Die Kunst islamischer Toleranz

Die eskalierenden Rivalitäten und Animositäten zwischen Iran und Saudi-Arabien haben nichts mit dem Schisma zwischen Sunniten und Schiiten zu tun, meint Hamid Dabashi, Professor für Iranistik und Vergleichende Literaturwissenschaften an der Columbia University in New York.

Von Hamid Dabashi

In einer Laune des Schicksals war ich in dem Moment, als das abwegige sunnitisch-schiitische, arabisch-persische Schisma zwischen Iran und Saudi-Arabien tobte und gefährliche Ausmaße annahm, zu Besuch im Museum of Islamic Art in Doha, Qatar: geografisch gelegen zwischen Iran und Saudi-Arabien, doch emotional wie auf einem anderen Stern.

Die Hinrichtung von 47 Menschen wegen "terroristischer" Umtriebe in Saudi-Arabien, darunter des geistlichen Führers der Schiiten Saudi-Arabiens, Scheich Nimr Baker al-Nimr, und des mutmaßlichen saudischen Al-Qaida-Mitglieds, Faris al-Sahrani, hatte den Angriff auf die saudische Botschaft im Iran und den Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit dem Iran durch die Regierung in Riad zur Folge.

Die jahrzehntelange Rivalität zwischen den beiden regionalen Supermächten ist nunmehr an einem Siedepunkt angelangt und begründet sich mit einer abwegigen konfessionellen Spaltung zwischen sunnitischen und schiitischen Muslimen – und was noch ärger ist – zwischen Arabern und Iranern.

Abseits des desolaten Durcheinanders dieser Konflikte und dennoch unmittelbar zwischen den beiden Streitparteien liegt ein malerisches Museum mit einer verborgenen, stillen und überwältigenden Botschaft.

Gelassenheit und Wahnsinn

Den Lesern, die dieses wunderbare Museum noch nicht besucht haben, sei gesagt, dass der Entwurf vom chinesisch-amerikanischen Star-Architekten Ieoh Ming Pei stammt und dass dieses Gebäude die einzige Perle in einer urbanen Wüste ist, die im Übrigen durch eine Flut hemmungsloser architektonischer Auswüchse aus aller Welt heimgesucht wird.

Die exquisite Architektur von Ieoh Ming Pei, die auf Weisheit, Bescheidenheit und Respekt vor der Umgebung gründet und eine Hommage an die islamische Architektur ist, missachtet diese Kakophonie des schlechten Geschmacks und desolaten Designs nicht einfach. Vielmehr greift sie in ihrem zentralen Atrium ein Panorama davon mit Sanftmut, Großzügigkeit und Toleranz auf, während sie gleichzeitig sprichwörtlich einen See zwischen der eigenen Gelassenheit und diesem Wahnsinn ausbreitet.

Bei meinem letzten Besuch durfte ich zwei Ausstellungen zusätzlich zu der ohnehin beeindruckenden Dauerausstellung erleben. Eine davon trägt den Namen "Qatars Frauen: Bilder von Frauen im Iran des 19. Jahrhunderts". In der anderen namens "Die Jagd" haben die Kuratoren eine wunderbare Sammlung von Artefakten zum Thema königliche Jagd zusammengetragen.

Ein Besuchs des Museum of Islamic Art in Doha zum aktuellen Zeitpunkt macht den krassen Unterschied deutlich zwischen der Wirklichkeit der muslimischen Zivilisation, wie sie sich in ihren unschätzbar wertvollen Kunstschätzen zeigt, und den fabrizierten Wahnvorstellungen des Schismas zwischen Sunniten und Schiiten oder Arabern und Persern, die sich in den saudisch-iranischen Rivalitäten als explosives Crescendo entladen.

Wer mit eigenen Augen sehen will, warum diese zwischen Arabern und Iranern oder Sunniten und Schiiten gestiftete gefährlich wahnhafte Feindschaft der wahren Natur der islamischen Zivilisation fremd ist, sollte einige Stunden in diesem Museum verweilen.

Frei von Vorurteilen

Man geht von einem Raum mit Schätzen islamischer Kunst in den nächsten und sieht kein einziges Zeichen antiiranischer oder proarabischer Vorurteile. Mit einer bewundernswerten geistigen Großzügigkeit reihen sich Kunstwerke aus dem Iran, aus Indien, der Türkei und Zentralasien an Kunstwerke aus Ägypten, Syrien, der Levante, Nordafrika und der übrigen arabischen Welt.

Nichts weist darauf hin, dass die für die Beschaffung dieser Meisterwerke islamischer Kunst Verantwortlichen in ihrer Rolle als Bewahrer und Kuratoren irgendetwas anderes leitete als ein größtmögliches kosmopolitisches Verständnis der islamischen Kunst, ganz unabhängig von ihrer Provenienz; zu Ehren des jeweiligen Volkes, das diese hervorgebracht hat. So sieht man ein Exemplar des Korans aus Indien, der friedlich neben einem Exemplar von Saadis Bustan liegt – genau ausgezeichnet, datiert und vor allem ohne irgendein Anzeichen von Voreingenommenheit.

Man sagt (und viele meinen das sarkastisch), dass christliche Theologen während der Eroberung Konstantinopels im Jahr 1453 durch die Osmanen darüber sinnierten, wie viele Engel auf einer Nadelspitze tanzen könnten.

Ich bringe diesen brillanten Theologen einfach nur Empathie, Bewunderung und kollegiale Zuneigung entgegen und sehe in ihrer Frage nichts anderes als ein Wunder des dialektischen Denkens. Ich stelle mir schlicht die Gnade und Herrlichkeit ihrer Gesellschaft im Gespräch über derart noble Themen vor. Ich wünschte, ich hätte dabei sein können.

Angesichts des Hasses und der Gewalt, die heute die gesamte arabische und muslimische Welt heimsuchen, fand ich mich in der Gesellschaft dieser brillanten Theologen wieder, als ich mich im Museum of Islamic Art in Doha in meinen Gedanken verlor und der Frage nachging: Wie viele Facetten können die geheimnisvollen künstlerischen und wissenschaftlichen Errungenschaften einer Zivilisation in vollendeter Harmonie und Eintracht an der Spitze dieses Ortes zusammentragen und zum Tanz vereinen? Eines Ortes, der in kosmischen Maßstäben ebenfalls nicht größer ist als eine Nadelspitze.

The skyline of Doha from I.M. Pei′s Museum of Islamic Art in Qatar (photo: fotolia/philipus)
Das Museum of Islamic Art in Doha: In dem von einem architektonischen Poeten geschaffenen abstrahierten Raum hat Ieoh Ming Pei den Geist dieser theologischen Debatte auferstehen lassen. Nicht, um vor den Barbareien an den Toren unseres Menschseins zu entfliehen, sondern um jene diabolische Barbarei zu bändigen, die in jeder Faser unseres Menschseins haust.

So wie die christlichen Theologen oder ihre muslimischen oder jüdischen oder hinduistischen Zeitgenossen vertiefte ich mich in diesem Museum nicht aus vorsätzlicher Pflichtvergessenheit in meine Gedanken, sondern aus bewusstem Widerstand gegen jene Feuersbrunst aus Hass und Gewalt, Sektierertum und chauvinistischem Nationalismus.

Diabolische Barbarei

Wovon der Diskurs dieser Theologen tatsächlich handelte, war die Frage, wie viele reine Abstraktionen unserer besseren Seiten wir bemühen können, um in Frieden und Harmonie auf dieser Erde zu leben, die im kosmischen Maßstab tatsächlich viel kleiner und enger ist als eine Nadelspitze.

In dem von einem architektonischen Poeten geschaffenen abstrahierten Raum hat Ieoh Ming Pei den Geist dieser theologischen Debatte auferstehen lassen. Nicht, um vor den Barbareien an den Toren unseres Menschseins zu entfliehen, sondern um jene diabolische Barbarei zu bändigen, die in jeder Faser unseres Menschseins haust.

Die eskalierenden Rivalitäten und Animositäten zwischen Iran und Saudi-Arabien haben nichts mit dem Schisma zwischen Sunniten und Schiiten in der islamischen Theologie zu tun. Noch weniger haben sie mit dem gemeinsamen Schicksal und Geschick der Iraner und Araber sowie anderen Nationen in der Region zu tun. Sie sind der Ausfluss des Zorns zweier Staaten mit dem Ziel, den jeweils anderen bedingungslos auszuschalten.

Das Museum of Islamic Art in Doha verkörpert den letzten Rest der Kunst islamischer Toleranz. Es steht dort nicht trotz des Terrors, der es umgibt, sondern als eine Art Sternwarte, die uns lehrt, wie wir in einer freundlichen, friedliebenden Zukunft einen erlösenden Blick auf den heutigen Terror zurückwerfen könnten.

© Al-Jazeera 2016

Hamid Dabashi ist Inhaber des Hagop-Kevorkian-Lehrstuhls für Iranische Studien und Vergleichende Literaturwissenschaften an der Columbia University in New York, USA.

Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers