Fatwas gegen religiösen Liberalismus

Elf neue religiöse Rechtsgutachten führten in den letzten Wochen zu heftigen Debatten in der indonesischen Öffentlichkeit. Insbesondere moderate Muslime legen Einspruch ein und fordern eine Revision. Von Bettina David

Elf neue religiöse Rechtsgutachten führten in den letzten Wochen zu heftigen Debatten in der indonesischen Öffentlichkeit. Insbesondere moderate Muslime und Vertreter liberaler islamischer Organisationen legen Einspruch ein und fordern eine Revision. Bettina David informiert

Moschee in Jakarta, Foto: AP
Die elf neuen Rechtsguachten des indonesischen Majlis Ulama sind zwar rechtlich nicht bindend, aber dennoch äußerst umstritten

​​Im Rahmen des 7. Kongresses des Indonesischen Rates der Religionsgelehrten (MUI, "Majlis Ulama Indonesia"), der Ende Juli 2005 in Jakarta stattfand, wurden elf neue Fatwas (religiöse Rechtsgutachten) formuliert. Fatwas sind in Indonesien rechtlich nicht bindend, stellen aber für viele gläubige Muslime eine wegweisende Orientierungshilfe dar.

Die jetzt vom MUI erlassenen Rechtsgutachten haben zu lautstarken Kontroversen und hitzigen Polemiken geführt, die einmal mehr den tiefen Graben zwischen liberal-moderaten und orthodox-neofundamentalistischen Strömungen im gegenwärtigen indonesischen Islam sichtbar werden lassen.

Verbot von Freitagsgebeten für weibliche Imame

Inhalt der Fatwas ist unter anderem ein Verbot der Leitung des Freitagsgebetes durch weibliche Imame, womit MUI sich auf den Tabubruch Amina Waduds bezieht, die im März dieses Jahres in New York vor einer Gemeinde aus Männern und Frauen das Freitagsgebet leitete.

Eine weitere Fatwa widmet sich dem Aberglauben und den damit einhergehenden schamanistischen Praktiken, die derzeit in den indonesischen Massenmedien, besonders im Fernsehen, einen wahren Boom erleben.

Die Fatwa betont die von diesen Phänomenen angeblich ausgehende Gefahr, in einen Polytheismus abzugleiten, der die Dschinnis (Geistwesen) neben Gott zum Gegenstand von Anbetung macht.

Die heftigste Kritik löste indes die Fatwa aus, in der religiöser Liberalismus, Säkularismus und religiöser Pluralismus als haram kategorisiert werden. Ein Bekenntnis zu diesen Werten kommt somit aus Sicht des MUI einem Abfall vom Islam gleich, da sie als mit dem wahren Islam unvereinbar dargestellt werden.

In seiner Erklärung definiert MUI religiösen Liberalismus als islamisches Denken, das nicht auf religiösen Grundlagen beruht, sondern vielmehr der Freiheit menschlichen Denkvermögens verpflichtet ist.

Säkularismus wird verstanden als Weltsicht, nach der die Religion lediglich die Beziehung zwischen dem einzelnen Menschen und Gott regelt, während die zwischenmenschlichen Beziehungen von keiner religiösen Ordnung geleitet werden, sondern unter den Menschen selbst ausgehandelt werden müssen.

Pluralismus schließlich wird ausgelegt als die Überzeugung, alle Religionen seien gleich und ihr jeweiliger Wahrheitsanspruch letztlich nur relativ, so dass keine Religion den Alleinbesitz der Wahrheit beanspruchen kann.

"Erlaubt ist allerdings ein Pluralismus, der als soziale Tatsache anerkennt, dass in der indonesischen Gesellschaft verschiedene Religionsangehörigkeiten vertreten sind, die sich daher gegenseitig respektieren und gute Beziehungen miteinander pflegen sollten", betonte Ma'ruf Amin, Vorsitzender der Fatwa-Kommission.

Schlag gegen liberale muslimische Bewegungen

Diese Fatwa ist ein deutlicher Schlag gegen den wachsenden Einfluss progressiver und liberaler muslimischer Bewegungen wie dem Netzwerk Liberaler Islam ("Jaringan Islam Liberal", JIL).

Religiöser Liberalismus, der sich gegen eine wörtliche Interpretation der heiligen Texte ausspricht, wird vom MUI als akute Bedrohung der islamischen Glaubensgrundsätze angesehen, vor der die Gläubigen geschützt werden müssten.

Der Protest ließ nicht lange auf sich warten. Er kommt unter anderem vom früheren Präsidenten und ehemaligen Vorsitzenden der größten indonesischen islamischen Massenorganisation "Nahdlatul Ulama" (NU), Abdurrahman Wahid, sowie verschiedenen islamischen Intellektuellen wie dem JIL-Koordinator Ulil Abshar-Abdalla und Menschenrechtsaktivisten, die in einer gemeinsamen Stellungnahme eine Revision zentraler Punkte der elf Rechtsgutachten forderten.

Unter anderem warfen sie MUI ein falsches und einseitig verzerrtes Verständnis der Konzepte des religiösen Liberalismus, Pluralismus und Säkularismus vor und warnten eindringlich vor einem zunehmenden Autoritarismus in religiösen Angelegenheiten.

Die zweite Fatwa, die heftige Diskussionen auslöste, richtet sich gegen die Ahmadiyah. Deren Lehre wird als "irregeleitet" und "irreleitend" verurteilt, sie sei theologisch eindeutig "außerhalb" des Islams positioniert. Ihre Anhänger gelten somit aus Sicht des MUI als Apostaten.

Bereits 1980 hatte MUI eine Fatwa erlassen, nach der die Ahmadiyah als "irregeleitet" und haram gilt. Die erneute Verdammung der Ahmadiyah seitens des MUI hat einen aktuellen Anlass: Im Juli überfiel eine radikalislamische Schlägertruppe eine Versammlung der Ahmadiyah in Bogor bei Jakarta.

Signalwirkung für radikalislamische Gruppen?

Kritiker befürchten nun, die MUI-Fatwa könne radikalen Gruppen grünes Licht für weitere Gewaltakte gegen Anhänger der Ahmadiyah geben. Die unter missbräuchlicher Berufung auf die Fatwa mögliche Legitimation von Ausschreitungen gegen unliebsame religiöse Gruppen und Minderheiten ist es auch, die nach Ansicht vieler Kritiker die prekären interreligiösen Beziehungen im Inselstaat bedrohen könnte.

Offiziell unterstützt werden die MUI-Fatwas von 26 islamischen Organisationen, die in ihren Stellungnahmen die Bevölkerung jedoch aufgefordert haben, die Fatwas "besonnen" aufzunehmen und mögliche Meinungsverschiedenheiten auf "zivilisierte" Weise in Form von Dialog und Begegnungen auszutragen.

Angesichts der erhitzten Atmosphäre warnen Gegner wie auch Befürworter der Fatwas vor möglichen Gewaltausbrüchen und fordern einen intensivierten Dialog zwischen allen beteiligten Parteien zur Beilegung möglicher Missverständnisse.

Auffällig ist, dass erstmals Fatwas des MUI zu derart emotionalen öffentlichen Debatten führen. Schon früher war MUI für seine kontroversen Fatwas bekannt, die allerdings keine vergleichbare Beachtung fanden.

Dass die orthodoxe Rechtsauslegung des MUI diesmal soviel Aufsehen erregt, zeugt allerdings auch von einem neuen Bewusstsein in der indonesischen Öffentlichkeit. Die unterschiedlichen Auffassungen in Sachen Religion werden explizit beim Namen genannt und so offen wie selten zuvor diskutiert.

Die immer breiter werdende Kluft, die sich dabei zwischen Anhängern eines liberal-moderaten Religionsverständnisses einerseits und einer Vielfalt von orthodoxen, neofundamentalistischen und radikalislamischen Strömungen andererseits auftut, lässt jedoch ahnen, welcher Zerreißprobe der indonesische Islam und damit auch die Demokratie des Landes in Zukunft gegenüberstehen wird.

Bettina David

© Qantara.de 2005

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