
Irakisch-jüdisches KulturerbeIn der Literatur lebt das irakische Judentum weiter
Bis vor etwa siebzig Jahren lebte im Irak eine der ältesten jüdischen Gemeinden der Welt. Neben der Bewahrung ihrer jahrhundertealten Traditionen strebten dort in moderner Zeit säkular und bürgerlich orientierte Juden auch die Integration in die irakische Gesellschaft an. Besonders erfolgreich waren diese Versuche in den 1920er Jahren. Damals war der Irak unter dem haschemitischen König Faisal I. britisches Mandatsgebiet und Juden durften Posten in Verwaltung und Politik besetzen.
Doch als König Faisal I. 1933, kurz nach der Erlangung der irakischen Unabhängigkeit, früh verstarb, wurde das Land unter seinem Sohn und Thronfolger Ghazi I. nicht nur von Ultranationalisten und Militärs dauerhaft destabilisiert. Es geriet zudem unter den Einfluss des nationalsozialistischen Deutschland. Beides hatte zur Folge, dass sich die Lage der jüdischen Bevölkerung im Irak dramatisch verschlechterte.
Die zunehmenden antijüdischen Maßnahmen der Regierung und das Pogrom in Bagdad von Anfang Juni 1941 (arab. Farhud) führten dazu, dass sich immer mehr irakische Juden zionistischen Bewegungen anschlossen, die sich im Untergrund formierten.
Mit ihrer Hilfe gelangten bereits in den vierziger Jahren viele junge jüdische Iraker nach Palästina. Nach der israelischen Staatsgründung 1948 nahmen die Repressionen gegen die Juden im Irak noch zu. Die Regierung verabschiedete ein Ausbürgerungsgesetz, das den Juden die Auswanderung unter der Bedingung ermöglichte, dass sie auf ihre Staatsbürgerschaft und auf sämtliche Besitztümer verzichteten. Daraufhin verließen fast alle der rund 120 000 irakischen Juden das Land – meist in Richtung Israel.
Neuentdeckung einer alten Kultur
In Israel, wo lange Zeit die europäisch geprägte, jüdische Elite dominierte, interessierte man sich jahrzehntelang kaum für die Geschichte und Kultur der Juden aus dem Irak. Erst in den neunziger Jahren wurde man durch Romane von aus dem Irak stammenden Schriftstellern wie Sami Michael und Eli Amir auf ihre Traditionen aufmerksam.

Nach der Jahrtausendwende wuchs das Interesse weiter. Etliche Wortführer der irakischen Einwanderergemeinde veröffentlichten ihre Memoiren. Allein in den vergangenen fünf Jahren sind mehr als fünfzig hebräisch- und englischsprachige Bücher zu Geschichte und Kultur der irakischen Juden erschienen; inzwischen gesellen sich auch immer mehr im Irak selbst publizierte Titel hinzu.
Großes Aufsehen erregte in Israel wie im Irak, dass das literarische Debüt der irakischstämmigen israelischen Autorin Tsionit Fattal Kuperwasser 2017 von dem Bagdader Verlag „Mesopotamia“ ins Arabische übersetzt wurde.
Ihr 2015 in Israel erschienener Roman „Die Bilder an der Wand“ stellte auch insofern ein Novum dar, als die Autorin, Orientalistin und Oberstleutnant der israelischen Armee a. D., nicht im Irak, sondern 1964 in Israel geboren ist. Wie in Israel interessieren sich mittlerweile zunehmend auch Intellektuelle im Irak, wo heute kaum noch Juden leben, für die untergegangene irakisch-jüdische Welt. Das Interesse gilt insbesondere der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, einer Epoche des Aufbruchs und des Pluralismus, auf die manch ein Iraker heute mit einer Mischung aus Nostalgie und Faszination zurückblickt.
Hier scheint Kuperwassers Roman „Die Bilder an der Wand“ insofern einen Nerv getroffen zu haben, als er Einblick in die abgeschottete Lebenswelt eines der ärmeren Bagdader Judenviertel in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts gewährt.
Die Romanheldin Nuria lebt dort in einer großen Mehrgenerationenfamilie, deren Mitglieder sich ständig gegenseitig beobachten und kontrollieren. Ehen unter Verwandten sind seit jeher die Regel, aber Nuria widersetzt sich diesem Brauch. Sie verliebt sich in den jungen Adwar, der sie vor einer Vergewaltigung durch muslimische Rowdys am Rande des Judenviertels bewahrt und heiratet ihn schließlich. So kommt es zum Bruch mit der mächtigen Tante Hadiwa, deren Sohn Nuria versprochen war.
Bis dahin war Nuria die Lieblingsnichte der Tante, die sie in die magischen Heilpraktiken einführte, für die sich gut bezahlen ließ. Nuria versteht es ebenfalls, mit Heilpraktiken Geld zu verdienen. So ist sie in der Lage, den Einfluss ihres immer frommer werdenden Ehemannes zumindest auf die beiden älteren ihrer drei Söhne einzudämmen.
Doch vor den Intrigen im erweiterten Familienkreis kann sie die Söhne nur bedingt schützen. Deren tragische Schicksale – alle drei sterben – verwebt die Autorin geschickt mit den politischen Umwälzungen im modernen Irak, die die Juden in einen Identitätskonflikt zwischen Tradition und Moderne, irakischem Patriotismus und Zionismus stürzen. Gegen Ende gewinnt Nuria jedoch nicht nur ihren Ehemann zurück, sondern auch den spät geborenen vierten Sohn, der ihr von der Familie entrissen wurde.
Am Schluss bereiten sich alle auf die Ausreise nach Israel vor – das lange Exil der „babylonischen“ Juden geht nun mit der Rückkehr in das Land, aus dem ihre Väter einst vertrieben wurden, zu Ende.
Leserkommentare zum Artikel: In der Literatur lebt das irakische Judentum weiter
"Tsionit Fattal Kuperwasser, deren Roman im Irak regelmäßig auf den wichtigsten Buchmessen präsentiert wird"...
So viele Buchmessen gibt es im Irak ja nicht. Letztes Jahr habe ich auf der Buchmesse Bagdad nach Fattals Buch auf Arabisch gefragt. Der Verlagsvertreter mahnte mich, leise zu sprechen, denn ihr Buch sei im Irak "verboten"! Er reichte es mir in eine Plastiktüte gehüllt. Von wegen "präsentiert".
Zu ergänzen wäre allerdings, dass immer mehr irakische (und andere arabische) Autoren sich in ihren Romanen an "ihre" ehemaligen Juden erinnern, wie z.B. der Iraker Ali Bader. Dieser Trend besteht schon seit mehreren Jahren, auch in Syrien, Jemen, Marokko etc.
Günther Orth14.07.2019 | 20:29 UhrDie Behauptung von Günther Orth, das Buch von Tsionit Fattal Kuperwasser „sei im Irak ‚verboten‘!“, kann so nicht stimmen, denn es wurde nachweislich vom Verlag Mesopotamia bereits auf mehreren irakischen Buchmessen präsentiert:
Buchmesse Bagdad 2018 (https://bit.ly/2NVPZWV Buch stehend und liegend).
Buchmesse Bagdad 2019 (https://bit.ly/30yvCjY ganzer Bücherstapel, links aufgestapelt vor dem Büchertisch; das Foto im qantara-Beitrag zeigt ein Detail davon).
Buchmesse Erbil, Herbst 2018 (https://bit.ly/2YPWkEh linkes Bücheregal, zweite Reihe von oben, 5. Buch von links; Detailaufnahme: https://bit.ly/32tXmbj erstes Buch von rechts).
Joseph Croitoru17.07.2019 | 12:34 Uhr