Stimmungsbild einer Gesellschaft

Der dritte Film des iranischen Regisseurs Reza Dormishian ist eine eindringliche Stimme gegen kontrovers diskutierte Themen im Iran wie die Hinrichtung von Jugendlichen, die grausamen Säureattentate und die Vergeltungsjustiz. Von René Wildangel

Von René Wildangel

Anspruchsvolles Kino aus Iran hat auf der Berlinale seit vielen Jahren Tradition. Festivalleiter Dieter Kosslick reiste 2015 nach dem Atomabkommen mit Außenminister Steinmeier in den Iran und traf dort sogar den noch immer unter Hausarrest stehenden Filmemacher Jafar Panahi. 2011 war er in die Jury berufen worden, 2015 bekam er den Goldenen Bären für seinen Film "Taxi". Beide Male wurde er von offizieller iranischer Seite an der Ausreise gehindert.

Reza Dormishian dürfe nach Berlin kommen. Der dritte Film (nach "Hatred" und "I'm not angry") des erst 34jährigen Regisseurs beginnt in rasantem Tempo wie ein Musikvideo. Aus verschiedenen Blickwinkeln wird im Rahmen von fiktiven Interviews die Geschichte der Protagonisten erzählt. Erst nach und nach kommen die verschiedenen Erzählstränge über die Gang "Lantouri", die die Teheraner Elite auf offener Straße ausraubt, zu einem roten Faden zusammen.

Pasha (eindringlich gespielt von Navid Mohammadzadeh), ein junger Mann mit wildem Bart und die ehemalige Prostituierte Baroon engagieren sich in einem Waisenhaus. Es heißt, sie seien von der Ungerechtigkeit, die sie dort erleben geprägt – dem Gegensatz der bitterarmen Waisen zu dem grenzenlosen Reichtum der Teheraner Oberklasse. Eine Art Robin-Hood-Geschichte deutet sich an, aber bald wird klar, dass sie und weitere Gangmitglieder das Geld selbst behalten. Eines Tages kommt es zu einer schicksalhaften Wendung: Pasha stiehlt die Handtasche von Maryam.

Maryam ist prominente Menschenrechtsanwältin, die gegen die Hinrichtung von Minderjährigen im Iran und das System der Vergeltungsjustiz kämpft. Mit Inbrunst versucht sie, die Mutter eines getöteten Mädchens davon abzubringen, den vermeintlichen Täter Sohrab, einen Minderjährigen, hinrichten zu lassen.

In den Fängen Pashas

Damit greift der Film ein Thema auf, dass schon seit vielen Jahren im Iran kontrovers diskutiert wird. Gegen die Hinrichtung Jugendlicher gibt es im Iran eine groß angelegte Kampagne. 2007 unterschrieben 350.000 Menschen eine Petition gegen die Hinrichtung von Nazanin Fatehi, die schließlich aus der Haft entlassen wurde. Aber Maryam trifft auf viel Unverständnis bei den Familien der Opfer.

Nach dem Diebstahl liest Pasha Maryams Tagebücher undNotizen, findet ihre Telefonnummer und ruft sie an. Nach einem Treffen, bei dem Pasha ihr die Tasche zurück gibt, entwickelt er eine obsessive Liebe. Sie lässt sich anfangs aus Neugier auf ihn ein, reagiert aber bald genervt auf seinen regelrechten Verfolgungswahn. Pasha lässt sich "Maryam" auf den Oberarm tätowieren und will nicht wahrhaben, dass Maryam einen anderen Mann trifft. Sie kommt, als er sie zu einem letzten klärenden Gespräch im Park auffordert. Aus heiterem Himmel verbrennt Pasha nach der neuerlichen Zurückweisung Maryams Gesicht mit Säure.

Maryam ist völlig entstellt, die "Lantouri"-Gang landet im Gefängnis. Nun stellt sich für Maryam, deren grausiges Schicksal dem Zuschauer in schwer verdaulichen Kameraeinstellungen nicht vorenthalten wird, eine schicksalhafte Frage: Will gerade sie, die jahrelang gegen die Rachejustiz gekämpft hat, sie nun selbst anwenden – also im Gegenzug für ihre Entstellung Pasha die Augen ausbrennen?

Diese rechtliche Möglichkeit sieht die iranische Justiz vor, die sogenannte "Lex Talionis". Nun ist es plötzlich Maryam, die voller Hass Rache fordert. Erst im allerletzten Moment verschont sie Pasha schließlich doch noch. Auch diese Geschichte beruht auf einer wahren Begebenheit aus dem Jahr 2011.

Eindringliche Stimme gegen Säureattentate und Vergeltungsjustiz

So ist der Film eine eindringliche Stimme gegen bereits seit längerem diskutierte Themen wie die Hinrichtung von Jugendlichen, die grausamen Säureattentate und die Vergeltungsjustiz und positioniert sich dabei eindeutig.

Der iranische Filmemacher Reza Dormishian; Foto: picture-alliance/dpa/Sammlung/Reza Dormishian
Der iranische Filmemacher Reza Dormishian beim Dreh seines dritten Spielfilms "Lantouri": Irans Beitrag in der Panorama-Reihe der diesjährigen Berlinale. Der Film erzählt basierend auf einer wahren Begebenheit von einem Säure-Attentat auf ein junges Mädchen - und das in den islamischen Gesetzen verankerte Recht des Opfers auf direkte Vergeltung am Täter.

In fiktiven Interviews mit ganz verschiedenen, etwas klischeehaft gezeichneten Mitgliedern der iranischen Gesellschaft – vom kapitalismuskritischen Intellektuellen, über den einfach gekleideten Revolutionär mit 3-Tage-Bart bis zum gebildeten schiitischen Klerus – entstehen unterschiedliche moralische Sichtweisen auf "Lantouri" und Pashas Tat: Was ist Schuld? Und was ist Gerechtigkeit bzw. wie kann Schuld gesühnt werden? Wer hat Recht in der Analyse der gesellschaftlichen Missstände und haftet nicht all jenen, die die "Wahrheit" für sich reklamieren etwas Selbstgerechtes an? Es sind sehr große Fragen, mit denen Dormishian seinen Film etwas überfrachtet.

Dormishian wählt in "Lantouri" einen anderen Weg als Panahi oder jene Filmemacher, die mit einer symbolischen Filmsprache jahrelang mehr oder weniger offene Kritik an den Herrschaftsverhältnissen im Iran üben.

So ist die Filmsprache einerseits viel offener und direkter, andererseits wird aber keine Fundamentalkritik geübt. Künstlerisch entstehen durchaus neue Freiräume. Katja Nicodemus nennt dies in der ZEIT ein "offenes Versteckspiel".

Damit erhält sich der gerade einmal 34 Jahre alte Regisseur, dessen letzter Film im Iran verboten war, wohl auch die Möglichkeit Lantouri vielleicht einmal im Iran außerhalb von Festivals präsentieren zu können und den iranischen Film so dort Wirkung entfalten zu lassen, wo er wirken sollte: Im Iran.

René Wildangel

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