Revolutionärer Schulterschluss

Der Aufbruch der 68er-Bewegung wurde auch von den damals in Deutschland studierenden Iranern beeinflusst. Die Werke von deutschen Philosophen und Denkern der "Frankfurter Schule" prägten wiederum die Entwicklungen im Iran der 1970er Jahre. Eine Analyse von Mehran Barati

Von Mehran Barati

Die Jahreszahl 1968 ist längst Geschichte. Doch die Generation, die damit in Verbindung gebracht wird, ist noch immer präsent. Sie hat deutliche Spuren hinterlassen, die sich in der Kultur, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft bis heute erkennen lassen.

Dabei steht das Jahr 1968 ursprünglich für den studentischen Aufstand in Frankreich, der seinen Höhepunkt im Mai des Jahres erreichte und am 27. April 1969 zum Rücktritt des französischen Präsidenten General de Gaulle führte. Was Deutschland betrifft, müsste man eher von den "67ern" sprechen – denn generationsprägend waren hier die Ereignisse der ersten Junitage 1967.

Jene studentischen Aktivisten, die in diesen Tagen auf die Straße gingen, wollten ihre Proteste als Teil einer globalen Friedens- und Gerechtigkeitsbewegung verstanden wissen: der Kampf gegen die Unterdrücker in der "Dritten Welt", gegen den Krieg der Vereinigten Staaten in Vietnam, gegen Kapitalismus und Imperialismus und gegen den Parteikommunismus sowjetischen Typs.

Wie alles begann

In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts wurde die westliche Welt Schauplatz der Proteste einer "revolutionären Jugend", die von den USA bis nach Europa rebellierte. Sie rebellierte in unterschiedlicher Form und Intensität gegen die Verhältnisse in den modernen Industriestaaten. Die Varianten dieser Proteste reichten von friedlichen Demonstrationen bis zu gewaltsamen Aktionen gegen die Staatsmacht.

Die ersten Keimzellen der Rebellion bildeten sich in den USA als Folge der Proteste gegen den Vietnamkrieg. Es dauerte jedoch nicht lange, bis diese Proteste auf das europäische Festland überschwappten und um gesellschaftspolitische Forderungen ergänzt wurden. Der Krieg der Amerikaner in Vietnam wurde als "imperialistischer Krieg der kapitalistischen Welt" gegen ein Land der "Dritten Welt" gewertet.

In dieser Atmosphäre erschien einige Wochen vor dem Besuch des iranischen Monarchen Mohammad Reza Pahlevi in Deutschland das Buch des iranischen Oppositionellen und Schriftstellers Bahman Nirumand "Persien, Modell eines Entwicklungslandes oder Die Diktatur der Freien Welt".

Bahman Nirumand spricht an der FU im Jahr 1967; Foto: picture-alliance/dpa
Prominenter Akteur innerhalb der Studentenbewegung: Der Iraner Bahman Nirumand wird für seinen gegen den Schah gerichteten Vortrag an der Freien Universität Berlin am 01.06.1967 von rund 2.000 Studenten mit minutenlagem frenetischen Beifall bedacht. Zu der Veranstaltung am Vorabend des Besuchs des iranischen Kaiserpaares in Berlin hatten, mit Ausnahme des RCDS (Ring christlich-demokratischer Studenten) alle Studenvereinigungen der FU aufgerufen.

Dieses in Deutschland und anderen europäischen Staaten hunderttausendfach verkaufte Buch führte zu einer Welle von Protesten gegen den Schah. Tausende Gegner des Teheraner Regimes beteiligten sich europaweit an Demonstrationen gegen den Monarchen. Am stärksten war die Beteiligung in Deutschland, wo sich die Protestbewegung in Kooperation mit der weltweiten Studentenorganisation der Iraner, der "Confederation of Iranian Students, National Union" (CISNU), entwickelte.

Die Rolle der CISNU

Für die politische Entwicklung in Deutschland seit 1967 spielten die in der CISNU organisierten Iraner theoretisch und praktisch eine wichtige Rolle. So war der internationalistische Aspekt der Bewegung in Deutschland eher unter den Iranern zu finden. Die Proteste der Jugendorganisation der deutschen Sozialdemokratie SDS ("Sozialistischer Deutscher Studentenbund") richteten sich zwar schon damals gegen den Vietnamkrieg. Doch erst nach dem Erscheinen von Nirumands Buch wurde verstärkt über "Abhängigkeitstheorien" und "imperialistische Kriege" diskutiert.

Ende Mai 1967 kam der Schah zum Staatsbesuch nach Deutschland. Bei den Protesten kam es am 30. Mai 1967 in München und anderen deutschen Universitätsstädten zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den Demonstranten, den vom Schah aus dem Iran mitgebrachten Schlägertruppen und der Polizei.

Am Abend des 2. Juni 1967 besuchten der Schah und seine Frau in Begleitung des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Heinrich Albers, die Deutsche Oper. Bereits Stunden davor hatten sich vor der Oper mehrere Tausend deutsche und iranische Gegendemonstranten versammelt. Am Ende des Abends fiel ein verhängnisvoller Schuss aus der Waffe eines Polizisten und tötete den unpolitischen Germanistikstudenten und gläubigen Protestanten Benno Ohnesorg. Dieses Ereignis entfachte einen lang anhaltenden Zorn der revoltierenden Jugend in Deutschland.

Auch an dieser Entwicklung hatte die CISNU einen wesentlichen Anteil. Denn anlässlich des Schah-Besuchs hatte sie in fast allen größeren Universitätsstädten Demonstrationen und Informationsveranstaltungen organisiert. Die Parolen dafür lauteten überall "Internationale Solidarität" mit den "Verdammten dieser Erde" – benannt nach einem Buchtitel des berühmten algerischen Intellektuellen und Psychiaters Frantz Fanon. Dabei hatte man die CISNU ursprünglich als akademische Vertretung konzipiert, die sich um die materiellen und rechtlichen Belange der iranischen Studenten kümmern sollte. So wollten die politischen Köpfe der Organisation die studierenden Iraner in Europa für sich gewinnen.

Neun Monate später, im Jahr 1968, gab sich die Organisation auf ihrem Pariser Kongress unter dem Eindruck der politischen Atmosphäre in Deutschland und Frankreich eine eindeutig politische Zielsetzung: Sie berief sich auf die Internationale Erklärung der Menschenrechte, prangerte die Verletzung der Rechte von Frauen an, forderte freie Wahlen im Iran und die Freilassung inhaftierter Oppositioneller und erklärte ihre Solidarität mit den internationalen Befreiungsbewegungen.

"Geburtshelfer der Studentenbewegung"

Fahrad Dutschkes am Tatort des Mordanschlags; Foto: picture-alliance/dpa
Schwerer Schlag für die Studentenbewegung und Beginn der Radikalisierung: Am 11. April 1968 wird Rudi Dutschke vor der Geschäftsstelle des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) am Kurfürstendamm auf offener Straße von dem 23jährigen Arbeiter Josef Erwin Bachmann niedergeschossen und lebensgefährlich verletzt. Dutschke überlebte das Attentat, verstarb jedoch, vermutlich an den Spätfolgen, am 24. Dezember 1979 in Aarhus/Dänemark.

Am 11. April 1968 wurde der prominenteste Vertreter der deutschen Studentenbewegung, Rudi Dutschke, von drei Kugeln aus der Pistole eines 23 Jahre alten Nazis schwer verletzt. Die nachfolgenden "Osterunruhen" zählten zu den größten Demonstrationen in der Geschichte der Bundesrepublik und bildeten den Höhepunkt der deutschen Studentenbewegung. Hieran waren die iranischen Studenten der CISNU maßgeblich beteiligt.

Einer ihrer Aktivisten schrieb dazu: "Wir Iraner waren damals zufällige Helfer bei der Geburt dieser Bewegung, wurden jedoch selbst von ihren Ideen und ihrer Kultur, die wir teilweise weitergegeben haben, erfasst. Vor diesem Hintergrund sind wir natürlich sehr dankbar, dabei gewesen zu sein".

Die CISNU genoss in der politischen Öffentlichkeit Deutschlands ein relativ hohes Ansehen. Ihre englisch- und deutschsprachige Publikation "Iran Report" ging an alle politischen Parteien, Gruppen und Institutionen. Viele SPD- und FDP-Abgeordnete unterstützten ihre Forderungen nach Freilassung der politischen Gefangenen, Folterverbot und gesellschaftlichen Freiheiten im Iran.

Die Unterstützung rechte sogar so weit, dass zum CISNU-Jahreskongress 1970 die Stadt Karlsruhe in der Ferienzeit eine ganze Schule mit Feldbetten ausstattete und für die Unterbringung von mehreren Hundert Delegierten und Besuchern des Kongresses, die aus den USA, Westeuropa und Indien gekommen waren, zur Verfügung stellte.

Die Sympathie für die politisch aktiven Iraner in Deutschland war wohl auch ein Grund dafür, weshalb der damalige Bundespräsident Gustav Heinemann den 2.500-Jahr-Feierlichkeiten der iranischen Monarchie im Oktober 1971 fern blieb. Offiziell wurden Gesundheitsgründe angegeben, Heinemann ließ sich von Bundestagspräsident Kai-Uwe von Hassel vertreten. Auch der französische Staatspräsident François Mitterrand verweigerte dem Schah seine Aufwartung.

Die Iraner und das 68er-Erbe

Mitte der 1970er Jahre war es sogar der ehemalige Regierende Bürgermeister von Berlin, Heinrich Albers, der mit anderen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ein "Iran-Komitee" ins Leben rief, um die politischen Gefangenen und ihre Familien im Iran zu unterstützen – derselbe Heinrich Albers, der wenige Jahre zuvor den Tod Benno Ohnesorgs den protestierenden Studenten angelastet und diese massiv bekämpft hatte.

Neben Albers waren auch Protagonisten der 67er-Bewegung wie die Professoren Helmut Gollwitzer, Wolf-Dieter Narr und Ulrich Albrecht, die Journalistin Carola Stern und die SPD- Abgeordneten Norbert Gansel und Peter Glotz an der Arbeit des "Iran-Komitees" und seiner gleichnamigen Publikation beteiligt.

Die Mitglieder des Komitees zahlten monatliche Beiträge in beachtlicher Höhe. Diese Mittel wurden den Familien politischer Gefangener im Iran zugeleitet. Im Februar 1979 hatte das Komitee noch eine Restsumme von einigen Tausend D-Mark, die in den Iran gebracht und dem dortigen Komitee zur Verteidigung der Menschenrechte übergeben wurde.

Für die politische Entwicklung der Iraner in Deutschland und anderen westeuropäischen Staaten waren die Ereignisse der 1960er Jahre in Deutschland und Frankreich von prägender Bedeutung. Bis dahin waren innerhalb der iranischen Studentenbewegung zwei Tendenzen vorherrschend: die nationalistischen Liberalen und die traditionalistische Linke.

Die Nationalliberalen folgten der im Iran verbotenen "Nationalen Front", die traditionellen Linken waren Anhänger der moskauorientierten "Tudeh-Partei". Unter dem Einfluss der 68er-Unruhen radikalisierten sich auch die in der CISNU organisierten Studenten weltweit. Die traditionellen Linken wurden - ähnlich wie in Deutschland - zurückgedrängt, die Anhänger des kulturrevolutionär-chinesischen Wegs dominierten immer stärker die Szene.

In den folgenden Jahren war die Radikalisierung auch unter den im Iran lebenden Linken deutlich zu beobachten. Der Einfluss der 68er-Bewegung auf sie ist umstritten, denn die "Entstalinisierung" hatte unter ihnen noch nicht stattgefunden. Auch nicht wahrgenommen wurden die Dimensionen der gesellschaftspolitisch-kulturellen Befreiungsideen der Bewegung im westlichen Europa. Die Iraner waren stärker von den Bewegungen in Algerien und Vietnam sowie den Kämpfen in Lateinamerika beeinflusst. Es überrascht daher nicht, dass der Kampf der jungen iranischen Linken sich in Form einer Guerilla-Bewegung manifestierte.

Zwischen Sozialismus und "Drittem Weg"

Iranische Studenten im Revolutionsjahr 1979; Foto: picture-alliance/AP
Vom studentischen Aufbegehren bis zum bewaffneten Widerstand: Anfang der 1970er Jahre war im Iran ein Teil der politisch aktiven Jugendlichen und Erwachsenen in den Untergrund gegangen und propagierte den bewaffneten Kampf gegen das Schah-Regime als einzige Möglichkeit für gesellschaftliche Veränderungen.

In Westeuropa, insbesondere in Deutschland, liefen derweil mehrere politisch-ideologische Prozesse gleichzeitig ab. Die dominante Ideologie dieser Zeit kann man auch als "Third Worldism" beschreiben. Über das Verhältnis der sogenannten "Ersten Welt", also der entwickelten Industrieländer, zu den unterentwickelten "Dritte-Welt"-Ländern gab es einen regen Austausch.

In Deutschland und anderen großen europäischen Ländern breitete sich eine Solidaritätswelle mit der "Dritten Welt" aus. Sie manifestierte sich in der Anerkennung von Nationalismen unterschiedlichster Art, von Panarabismus, Baathismus, antikolonialen Widerstandsbewegungen, afrikanischem Sozialismus, Theorien des "Dritten Weges" zwischen Kapitalismus und Sozialismus, Maoismus, Anarchismus und christlicher Befreiungstheologie.

Die Mehrheit der politisch aktiven Iraner in Deutschland konnte lange Zeit ihre marxistisch-leninistisch-maoistischen Scheuklappen nicht ablegen. Anfang der 1970er Jahre war im Iran ein Teil der politisch aktiven Jugendlichen und Erwachsenen in den Untergrund gegangen und propagierte den bewaffneten Kampf gegen das Schah-Regime als einzige Möglichkeit für gesellschaftliche Veränderungen. Sie nannten sich "Volksmodjahedin" und "Volksfedayin". Die "Nationale Front", die "Tudeh-Partei" und auch die zersplitterten marxistischen Organisationen spielten fortan eine immer unwichtigere Rolle.

Die CISNU, die sich zwischen 1960 und 1979 im Ausland zur wichtigsten Opposition gegen das Schah-Regime entwickelt hatte, blieb von dieser Entwicklung nicht verschont. Was in der CISNU nicht vorlag, war ein klares politisches Programm für die Zukunft des Iran. Die Organisation zerfiel allmählich – genau wie die im Iran agierenden Gruppen – ihre Aktivisten landeten schließlich im Untergrund. Wer diesen Weg nicht gehen wollte, blieb in der Minderheit – eine Minderheit, die in der freiheitlichen Tradition der "Frankfurter Schule" lebte und sich nach der Revolution 1979 für die Verbreitung der Kritischen Theorie im Iran engagierte.

Die Iraner und die Frankfurter Schule

Für die linken Akademiker der 67er-Generation galt es zu jener Zeit in Europa, die für Jahrzehnte abgeschnittenen Traditionszusammenhänge in der Theoriebildung wieder aufzugreifen, zu überprüfen und erneut einzubringen. Inhaltlich relevant waren dabei der Marxismus, die Psychoanalyse, die analytische Sozialpsychologie sowie die Kapitalismus-, Klassen- und Imperialismus-Theorie.

Bei den Iranern lief verlief der gleiche Prozess an, wenn auch mit kurzweiliger zeitlicher Verzögerung. Nach dem Zusammenbruch des Stalinismus verbrachten die Anhänger des Sowjetkommunismus im Iran längere Zeit in der ideologischen Abgeschiedenheit. Ein Teil der kommunistischen Linken des Iran war phasenweise von der maoistischen Schule des Marxismus-Leninismus überzeugt, insbesondere in der Zeit der chinesischen Kulturrevolution von 1966 bis 1976. Das sowjetische System wurde von ihnen als "Sozialimperialismus" abgelehnt. Neben China wurden neue Vorbilder in Albanien, Kuba und Nord-Vietnam gesucht.

Mit dieser Entwicklung konnten sich jedoch die kritischen CISNU-Mitglieder nicht anfreunden. Das galt insbesondere für diejenigen, die sich mit der fehlgeleiteten politischen Entwicklung der CISNU und ihrer dem bewaffneten Kampf der Untergrundgruppen geltenden Gefolgschaft nicht abfinden konnten. Der Widerspruch galt der noch geltenden "Diktatur des Proletariats" und ihrer Durchsetzung durch den bewaffneten Kampf. Adorno hatte ja, nach Jürgen Habermas, den Marxismus vom Proletariat befreit und daher auch die Frage der Praxis anders gestellt.

Bis Mitte der 1970er Jahre hatte die CISNU-Führung ihren Sitz in Frankfurt am Main. Hier fand auch die theoretische Auseinandersetzung der politisch aktiven Studenten mit Theodor W. Adorno statt. Führender Kopf dieser Auseinandersetzung war Hans-Jürgen Krahl, der in den Vorlesungen von Adorno das Wort ergriff und brillant auf die Widersprüche der Kritischen Theorie hinwies. Eines der Vorstandmitglieder der CISNU war zu dieser Zeit der theoretisch und praktisch an der Frankfurter Schule interessierte Changiz Pahlavan. Er, der die Anti-Schah-Demonstrationen in den Juni-Tagen 1967 verantwortlich organisierte, saß bei den theoretischen Auseinandersetzungen zwischen Krahl und Adorno mit im Hörsaal.

Pahlavan war einer der ersten Iraner, die sich mit der Frankfurter Schule und ihrer Kritischen Theorie befassten. Ihm folgte eine Reihe Jüngerer, die den Anschluss an die Frankfurter Schule suchten. Einige von ihnen zogen sich aus der Oppositionsarbeit zurück und kehrten nach ihrem Soziologie- und Philosophiestudium in den Iran zurück. Neben Adorno befassten sie sich hauptsächlich mit Max Horkheimer, Herbert Marcuse, Erich Fromm und Jürgen Habermas.

Pahlavan kehrte 1969 in den Iran zurück. Er übersetzte später eines der Standardwerke über die Frankfurter Schule. Das von dem amerikanischen Wissenschaftler Martin Jay geschriebene Buch mit dem Titel "The Dialectical Imagination, A History oft the Frankfurt School and the Institut of Social Research, 1923-1950" wurde nach der ersten Ausgabe von Pahlavan ins Persische übersetzt und - für iranische Verhältnisse - in hoher Auflage verkauft.

Übersetzungen von Werken der Kritischen Theorie

Die zweite und dritte Generation der iranischen Linken kam zum Teil auf Umwegen zur Frankfurter Schule und ihrer Kritischen Theorie. Zwei Faktoren waren hierfür bestimmend: die Bekanntschaft mit der Postmoderne und die Entstehung einer religiös-intellektuellen Strömung innerhalb des herrschenden politischen Systems.

persische Übersetzung des Buches "Habermas: A Guide for the Perplexed" von Lasse Thomassen
Ungebrochene Popularität bei iranischen Intellektuellen: Jürgen Habermas war von jeher für die politisch aktiven Iraner von hohem Interesse. Seine Arbeiten wurden in den vergangenen 30 Jahren nach und nach ins Persische übersetzt. Habermas' Anwesenheit im Geistesleben der akademischen Iraner war so real, dass er auf Einladung des vom ehemaligen Staatspräsidenten Khatami errichteten "Zentrums für Dialog der Kulturen" Teheran besuchte.

Der erste Faktor bewirkte eine Welle neuer Lesarten im Marxismus. Tatsächlich waren die iranischen Neo-Marxisten bei der Ankunft des Postmodernismus von der Idee beseelt, die Linke könnte, gestützt auf Theoretiker wie Adorno, Horkheimer, Marcuse und Habermas, gegen "Feinde des Rationalen", "Mystiker" und "postmodernen Relativisten" bestehen, ohne im Dogmatismus zu erstarren oder sich wieder dem gescheiterten sowjetischen Experiment zu widmen.

Der zweite Faktor zwang sie wiederum zur Reaktion auf die gegen den Marxismus gerichteten "Angriffe" der sogenannten "religiösen Intellektuellen", namentlich des theoretischen Wortführers der islamischen Reformschule, Abdolkarim Soroush. Dieser übte, seiner intellektuellen Bezugsperson Karl Popper folgend, heftige Kritik am Marxismus. Die marxistische Linke reagierte ihrerseits mit einer Übersetzungsbewegung, die Werke der Kritischen Theorie und des Marxismus übertrug, um sich methodologisch auf die Debatte mit ihren Gegnern vorzubereiten.

Von Adorno bis Habermas

Einen wesentlichen Ansatz fanden sie in den Schriften derjenigen Denker, die als Väter der Frankfurter Schule und der Kritischen Theorie weltweit bekannt waren. In der Auseinandersetzung mit den "idealistischen" Gegnern des Materialismus wurden Adornos "Philosophische Terminologie", "Metakritik der Erkenntnistheorie" und "Negative Dialektik" in Teilen übersetzt und bei Kontroversen methodologisch herangezogen.

In der damals theoretisch und praktisch angespannten Atmosphäre meldete sich ein neuer Wortführer der neuen Linken, Morad Farhadpour, zu Wort. Neben ihm war auch Yousef Abazari bei der Vorstellung der Werke und Gedanken der Gründungsväter der Frankfurter Schule im Iran von Bedeutung.

Abazari übersetzte die von Martin Jay verfasste Arbeit "Die Frankfurter Schule und die Psychoanalyse". Eine weitere Arbeit Adornos aus dem Jahr 1957, die "Aspekte der Hegelschen Philosophie", wurde von den drei Neu-Linken Mohammad Mehdi Ardebili, Hessam Salamat und Yeganeh Khoi übersetzt.

Übersetzt wurde auch Stuart Jeffries Buch "Grand Hotel Abyss: the Lives oft the Frankfurt School" von Mohammad Memarian. Dieses Buch handelt vom Leben und Denken der Größen der Frankfurter Schule. Für seine Übersetzung wurde das Argument geltend gemacht, dass angesichts der offen zu Tage getretenen Mängel des neoliberalen Kapitalismus die Beschäftigung mit den Vertretern der Frankfurter Schule weiter an Bedeutung gewinne. Die Vertreter der Frankfurter Schule hätten sich mit dem Gedanken der Revolution nicht anfreunden können. Sie hätten den sinnentleerenden Charakter der kapitalistischen Gesellschaft gut erklärt, ohne sie ändern zu können.

"So viele Zuhörer habe ich in Deutschland nicht"

Von großem Interesse war bei den iranischen Intellektuellen auch ein 15-seitiges Papier von Elias Canetti mit dem Titel "Discussion with Theodor W. Adorno, Crowds and Power Totalitarism Death Transformation", das 1996 erschien. Der Übersetzer, Javad Ganji, meint, die Ähnlichkeit im Denken von Canetti und Adorno könne man in ihren Schriften gut verfolgen. Beide behandelten die Krise der Repräsentation von Machtinstitutionen und die komplexen Formen der Internalisierung von Herrschaft und Unterwerfung. Diese Aspekte im Denken von Canetti und Adorno sei auch für das Verständnis der Vorgänge im heutigen Iran wesentlich.

Jürgen Habermas war von jeher für die politisch aktiven Iraner von hohem Interesse. Seine Arbeiten wurden in den vergangenen 30 Jahren nach und nach ins Persische übersetzt. Habermas’ Anwesenheit im Geistesleben der akademischen Iraner war so real, dass er am 11. Mai 2002 auf Einladung des vom ehemaligen Staatspräsidenten Mohammad Khatami errichteten "Zentrums für Dialog der Kulturen" Teheran besuchte. Seine Vorträge wurden jeweils vom mehr als 3.000 Personen besucht: "So viele Zuhörer habe ich in Deutschland nicht", sagte Habermas damals in einem Interview.

Er beschrieb seine "philosophischen Erinnerungen" während seiner Iranreise in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung im Jahr 2002 ironisch und nüchtern: In der politisch-kulturellen Atmosphäre des Iran würden die Werke westlicher Denker originell oder gefälscht übersetzt, diskutiert und kritisiert, so Habermas damals. Er erzählt in dem Interview unter anderem von einem religiösen Universitätsdozenten, der von sich behauptete, er habe ebenso wie Karl Marx, der Hegels Theorie auf den Kopf gestellt hatte, Max Webers Theorie auf den Kopf gestellt. Der Westen werde sich deshalb in der Zukunft an ihn wie an Ibn Khaldun mit Respekt erinnern.

Mehran Barati

© Iran Journal 2019

Dr. Mehran Barati zählt zu den exponiertesten Oppositionellen aus dem Iran. Er ist unabhängiger Analyst für "BBC Persian" und gilt als Experte für internationale Beziehungen.