Parastou Forouhar berichtet aus einem Land im Aufruhr

Die renommierte deutsch-iranische Künstlerin Parastou Forouhar hat bei ihrer Reise in das Land ihrer 1998 vom Regime ermordeten Eltern eine veränderte Gesellschaft vorgefunden: hoffnungsvoll, stark und mutig, trotz aller Repression.

Von Parastou Forouhar

"Exilanten sind die wahren Botschafter ihrer Herkunftsländer“, sagte Sven Tetzlaff im vergangenen September in seiner Rede zum Tag des Exils in der Deutschen Nationalbibliothek Frankfurt am Main. Diese Aussage berührte mich. Ich nahm sie mit auf meine letzte Reise in den Iran und stellte sie mir zur Aufgabe. Der folgende Bericht beruht auf diesem Ausspruch und meinen Gedanken dazu.

Am 12. November 2022 reiste ich nach Teheran, um meiner Eltern Parvaneh und Dariush Forouhar zu gedenken, die als bekannte oppositionelle Politiker im Jahr 1998 nach einer Serie von politischen Morden an Andersdenkenden durch Agenten des Geheimdienstes der Islamischen Republik ermordet wurden. Wie in jedem Jahr wollte ich zum Anlass ihres Todestages am 22. November versuchen, eine Gedenkfeier in ihrem Haus abzuhalten, um an sie zu erinnern und die Aufklärung der politischen Morde im Iran einzufordern.

Der Anlass fiel zusammen mit einer veränderten gesellschaftlich-politischen Situation. Einerseits herrscht ein bis heute anhaltender revolutionärer Aufstand, im Zuge dessen die Beteiligten mit Wucht und Standhaftigkeit für Gleichberechtigung und Demokratie eintreten. Mutiger und entschlossener denn je fordern sie den Sturz des Regimes. Andererseits hat sich der Druck der Repressionen um ein Vielfaches verstärkt. Tausende wurden bereits verhaftet, Hunderte bestialisch getötet.

Die Entscheidung, diese Reise anzutreten, fiel mir schwer. Ich war besorgt um mich und um meine Liebsten, die mein Schicksal mittragen. Es ist unbeschreiblich, wie viel Angst man vor einem Land haben kann, aus dem man kommt und mit dem man auf eine unentrinnbare Weise verbunden ist. Auch diese Angst, die allen Menschen auf der Flucht wie den Exilanten gemein ist, sollte als Botschaft vernommen werden.

Sitzstreik an der Polytechnischen Universität in Teheran; Foto: SalamPix/Abaca/picture-alliance
Sitzstreik an der Polytechnischen Universität Teheran. "Es ist, als ob sich Teheran in einem hybriden Zustand befindet, in dem Alltag und Revolution eine überraschende Gleichzeitigkeit eingehen, miteinander tanzen, eine schrille Symbiose bilden, die neue Vorgänge und Rituale herbeiführt,“ schreibt die deutsch-iranische Künstlerin Parastour Forouhar in ihrem Reisebericht. "Dazu gehört das Ausrufen der Slogans des Aufstands jeweils um 21 Uhr aus den Fenstern und über die Dächer der Stadt. Der nächtliche Chor bestärkt den Zusammenhalt und die Zuversicht aller Beteiligten.“



Die erste Berührung mit der Staatsmacht geschieht stets bei der Passkontrolle. Dieses Mal hatte sich ein paar Schritte weiter ein junger Beamter in Zivil positioniert, der mich unauffällig beobachtete. Kaum hatte ich die Kontrolle passiert, rief er mich zu sich. Zuerst musste ich ihm meinen Reisepass reichen, dann zur Gepäckausgabe folgen. Im Anschluss begleitete ich ihn mit meinem Koffer zu einem mir schon bekannten Raum, wo kurze Verhöre durchgeführt und schriftliche Vorladungen für weitere Sitzungen ausgehändigt werden.

Dort saß ein weiterer Beamter hinter einem Schreibtisch, ebenfalls jung und zivil gekleidet. Die beiden teilten mir mit, dass gemäß einer Anweisung von oben mein Gepäck durchsucht werden müsse. Der Befehl wurde akribisch durchgeführt. Im Raum herrschte eine betriebsam bürokratische Atmosphäre. Langsam sammelten sich meine ausgepackten persönlichen Gegenstände, sorgfältig sortiert, auf dem Schreibtisch. Sie waren aus Papier, sämtlich beschriftet: Ein Buch, der letzte Roman von Elif Shafak auf Deutsch.



Ein altes kleines Adressbuch, in dem ich vor Jahren die Telefonnummern von Verwandten und Freunden meiner Eltern notiert hatte. Und zuletzt ein kleiner Stapel von Visitenkarten von jenen Handwerkern, die ich wegen anstehender Reparaturarbeiten in meinem Elternhaus kontaktieren sollte. Als ich mich beschwerte, dass doch nichts gegen die Kontaktaufnahme mit den alten Angehörigen meiner Eltern spräche, wurde mir gestattet, aus dem Adressbuch die entsprechenden Nummern abzuschreiben, bevor sie konfisziert wurden. Beim Durchblättern der Seiten musste ich traurig feststellen, dass viele der hier eingetragenen Personen in den letzten Jahren verstorben waren.

Es war einfach absurd. Ein sinnloser Befehl, der minutiös durchgeführt wurde, um Autorität zu demonstrieren. Keiner der konfiszierten Gegenstände war von politischer Relevanz. Die Komik der Situation amüsierte mich und ärgerte zugleich die jungen Beamten. Ich erhielt am Ende eine Quittung für die konfiszierten Gegenstände.

Unverschleierte Frauen, Parolen, Mut

Erleichtert verließ ich das Verhörzimmer: Mein Reisepass war nicht eingezogen worden, womit ich fest gerechnet hatte.

In der Eingangshalle des Flughafens streifte mein Blick über die Köpfe der versammelten Menschen, die auf die Ankunft von Passagieren warteten. Hier und da fiel mein Blick auf das Haar unverschleierter Frauen. Da waren sie, jene ersten Anzeichen des viel zitierten Wandels, die ich hier mit eigenen Augen erblickte. Wie wunderbar, dass sich der Wandel in den Haaren der Frauen manifestiert!

 

Wie jeden Freitag gibt es auch am 30. Dez. in einigen Städten der Provinz Sistan&Belutschestan Proteste gegen das Regime. Video: Demo in #Zahedan . Parole: "Revolutionsgarden begehen Verbrechen, Chamenei unterstützt sie dabei." #Iran #IranProtests2022 #MahsaAmini #خدانور_لجه‌ای pic.twitter.com/tfuPpz5tBG

— Iran-Journal (@iran_journal) December 30, 2022

 

Die Fahrt zu meinem Elternhaus führt durch den Süden Teherans. Auch auf dieser Strecke konnte ich die Spuren des Wandels entdecken: An Wände gesprayte Parolen gegen das Regime und zerrissene Propaganda-Banner. Entlang einer Unterführung war die Aufschrift "Nieder mit der Diktatur, Tod Khamenei!“ zu lesen. Die Angst, die mich in den letzten Wochen beschlichen hatte, wich beim Betrachten dieser Szenen einem Gefühl der inneren Genugtuung.

Wenn ich nach Teheran reise, verbringe ich meine ersten Tage vor Ort mit Spaziergängen in der Stadt: Ich streife durch die Viertel, in denen ich aufgewachsen bin. Auch hier ist der Wandel unübersehbar. Ein junger Verkäufer in einem Handyladen kritisiert das eingeschränkte Internetvolumen, das seit Beginn des Aufstandes staatlich angeordnet wurde.

Im selben Atemzug schickt er die Mullahs zum Teufel, laut und unverhüllt. Ein Taxifahrer beschreibt seine Arbeit als verlorenes Wettrennen mit der täglich steigenden Inflation und vergleicht das Regime mit einem Krebsgeschwür, das herausoperiert werden müsste, damit es "uns“ endlich besser gehe. Ein junger Straßenhändler verkauft Kopftücher, die er als Schals für den Hals anpreist.



Verschmitzt sagt er mir, dass wir erst den Hijab, dann die Mullahs zur Hölle schicken würden. "Was machst Du dann?“, frage ich ihn. "Leben, einfach leben“, antwortete er mit leuchtenden Augen. Als ich an ihm vorbeigehe, ruft er mir noch laut nach: "Zan, Zendegi, Azadi: Frau, Leben, Freiheit!“

Immer wieder fahren Autos vorbei, die das mittlerweile berühmte Lied Baraye, das zu einer Ballade des Aufstands geworden ist, laut abspielten. Und immer wieder nehme ich die Präsenz von unverschleierten Frauen wahr, die selbstbewusst, ja mit diesem ihrem unverhüllten Haaren fordernd meine Wege passieren.

Iran Schulmädchen zeigen ihre Haare; Foto: SalamPix/abaca/picture-alliance
Voller Begeisterung sprechen die Menschen vom Aufstand der jungen Frauen. "Wie Phönix sind sie der Asche entstiegen. Sie haben jahrelang den allumfassenden und ununterbrochenen Erniedrigungen des Regimes getrotzt, sich selbst ermächtigt, und haben es nun einfach satt, weiter bevormundet zu werden. Sie werden uns befreien, uns Männer, die wir sie nicht genügend wertgeschätzt und nicht zu ihnen gehalten haben,“ sagte ein Bekannter der vom Regime ermordeten Eltern von Parastou Forouhar.

Wie Phönix aus der Asche 

Es ist, als ob sich Teheran in einem hybriden Zustand befindet, in dem Alltag und Revolution eine überraschende Gleichzeitigkeit eingehen, miteinander tanzen, eine schrille Symbiose bilden, die neue Vorgänge und Rituale herbeiführt. Dazu gehört das Ausrufen der Slogans des Aufstands jeweils um 21 Uhr aus den Fenstern und über die Dächer der Stadt. Der nächtliche Chor bestärkt den Zusammenhalt und die Zuversicht aller Beteiligten.

"Vielleicht übertreibe ich mit meinem Optimismus. Vielleicht möchte ich mich einfach dieser plötzlichen Zuversicht hingeben, weil ich mir sie so lange herbeigewünscht habe“, meinte ein politischer Weggefährte meiner Eltern, der mich drei Tage nach meiner Ankunft besuchte. Er gehört zu jener politisch gesinnten Gemeinschaft, mit der ich aufgewachsen bin und ist einer der wenigen aus ihren Reihen, die noch leben. Ein pensionierter Professor und Chirurg, der sich trotz seines Alters gesellschaftlich engagiert.

Ich hatte ihn zuletzt am vergangenen Todestag meiner Eltern gesehen. Mittlerweile ist er merklich älter geworden: sein Rücken gekrümmt, sein Gang schleichend hinter seinem Gehstock. Er erinnert sich an die vergangenen Zeiten und an den stets aufs Neue erprobten Kampf für die Demokratie. Er zieht Vergleiche zur aktuellen Lage, redete ununterbrochen, lacht hin und wieder herzhaft, während sein Blick voller Hoffnung strahlt. "Ich würde ihn so gerne sehen, den Wandel, den Sturz dieses Regimes."



Auch für meine Kameraden, die trotz ihres großen Engagements diesen Wunsch mit ins Grab nehmen mussten“, erklärte er. Voller Begeisterung spricht er vom Aufstand der jungen Frauen. "Wie Phönix sind sie der Asche entstiegen. Sie haben jahrelang den allumfassenden und ununterbrochenen Erniedrigungen des Regimes getrotzt, sich selbst ermächtigt, und haben es nun einfach satt, weiter bevormundet zu werden. Sie werden uns befreien, uns Männer, die wir sie nicht genügend wertgeschätzt und nicht zu ihnen gehalten haben,“ sagte er.

 



 

Dann spricht er von meiner Mutter: "Parvaneh war ein seltenes Juwel in unserer Partei, in unserer Generation. Wir – ihre Weggefährten – räumten ihr nicht den angemessenen Stellenwert ein. Wir waren nicht so weit wie sie. Sie wäre unendlich glücklich, würde sie jetzt leben.“

Den Mullahs die Turbane vom Kopf reißen

Die Euphorie, die mit diesem Aufstand einhergeht und in unterschiedlichen Gesprächen mitschwingt, besitzt aber auch eine tragische Kehrseite. Angesichts der perfiden Gewalt, die das Regime einsetzt, um den Aufstand zu zerschlagen, erlebt man eine unbändige Wut, Entsetzen, sogar Hass. Nicht nur Zuversicht, auch diese geballte Wut liegt in der Luft.

Die "Sicherheitskommandos“ sind zu kriminellen Schlägertrupps mutiert. Sie erschießen und erschlagen wehrlose Menschen, sogar Kinder, randalieren in Straßen und Gassen, wo die Rufe nach Freiheit laut werden, zerstören geparkte Autos und Motorräder, attackieren Häuserfassaden und zerschlagen Fensterscheiben.



Immer wieder kursieren Berichte über Misshandlungen und Vergewaltigungen als angeordnete Strafmaßnahmen an jungen Aufständischen, und darüber, dass ihnen Medikamente verabreicht werden, die psychische Zusammenbrüche bewirken. Beim Anblick der vermummten, gepanzerten Gestalten, die die Staatsmacht repräsentieren und die wild und manisch um sich schlagen, aber auch beim Blick der alten Prediger, die mit ihren niederen und vulgären Argumenten zu diffamieren versuchen, muss ich zunehmend an die aus der Zeit gefallenen Untoten denken.

Als ich am Dienstagnachmittag nach dem Besuch des alten Freundes meiner Eltern durch unser Viertel laufe, packt mich wieder die Euphorie. Es ist der erste Tag eines dreitägigen Streiks; die Geschäfte sind flächendeckend geschlossen.

Im Interview mit @dlfkultur sprach ich über die neu gegründete Oppositionskoalition #ائتلاف und den Verlauf des #IranRevolution-Prozesses https://t.co/d5I7EgJS5F

— Dr. (PhD) Ali Fathollah-Nejad (@AFathollahNejad) January 3, 2023

 



Wenn ich in Teheran bin, öffne ich jeden Donnerstagnachmittag die Tür meines Elternhauses für Besucher. Über die Jahre hat sich durch dieses Ritual eine Gemeinschaft herausgebildet, die das Haus aus diesem Anlass mit Leben erfüllt. Es sind Regimekritiker, Angehörige von Hingerichteten aus vergangenen Jahrzehnten, Ex-Häftlinge, Frauenrechtlerinnen, Journalisten und Kulturschaffende, die unter ständiger Beobachtung der Kontrollorgane stehen.



Sie kommen zahlreich und es herrscht ein großer Gesprächsbedarf. Neben der anhaltenden Begeisterung für den Aufstand und die Generation X als dessen treibende Kraft werden auch Differenzen und Bedenken angesprochen und diskutiert.

Wie stehe man zu den jungen Aufständischen in der Straßenschlacht, die im Unterschied zu ihren Vorgängern gegen die Sicherheitskräfte zurückschlagen? Wie stehe man zu diversen obszönen Schimpfworten, die als politische Parolen zunehmend populär werden? Oder zu der Aktion, den Mullahs die Turbane vom Kopf zu reißen?



Werden solche radikalen Tendenzen den Aufstand in eine Spirale der Gewalt führen? Wie beurteile man die Rolle der Exil-Sendungen und Exil-Oppositionellen, die die Repräsentation des Aufstandes in der Weltöffentlichkeit mitbestimmen? Ob die Gefahr bestehe, dass sie sich als Anführer der Bewegung profilierten, den wertvollen Prozess, der im Lande im Gange sei, in die Irre führten, um diesen für ihre eigenen machtpolitischen Ziele zu missbrauchen?

Die Meinungen hierzu gehen stark auseinander. Doch herrscht zugleich ein deutlich spürbarer Zusammenhalt, ein starkes Wir-Gefühl, eine Einheit gegen das Regime. Ich hatte schon vor Ort den Eindruck, dass dieser Zusammenhalt die Unterschiede nicht verschweigen und negieren möchte. Eher im Gegenteil: Die Diversität dieses "Wir“ wird geschätzt, ja beschützt.

Als ich die Runde nach der Möglichkeit einer Versammlung am Todestag meiner Eltern frage, erhalte ich keine eindeutige Einschätzung. Sie alle würden kommen, ob erlaubt oder verboten, wurde mir versichert.

Ayatollah Chamenei mit Revolutionsgarden; Foto: tasnim
Ayatollah Khamenei und Revolutionsgarden. Es gibt Berichte von jungen Aufständischen, die den Mullahs die Turbane vom Kopf reißen. Im Kreis der Bekannten und Freunde von Parastou Forouhar wird kontrovers diskutiert, ob solche Aktionen gutzuheißen sind. Wie ist zu beurteilen, wenn Aufständische im Unterschied zu ihren Vorgängern gegen die Sicherheitskräfte zurückschlagen? Wie steht man zu diversen obszönen Schimpfworten, die als politische Parolen zunehmend populär werden? Werden solche radikalen Tendenzen den Aufstand in eine Spirale der Gewalt führen? Wie beurteile man die Rolle der Exil-Sendungen und Exil-Oppositionellen, die die Repräsentation des Aufstandes in der Weltöffentlichkeit mitbestimmen?

Das erwartete Verhör

Früh am Samstag stelle ich die Einladung zu der geplanten Gedenkversammlung am Dienstagnachmittag ins Netz. Sie breitet sich wie ein Lauffeuer aus. Nur zwei Stunden später erhalte ich einen Anruf von einer anonymen Nummer. Der Anrufer, der förmlich und höflich spricht, ohne sich persönlich vorzustellen, bestellt mich für den kommenden Tag zum Verhör in eines der Büros der Sicherheitskräfte ein.



Es überrascht mich nicht, da bei meinen Reisen in den Iran solche Vorladungen längst zur Routine geworden sind. Die Sitzung wird grundsätzlich von zwei Beamten durchgeführt. Diese wechseln häufig. Trotzdem sind sie jedes Mal bestens über mein Leben informiert. Die Aktion läuft nach einem wiederkehrenden Muster, bei dem bestimmte Schlüsselsätze häufig und bewusst fallen.

"Nezam (dt. "System“, ein Begriff, der ehrfürchtig ausgesprochen wird und das Regime meint) bedauert den Vorfall mit ihren Eltern“, "überall auf der Welt passieren solche Vorfälle. Nezam hat aber nach den eigenen moralischen Maßstäben bereits entsprechend gehandelt und die Täter belangt“.

Auf meine Gegendarstellung, dass meine Eltern Opfer von politischen Verbrechen wurden und es sich keineswegs um einen "Vorfall“ gehandelt habe, dass die Befehlsgeber der Morde, die namentlich in der Ermittlungsakte aufgeführt worden seien, etwa der amtierende Informationsminister, nicht juristisch belangt wurden, gehen sie nicht ein. Das sei kein Thema dieser Sitzung, sondern Aufgabe der Justiz, die sich an islamische Vorschriften und Gesetze hielte.

Ein weiteres Argumentationsmuster taucht bei der Frage der Verantwortung auf. Jedes Jahr muss ich mir anhören, dass ich für jegliche Eskalation der Versammlung, ob im Haus oder auch auf den benachbarten Straßen, verantwortlich sei und dafür auch belangt werden würde. Es wird behauptet, dass dubiose Gestalten kommen würden, die den Anlass für eigene konterrevolutionäre Ziele missbrauchen und Unruhe stiften wollten.



"Nezam könne das nicht dulden“, wird dabei immer wieder betont. Meine Versuche, Klarheit in die Sache zu bringen und zu hinterfragen, was eine Eskalation eigentlich sei und wer dubios und konterrevolutionär sein könnte, scheitern immer aufs Neue. Es ist ein zermürbender Prozess, dem ich mich aussetzen muss. Wie lange das Verhör dauert und wie viel Druck auf mich ausgeübt wird, hängt von dem gerade herrschenden politischen Klima im Land ab. Der Brisanz der aktuellen Lage entsprechend dauert die Sitzung diesmal länger als in den vergangenen Jahren.

Frau, Leben, Freiheit

Am Schluss wird mir ein Blatt Papier gereicht, damit ich den Zweck und den Ablauf der Versammlung schriftlich niederlege. Ein Routineprotokoll, mit gleichbleibenden Komponenten hinsichtlich der Fragen nach dem Warum, Wo und Wann. Diesmal war es mir jedoch ein Anliegen, schriftlich zu fixieren, dass Rufe nach Freiheit Teil unserer Versammlung sein würden. So auch die Parole: "Zan Zendegi Azadi – Frau Leben Freiheit“. Darauf folgte die Gegendarstellung des Beamten. Er bemerkte, dass Nezam entsprechend den islamischen Werten die Frauen und die Freiheit achte und hochschätze.

Am Ende der Sitzung erklärt der Beamte, der dem Verlauf mehr als Beobachter beigewohnt hatte, mit einem Satz, der einem Fazit gleichkommen sollte: "Frau Forouhar, Sie sind sehr unfair“. Als ich überrascht zu ihm aufblickte, ergänzt er, ich stelle alles in negativem Licht dar und würde mich Nezam gegenüber unfair verhalten. Auch diese Aussage entspricht einem wiederkehrenden Muster: Nezam und seine Handlanger übernehmen keine Verantwortung, eher beanspruchen sie in ihrer eingespielten Taktik die Opferrolle für sich.

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Auf dem Rückweg nach Hause fahre ich an mehreren Bannern vorbei, auf denen der Neunjährige Kian, der jüngst während einer Protestaktion in der Stadt Ize getötet wurde, abgebildet ist. Das Auto, in dem Kian und seine Familie saßen, war unter Beschuss geraten. Sein Vater wurde schwer verletzt. Seine Mutter äußerte sich in sozialen Netzwerken und benannte ein uniformiertes Sicherheitskommando als Täter.



Nezam aber behauptet, dass dieser Anschlag von Terroristen der IS durchgeführt worden wäre. Gemäß dieser Auslegung wurde der Neunjährige kaltschnäuzig zum Märtyrer der Islamischen Republik ernannt. Auf den Bannern war er lächelnd abgebildet, gekleidet im Anzug. Daneben war der Spruch zu lesen: "Refigh e Shahidam“, was so viel wie "Mein Märtyrer-Kamerad“ bedeutet.

Ein Baum trägt nach 24 Jahren "Früchte“

Am Todestag meiner Eltern bereite ich gemeinsam mit einer kleinen Gruppe von Verwandten und Freunden das Haus für die anstehende Versammlung vor. Einige zivil gekleidete Handlanger des Nezam hatten sich bereits seit dem frühen Vormittag vor dem Haus meiner Eltern verteilt und entlang unserer Gasse aufgestellt. Meine Sorge ist groß: die Furcht vor einer Eskalation, vor einer Attacke der Schlägertrupps, die Angst um meine Gäste, die geschlagen werden könnten, um das Haus, das zum Schauplatz von wütendem Randalieren werden könnte, die Angst um meine betagten Tanten, die Tapferkeit ausstrahlen.

Die hochgewachsene Magnolie, die meine Mutter vor Jahrzehnten in unserem Garten gepflanzt hat, die zu einem Baum angewachsen und im Laufe der letzten Jahre langsam eingegangen war, wurde mit kleinen Zetteln behängt, auf denen geschrieben stand: "Zan Zendegi Azadi; Frau Leben Freiheit“. Später verbreiten sich die Bilder des Baumes in den sozialen Netzwerken. Unter einem stand geschrieben: "Der Baum, den Parvaneh vor Jahrzehnten gepflanzt hat, trägt nun 24 Jahre nach ihrer Ermordung die schönsten Früchte unseres Landes.“

Schon vor dem angekündigten Beginn der Versammlung stehen die Teilnehmer dicht nebeneinander im Gebäude und im Hof des Hauses. Es herrscht eine Atmosphäre der Entschlossenheit und Achtsamkeit, gepaart mit der Freude am Zusammensein. Es komm mir so vor, als ob die Menschen und das Haus zu einem großen Körper zusammengewachsen seien, der Würde ausstrahlt. Das Publikum ist jung, vielleicht das jüngste, welches das Haus bis zu diesem Zeitpunkt empfangen hat.

 

#KianPirfalak hatte vor, Erfinder zu werden. Wurde aber nur 9 Jahre alt. Mittwochabend wurde er im Auto seines Vater von "Sicherheitskräften" des islamischen Regimes getötet. Bei Protesten in Stadt #Izeh wurden mind. 6 weitere Menschen erschossen. #IranProtests2022 #کیان_پیرفلک pic.twitter.com/5yfjxQRDOj

— Iran-Journal (@iran_journal) November 17, 2022

 

 

Während der Veranstaltung gehen die vermummten Vertreter der Kontrollorgane unsere Gasse auf und ab, filmen und fotografieren alle, die sich dem Haus nähern, mit überdimensionierten Kameras, mahnen sie vor Folgen, stiften Angst und Unruhe.

Die schwere Last der Angst und der Unsicherheit, die ich vor und während meine Reise in mir getragen habe, fallen von mir ab, als ich mich in der Runde der Anwesenden wiederfinde, als wir gemeinsam die alte verbotene Hymne singen, die meine Eltern so geliebt haben, als wir gemeinsam laut den Slogan unserer Gegenwart anstimmen "Zan Zendegi Azadi“.

Ich verlasse den Iran ein paar Tagen später. Meine Ausreise wurde nicht verhindert. Als ich schon zuhause in Deutschland bin, werden drei meiner Freunde, die bei der Veranstaltung zugegen waren, verhaftet, allesamt junge Poeten und Mitglieder des Schriftstellerverbands. In den Berichten heißt es, die Verhaftungen seien gewaltsam verlaufen.



Sie hatten mir von einer Versammlung erzählt, die sie zum Andenken an die beiden ermordeten Schriftsteller Mohammad Mokhtari und Mohammad Jafar Pouyandeh organisieren wollten. Diese waren im Herbst 1998, zwei Wochen nach meinen Eltern, vom Geheimdienst der Islamischen Republik verschleppt und getötet worden.

Am Ende dieses Berichts angelangt, möchte ich ihre Namen aussprechen: Alireza Adineh, Ayda Amidi und Ruzbeh Sohani- stellvertretend für mehr als 15.000 Menschen, die nun im Zuge der aktuellen Repressionswelle im Iran im Gefängnis sitzen. Stellvertretend für viele, für die das eigene Land zur Falle geworden ist, die vielleicht fliehen werden, um ihr Leben zu retten.

Das Exil hat viele Gesichter und Namen, unterschiedliche Herkünfte und Schicksale. Es entsteht jedoch immer aus solchen Momenten heraus.

Parastou Forouhar

© Iran Journal 2023