichen Standards gehabt. Nur sie konnte sich säkulare Sichtweisen tatsächlich zu eigen machen. Ein bedeutsamer Teil einer jeden muslimischen Gesellschaft reagiert jedoch positiv auf Bestrebungen, Religion und Staatswesen stärker zu integrieren, und lehnt eine Säkularisierung der Gesellschaft insgesamt ab.

Das Thema hat sicher noch viele Facetten, doch die hier aufgezeigten Hintergründe sind für ein Verständnis seiner Vielschichtigkeit zentral.

Nader Hashemi

Übersetzt aus dem Englischen von Ilja Braun

© Nader Hashemi 2009

Dieser Artikel ist ein Auszug aus Nader Hashemis Buch "Islam, Secularism, and Liberal Democracy: Toward a Democratic Theory for Muslim Societies", Oxford University Press, 304 pages.

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de

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