Salafiyya als innerislamische Reform
Der Islamwissenschaftler Frank Griffel schrieb jüngst in der Süddeutschen Zeitung, dass die Forderung nach Reformation und Aufklärung im Islam aus der Kenntnis vormoderner islamischer Gesellschaften heraus sinnlos sei. Zur Begründung führte er an, dass es in der islamischen Welt vor der Konfrontation mit dem Kolonialismus nie eine Situation gab, in der Reformation und Aufklärung nötig gewesen wären.
Das ist eine brisante These. Nicht nur deshalb, weil die Grundlagen des heutigen islamischen Fundamentalismus genau in dieser nachklassischen, vorkolonialen Zeit geschaffen wurden. Vor allem aber weil der Wahhabismus genauso für eine innerislamische Reform stand, die der Islam nach Frank Griffel angeblich nicht nötig hatte.
Dabei war der Wahhabismus gar nicht die einzige Reformbewegung. Muhammad Sameer Murtaza schreibt in einem Artikel für Die Zeit, dass es schon seit rund 270 Jahren in der muslimischen Welt Erneuerungsbewegungen unter dem Sammelbegriff Salafiyya gibt. Wären diese sinnlos, hätte es sie nicht gegeben.
Selbstverständlich sind die Begründer diese Erneuerungsbewegungen nicht mit Luther vergleichbar. Man muss solche Phänomene stets aus der eigenen Zivilisation heraus verstehen. Zur Salafiyya gehören neben den puritanischen Wahhabiten (aus der Zeit vor dem Kolonialismus) zum Beispiel die Muslimbrüder (aus der Zeit des Kolonialismus), der progressive Denker und Demokrat Jamal Al-Din al-Afghani (aus der Zeit des Kolonialismus) oder die revolutionäre Bewegung Hizb At-Tahrir (aus der Zeit nach dem Kolonialismus).
Sowohl Hizb At-Tahrir als auch den sog. Kalifatstaat von heute ordnet Muhammad Sameer Murtaza einer Bewegung von Ideologen zu, die in den 1950er bis 1970er Jahren in den arabischen Ländern Repressionen ausgesetzt waren. Mohammad Gharaibeh, Islamwissenschaftler an der Universität Bonn, ergänzt, dass diese Ideologen im Zuge ihrer Verfolgung in den arabischen Ländern nach Saudi-Arabien flohen, wo es zu einer starken ideologischen Vermischung mit dem Wahhabismus kam.
Europäische Kategorien greifen nicht
Es ist Aufgabe von Islamwissenschaftlern, die geschichtlichen Besonderheiten der vormodernen muslimischen Gesellschaften zu beleuchten. Als Besonderheit fällt insbesondere eine Aversion gegenüber schriftlichen Erzeugnissen in der Sprache des Koran auf. So kannte der nachklassische Islam zwar keinen Index verbotener Bücher, dafür war aber der Buchdruck in arabischen Schriftzeichen – damals der gängigen Schrift im Osmanischen Reich – bis 1727 bei Todesstrafe verboten.

Das Osmanische Reich war in der nachklassischen Periode das größte islamische Imperium, dessen Herrscher um 1460 das Kalifat, also die Bewahrung des Erbes des Propheten, übernahmen. Im Osmanischen Reich nahm die politische Macht durchaus massiven Einfluss auf das religiöse und kulturelle Denken.
Als 1727 Sultan Ahmed III. den Buchdruck in arabischen Schriftzeichen gestattete – nur der Koran und sakrale Texte waren ausgenommen - stand die Buchproduktion unter der strikten Kontrolle der Schriftgelehrten. Die erste zugelassene Druckerei in Istanbul musste 20 Jahre später wieder schließen.
Als 1784 eine zweite Druckerei eröffnet wurde, richtete Sultan Abdulhamid II. einen Rat der Zensoren ein, der die gedruckten Inhalte kontrollierte. Daher wurde der Koran zunächst nur in nicht-muslimischen Ländern von Nicht-Muslimen gedruckt und von Muslimen erstmals im Jahr 1828 in Teheran vervielfältigt.
Die Existenz des Osmanischen Reichs kann eine Antwort auf die Frage geben, wieso es in vormodernen muslimischen Gesellschaften keine Religionskriege wie in Europa gegeben hat. Das Osmanische Reich stand damals im Zenith seiner Macht. Der sunnitische Islam war die Staatsreligion im Osmanischen Reich, das große Teile der vormodernen muslimischen Welt dominierte.
Die Osmanen setzten sunnitische Gouverneure im mehrheitlich schiitischen Irak ein, verfolgten schiitische Sekten wie die Hurufiyya, die in Persien und Anatolien verbreitet war, deportierten Anhänger der alevitischen Sekte Qizilbāsch in die neu eroberten Gebiete Griechenlands und führten einen Krieg gegen die schiitische Fürstendynastie der Safawiden in Persien.
Andererseits haben die Osmanen später ihre radikalen Glaubensbrüder aufgehalten, wenn diese drohten zur Konkurrenz zu werden – deshalb kam es zum osmanisch-saudischen Krieg, der im Jahr 1818 mit der Enthauptung von Abdallah I. ibn Saud in Istanbul endete. Dies war ein wichtiger Wendepunkt. Die islamischen Fundamentalisten mussten eine Niederlage hinnehmen und der Sieger war niemand anderer als das nach damaligen Maßstäben tolerante Osmanische Reich.
So gab es zum Beispiel keine massenhaften Zwangsbekehrungen während der Herrschaft der Osmanen. Zwangsbekehrungen fanden in der Vormoderne nur unter der schiitischen Herrschaft der Safawiden in Persien statt. In die Zeit der Vormoderne fallen auch die Eroberungskriege des Osmanischen Reichs gegen den persischen Herrscher und späteren Eroberer von Teilen Indiens ,Nadir Schah, der seinerseits zuvor die pashtunische Hotaki-Dynastie besiegte und sie zum Rückzug aus Teilen des heutigen Irans zwang.
Die Zeit der Vormoderne in der islamischen Welt war also sicher nicht frei von Gewalt, nur hatte diese Gewalt eben einen anderen Charakter, andere Motive und eine andere Ausprägung als in Europa. Nicht alles läuft genauso ab wie in Europa. Wenn der westliche Betrachter dies akzeptiert, dann kann ihm das zu einem nüchternen Blick auf die islamische Geschichte verhelfen.
David Neuwirth
© Qantara.de 2016
David Neuwirth ist ein deutscher Jurist, zurzeit in Frankreich berufstätig. Während seines Studiums in Deutschland war er in einer Plattform für interreligiösen Dialog engagiert.