"Die Umweltkrise ist auch eine spirituelle Krise"

Seit einigen Jahren gibt es einen global geführten Umweltdiskurs, der ökologische Themen mit einer islamischen Ethik verbindet. Doch inwiefern kann man aus dem Islam Handlungsanweisungen für ökologische Nachhaltigkeit ableiten? Darüber sprach Eren Güvercin mit der Expertin Sigrid Nökel.

Symbolbild Umweltschutz und Islam; Foto: DW/dpa
Kann ein "Öko-Islam" neue Impulse setzen, damit sich die Bevölkerung in den muslimischen Staaten mit ihrer Umwelt künftig stärker identifiziert?

​​ Es ist eher ungewöhnlich, dass der Islam im Zusammenhang mit Umweltschutz erwähnt wird. Welche Umweltkonzepte lassen sich aus dem Islam ableiten?

Sigrid Nökel: Die Umweltprobleme, die wir kennen, resultieren aus der Industrialisierung und dem Kapitalismus und sind damit relativ jung. Die islamischen Quellen dagegen sind vor mehr als tausend Jahren in einem völlig anderen Kontext entstanden. Daher kann man sich nur auf Vorstellungen über die Beziehung zwischen Mensch und Umwelt stützen, die allgemeiner Art sind.

In diesen Zusammenhang gehören Begriffe wie fitra - die Schöpfung - als ursprüngliche natürliche Ordnung; tawhid - die Einheit der Schöpfung, wonach alle Dinge der Welt miteinander in Beziehung stehen und, weil sie alle gleichermaßen Zeichen Gottes sind, alle gleich bedeutsam, wertvoll und bewahrenswert sind; mizan, die Balance, also der Zustand einer wohl geregelten Schöpfung, den es zu erhalten bzw. wiederherzustellen gilt.

Khilafa schließlich bezieht sich auf die Rolle des Menschen als Sachwalter der Schöpfung. Der Mensch habe die Aufgabe, die Ordnung der Schöpfung zu erhalten. Er darf die Früchte der Erde genießen, aber er darf ihre Ressourcen nicht verschwenderisch ausbeuten.

Auch in den Überlieferungen der Worte und Taten des Propheten und der frühen Muslime lassen sich Beispiele dafür finden, dass man sparsam und umsichtig mit den natürlichen Ressourcen umgehen und man Tiere gut versorgen soll. Sie haben Vorbildcharakter für die späteren Generationen.

Gibt es denn in der islamischen Tradition bestimmte Grundkonzepte, die dem Umweltschutz dienen?

Nökel: Aus den islamischen Regionen sind Regelungen aus früheren Zeiten bekannt, die man

Baumwollpflückerinnen in Kairo; Foto: AP
Den meisten Muslimen ist der Zusammenhang zwischen Religion und Umweltschutz nicht bewusst, obwohl sie ihn unbestimmt sehen und wahrnehmen, meint Sigrid Nökel.

​​als Instrumente eines Natur- und Artenschutzes bezeichnen kann und die man heute versucht wiederzubeleben. Dazu zählen so genannte Harim- und Hima-Zonen. Darunter fallen Schutzzonen um Quellen und Wasserläufe, die z.B. nicht besiedelt werden durften, um das Wasser nicht zu verunreinigen.

Oder es gab Wiesen- oder Waldbereiche, die nur zu bestimmten Zeiten, z.B. nach der Pollenernte oder wenn Trockenzeiten drohten und zu bestimmten Zwecken zur Nutzung freigegeben waren. Diese Maßnahmen gerieten im Zuge der Privatisierung des Bodens, der Intensivierung der Landwirtschaft und der zunehmenden Bebauung in Vergessenheit. Seit einigen Jahren versucht man, sie im Zuge von Wasser-, Ufer- und Artenschutzprojekten wieder einzuführen.

In ihrer Arbeit schreiben sie von der Öko-Theologie Seyyid Hussein Nasrs. Was ist darunter zu verstehen?

Nökel: Der 1939 geborene persische Philosoph und Theologe Seyyid Hussein Nasr stellt, wie auch einige christliche Theologen, die Frage des ökologischen Gleichgewichts in den Kontext der Religion. Zugrunde legt er eine kosmologische Sicht der Welt, bei der Natur, Mensch, Gott bzw. Himmel und Erde ein ursprünglich wohl ausbalanciertes Ordnungsgebilde darstellen.

Seiner Ansicht nach verleugnen die Menschen diese Ordnung aber seit der

Regenwald in Indonesien Foto: DW/Golte-Schröder
Umweltkrise als spirituelle Krise: Diese Diagnose betrifft den Islam und die Muslime, die wieder zu ihrem ursprünglichen Weg zurückfinden müssen.

​​europäischen Aufklärung und haben an ihre Stelle eine anthropozentrische Ordnung gesetzt, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt und ihm mangels Bindung an eine höhere Ordnung freie Bahn gibt für die Ausbeutung der Natur.

Nasr zufolge ist der Mensch ein grenzenlos egoistisches und gieriges, aber gleichzeitig nach Transzendenz strebendes Wesen, das ohne kosmologische Verankerung aber keine wirkliche Befriedigung findet und daher in stetig gesteigertem Konsum und in perfektionierter Technik ein Ventil sucht. Die Umweltkrise ist für ihn eine spirituelle Krise. Diese Diagnose betrifft auch den Islam und die Muslime, die wieder zu ihrem ursprünglichen Weg zurückfinden müssten.

Nasr setzt, in der Sufi-Tradition, vor allem am einzelnen Menschen an, der die kosmologischen Gesetze erkennen und sich in sie einfügen müsse. Die Orientierung am Spirituellen würde dann die Orientierung am Konsum ersetzen. Das ist gleichzeitig sehr konservativ, aber auch sehr aktuell, wenn man an die allgegenwärtigen Forderungen in Richtung Konsumverzicht und Änderung des Lebensstils denkt.

In der öffentlichen Diskussion zum Umweltschutz sind bisher die Muslime nicht allzu sehr aufgefallen. Woran liegt das?

Nökel: In öffentlichen Diskussionen wie auch in Organisationen sind Muslime generell kaum vertreten, höchstens sehr vereinzelt als 'Migranten'. Die religiöse Haltung wird als Privatsache verstanden, über die man sich nicht öffentlich äußert, um sich nicht zu kompromittieren. Das ist sozusagen ein Tabu-Thema.

Den meisten Muslimen ist der Zusammenhang zwischen Religion und Umweltschutz nicht bewusst, obwohl sie ihn unbestimmt sehen und wahrnehmen. Die Stiftung Interkultur führt gerade eine kleine Untersuchung dazu durch. Dabei ist bisher zu Tage getreten, dass Muslime, die die Religion ernst nehmen, die Ansicht äußern, die Religion gebiete "Respekt gegenüber der Natur", was sie dann in ihrem Alltag z.B. dazu veranlasst, Grünzonen zu schützen und andere dazu anzuhalten, sparsam mit Wasser oder Nahrungsmitteln umzugehen oder sich Gedanken über ihren Konsum zu machen.

Es gibt indessen keine umfassenden empirischen Studien über das Umweltbewusstsein von Muslimen. Man hat sie bisher nicht als relevante Gruppe in diesem Kontext wahrgenommen bzw. sie als unerreichbar für diesen Themenkomplex eingestuft.

Was könnte der Beitrag der Muslime zu diesem heute sehr intensiv diskutierten Thema "Umweltschutz" sein?

Nökel: Wie es scheint, müssen Muslime sich erst noch über den Zusammenhang von Religion und Umwelt klar werden. Für viele sind das zwei völlig verschiedene Zusammenhänge, die sie bislang nicht zusammengeführt haben. Möglicherweise kann eine Idee wie der "Öko-Islam" Impulse setzen, sich mit dem Umweltthema zu identifizieren, sich und seinen Lebensstil wie seine Alltagsgewohnheiten im Hinblick darauf zu reflektieren.

Was Nasr nahe legt, ist, dass der Islam sich nicht in der Befolgung von Riten erschöpft, sondern eine persönliche Verantwortung für die Welt, jenseits konfessioneller Grenzen, fordert. Jeder hat in dieser Hinsicht an sich selbst zu arbeiten. Umwelt- und Klimaschutz wird, jenseits aller Moden, zu einer Angelegenheit von spirituellem Rang. Über Moscheegemeinden und islamische Gruppen würde man eine große Gruppe von Menschen erreichen, die sich sonst nicht angesprochen fühlen. Umweltdiskurse könnten hier verankert werden. Vernetzungen mit anderen Umweltgruppen und -organisationen wären möglich. Die Umweltbewegung wäre damit einen Schritt weiter.

Gibt es in Europa "öko-islamische" Projekte oder Initiativen?

Nökel: Eine der bekanntesten Organisationen ist die britische Islamic Foundation for Ecology and Environmental Sciences, kurz IFEES. Sie ist eine bei der UNO registrierte NGO und eine Schwesterorganisation der international tätigen Alliance of Religions and Conservation (ARC), mit der sie zusammen Küstenschutzmaßnahmen im afrikanischen Raum entwickelt hat.

Darüber - sowie über ihre Initiativen in Großbritannien - hat sie ein medienwirksames Bild eines Öko-Islams entworfen. Ihr professionell anmutender Newsletter EcoIslam zeigt eine eindrucksvolle Synthese von islamischen Diskursen und Umweltdiskursen. Gekonnt werden Informationen auch über globale Zusammenhänge und praktische Maßnahmen für den Alltag vermittelt. IFEES ist mit anderen lokalen britischen Organisationen, die in den letzten Jahren entstanden sind, vernetzt. Gemessen daran stellt sich Deutschland bislang als ein Entwicklungsland dar.

Interview: Eren Güvercin

© Qantara.de 2009

Dr. Sigrid Nökel ist Soziologin. Sie promovierte an der Universität Bielefeld über "Die Töchter der Gastarbeiter und der Islam" und forschte am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI) sowie an der Universität Bremen zum "Euro-Islam". Für die Stiftung Interkultur verfasste sie eine Untersuchung zum Thema Islam, Umweltschutz und nachhaltiges Handeln, die 2009 in der Reihe "Stiftung Interkultur – Skripte zu Migration und Nachhaltigkeit" erschienen ist (Link zur PDF s.u.).

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Islam und Entwicklungszusammenarbeit
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Staatliche und nichtstaatliche Entwicklungshilfeorganisationen müssen definieren, auf welcher gemeinsamen Wertegrundlage sie mit muslimischen Partnern zusammenarbeiten wollen. Aber wie wichtig ist der Bezug auf den Islam für das Gelingen von Entwicklungshilfeprojekten tatsächlich? Ein Beitrag von Martina Sabra.

www

Stiftung Interkultur

Website Hossein Nasr Foundation

Studie "Islam, Umweltschutz und nachhaltiges Handeln" (PDF-Format)