Passen Scharia und Demokratie zusammen?

Einer aktuellen Umfrage zufolge erklärt jeder zweite Iraner, er habe sich vom Islam als Religion abgewandt. Zwei Drittel der Befragten sind der Ansicht, das islamische Recht solle nicht Bestandteil des Rechtssystems ihres Landes sein. Ahmet T. Kuru geht in seinem Essay den Auswirkungen dieser Entwicklung nach.

Essay von Ahmet T. Kuru

In den 1970er Jahren haben säkulare Regime die muslimische Welt geprägt. Die Islamische Revolution von 1979 im Iran war gleichzeitig Auslöser und Symptom einer neuen Entwicklung: der Islamisierung der Rechtsprechung. Heute steuern Länder mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit angesichts von Säkularisierungstendenzen auf einen weiteren Wendepunkt zu.



Wie die jüngsten Proteste zeigen, ist wieder einmal Iran das Symbol des Wandels. Die Proteste wurzeln tief in der Gesellschaft. Die semi-republikanische Theokratie des Iran hat die mit Abstand am wenigsten religiöse Gesellschaft in der muslimischen Welt hervorgebracht. Dies belegt eine von Gamaan.org im Juni 2020 durchgeführte Umfrage

Der Säkularismus der 1970er Jahre führte in der muslimischen Welt aber nicht zur Demokratisierung. Daran wird auch der aktuelle Trend nichts ändern, wenn die säkularen Regime nicht von ihrer autoritären Haltung abrücken. Wie weit sie sich dem demokratischen Pluralismus wirklich öffnen werden, bleibt ungewiss. Gewiss ist aber, dass die Durchsetzung des islamischen Rechts – der Scharia – als nationalem Recht in vielen Ländern das Problem des Autoritarismus eher verschärft hat. 

Von den heute weltweit 50 muslimischen Ländern haben drei Fünftel entweder Verfassungen, die sich auf die Scharia als einziger Rechtsquelle berufen, oder Verfassungen, in denen sowohl die Scharia als auch säkulare Gesetze die Quellen des Rechts bilden. Alle diese Länder sind autoritär geführt. Neben dem islamischen Strafrecht, das Apostasie und Blasphemie unter Strafe stellt, wenden sie auch das islamische Familienrecht an, das Männer in Fragen von Ehe, Scheidung und Erbschaft gegenüber Frauen bevorzugt.

Graphik zu den religiösen Einstellungen der Iraner zeigt eine Tendezn zum Säkularen (Quelle: DW)
The Islamic Revolution of 1979 in Iran emerged as both the symptom and trigger of a new trend – legal Islamisation. There the ulema was given not only legislative and judicial, but executive power as well. It was based on Ayatollah Ruhollah Khomeini’s idea of the guardianship of the jurist (velayat-e faqih). Today, as a new secularist trend gathers momentum across the Islamic world, Iran is once again the symbol of change, as recent protests show. The unrest has deep social roots. Iran’s semi-republican theocracy has produced the least religious society in the Muslim world



Die übrigen zwei Fünftel der muslimischen Länder sind in ihren Verfassungen in unterschiedlichem Ausmaß säkular. Sie haben keine Gesetze gegen Apostasie oder Blasphemie. Frauen werden dort weniger stark benachteiligt. Aber nur sechs dieser säkular orientierten Staaten sind gewählte Demokratien. Folglich ist eine säkulare Verfassung für die Demokratisierung zwar notwendig, aber sie reicht alleine nicht aus. Vom Iran bis zur Türkei sind Islamisten an die Macht gekommen, indem sie sich gegen säkulare Autokraten gestellt haben. Ihre islamische Agenda erscheint im Rückblick allerdings noch autoritärer, insbesondere wenn sie für die Scharia eintraten. 

Die Scharia ist das Recht der Ulema 

Das Spannungsverhältnis zwischen Scharia und Demokratie ergibt sich aus der vorherrschenden Methode der islamischen Rechtsprechung, die den Islam als eine Reihe von Rechtsvorschriften definiert, die das Leben der Muslime vollständig bestimmen sollen. Diese von einem Gelehrten aus dem 9. Jahrhundert formulierte Methode nennt vier Quellen der islamischen Rechtsprechung: den Koran, die Hadithe (Aufzeichnungen über die Worte und Taten des Propheten Mohammed), den Konsens (ijma) der Gelehrten und den Analogieschluss (qiyas). Abgesehen von einigen Details folgen alle sunnitischen Rechtsschulen dieser Methode, ebenso wie die schiitischen Muslime.

Die Hadithe sind ein wichtiger Bestandteil dieser Methode der islamischen Rechtsfindung, da sie eine Vielzahl von Themen behandeln, zu denen der Koran keine Aussage enthält. Die zwei wichtigsten Hadith-Sammlungen, Sahīh al-Buchārī und Sahīh Muslim, gelten für die meisten Sunniten als kanonisch. Sie sehen in ihnen eine Aufzeichnung der Worte des Propheten, so als spreche er heute zu ihnen.



Gestützt auf Tausende von Hadithen haben die Gelehrten – die Ulema – eine große Anzahl von Rechtsgutachten (Fatwas) verfasst, die in alle Lebensbereiche eingreifen, obwohl es den Ulema an ausreichendem Fachwissen in Fragen von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft oder Kunst fehlt. 

Der Koran und die Hadithe bedürfen der Auslegung. Das entscheidende Kriterium für die vorherrschende Methode der islamischen Rechtsprechung ist der Konsens der Gelehrten. Haben die Gelehrten erst einmal einen Konsens über eine bestimmte Rechtsvorschrift erzielt, ist es fast unmöglich, sie zu ändern.



Die Scharia ist somit das Recht der Ulema, nicht das Gesetz Gottes. Die vierte Methode der Rechtsprechung ist der Analogieschluss. Er beschränkt die Rolle der Vernunft auf die Herstellung von Analogien. Rationalismus oder empirische Beobachtung finden keine Berücksichtigung. Die Methoden Konsens und Analogieschluss führen zu einer hierarchischen und buchstabengetreuen Ausgestaltung der islamischen Rechtsprechung. 

Das Bündnis zwischen Ulema und Staat 

Die Autorität der Gelehrten und ihre buchstabengetreue Auslegung machen die Scharia unvereinbar mit der Demokratie. In einer Demokratie entstehen Gesetze unter Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger und unter Berücksichtigung der sich ändernden Bedürfnisse der Menschen. Nach der vorherrschenden Methode der islamischen Rechtsprechung liegt die gesetzgebende Gewalt bei einer Gruppe von Männern – den Ulema –, die religiöse Texte nach ihrem Verständnis auslegt. Die Ausgestaltung der Scharia findet ohne Mitwirkung der Bürger statt.

Professor Ahmet T. Kuru mit der persischen Ausgabe seines Buches "Authoritarianism, and Underdevelopment: A Global and Historical Comparison"; Foto: privat
"Die Autorität der Gelehrten und der Anspruch auf buchstabengetreue Auslegung machen die Scharia mit der Demokratie unvereinbar. In einer Demokratie entstehen Gesetze unter Beteiligung der Bürger und unter Berücksichtigung der sich ändernden Bedürfnisse der Menschen. Nach der vorherrschenden Methode der islamischen Rechtsprechung liegt die gesetzgebende Gewalt in den Händen einer Gruppe von Männern – den Ulema –, die religiöse Texte nach ihrem Verständnis auslegt“, schreibt Kuru. "Die Ausgestaltung der Scharia findet ohne Mitwirkung der Bürger statt.“ 



Seit dem 11. Jahrhundert konnte allein die staatliche Macht den Anspruch der Ulema auf das Gesetzgebungsmonopol infrage stellen. Diese Verbindung von religiöser Autorität der Ulema und dem Schwert des Sultans bestimmt die Dualität von Scharia und Sultansrecht (kanun) bis heute. Die wechselseitige Beziehung schuf zudem ein Bündnis zwischen Ulema und Staat. Je nach der konkreten Ausgestaltung dieses Bündnisses unterscheidet sich die Umsetzung der Scharia von Land zu Land. 

In Saudi-Arabien wird die Scharia in der Allianz zwischen den wahhabitischen Ulema und der Dynastie der Al-Sauds durchgesetzt. Allerdings versucht Kronprinz Mohammed Bin Salman, diese Allianz neu zu gestalten, um dem Staat mehr Macht zu verschaffen.

Der Iran bestritt nach der Islamischen Revolution von 1979 einen Sonderweg. Dort wurde den Religionsgelehrten – den Ulema – nicht nur die legislative und judikative Macht übertragen, sondern auch die exekutive Macht. Ausgangspunkt war Ayatollah Khomeinis Vorstellung von der "Statthalterschaft der Rechtsgelehrten" (Velayat-e Faqih). Die neuerliche Übernahme Afghanistans durch die Taliban hat gezeigt, dass sogar in einem Land mit sunnitischer Mehrheit ein System möglich ist, in dem die Ulema sagen: "Der Staat sind wir“.

Ein neuer Ansatz zur islamischen Rechtsprechung? 

Angesichts der starken Verbindung zwischen der vorherrschenden Methode der Scharia-Auslegung und dem Autoritarismus gibt es für muslimische Länder zwei Möglichkeiten der Demokratisierung: Entweder die vollständige rechtliche Säkularisierung, bei der die Scharia mit Ausnahme der Vorschriften für den religiösen Bereich (Gebete, Fasten, Almosen und Pilgerfahrt) in die Geschichtsbücher verbannt würde. Die andere Option wäre die Entwicklung neuer Methoden der islamischen Rechtsprechung, die auf Rationalismus und empirischer Beobachtung beruhen. 

 

 

 

Was neue Methoden angeht, darf man aus zwei Gründen optimistisch sein: Bereits zwischen dem 8. und 11. Jahrhundert, der wissenschaftlich und wirtschaftlich "goldenen Zeit der Muslime“, gab es verschiedene Methoden der islamischen Rechtsprechung. So förderte die Methode von Abū Hanīfa (gest. 767) beispielsweise Rechtsurteile auf Grundlage der Vernunft. Nach dem 11. Jahrhundert setzte das Bündnis zwischen Ulema und Staat durchweg auf die Methode von Shafii (gest. 820). Dieser betont den Koran, die Hadithe, den Konsens der Ulema und den Analogieschluss. Doch es gibt keinen Grund, warum die frühe islamische Geschichte nicht auch heute neue Methoden nahelegen könnte. 

Es gibt einen weiteren Grund, optimistisch zu sein: Im Koran oder in den Hadithen findet sich nichts, was das Bündnis der Ulema mit dem Staat legitimiert oder deren Kooperation befürwortet. Es gibt Gelehrte, die den Bund zwischen Ulema und Staat mit einem einzigen Vers (4:59) im Koran rechtfertigen: "uli'l-amr“ ("diejenigen, die Autorität haben“). Dabei bezieht sich der Vers weder auf die Ulema noch auf die Herrscher. Einige Rechtsgelehrte verweisen zudem auf den Hadith "Meine Gemeinschaft wird niemals einem Irrtum zustimmen“, um den Konsens der Ulema zu legitimieren. Doch dieser Hadith bezieht sich auf die muslimische Gemeinschaft insgesamt (Umma), nicht auf die religiösen Autoritäten (Ulema). 

In einer Demokratie entstehen Gesetze unter Beteiligung der Bürger und in öffentlicher Debatte. Neue Methoden der islamischen Rechtsprechung unter Einbeziehung von Rationalismus und Empirie können Teil einer demokratischen Debatte sein. Wenn es den muslimischen Gesellschaften nicht gelingt, solche neuen Methoden der Rechtsprechung zu entwickeln, wird Demokratisierung nur durch vollständige Säkularisierung des Rechts möglich sein. Die Scharia würde damit in die Geschichtsbücher verbannt. Es bleibt abzuwarten, welchen Weg die Iraner und andere muslimische Gesellschaften beschreiten werden. 

Ahmet T. Kuru

© Qantara.de 2022



Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers
 

Ahmet T. Kuru ist Professor für Politikwissenschaft und Direktor des Zentrums für Islamische und Arabische Studien an der San Diego State University, Kalifornien, USA, sowie Autor von "Islam, Authoritarianism, and Underdevelopment: A Global and Historical Comparison“  (Cambridge University Press 2019)